Название | Archiv der verlorenen Kinder |
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Автор произведения | Valeria Luiselli |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956143366 |
»Eine der wichtigsten (sozialen) Funktionen eines Tagebuchs besteht genau darin, heimlich von anderen gelesen zu werden, von den Leuten (wie Eltern & Geliebte), über die man sich nur in seinem Tagebuch mit grausamer Ehrlichkeit geäußert hat.«
»In einer Zeit, in der das Dekor keine Rolle spielt, eignet man sich unmoderne Tugenden an.«
»1831: Hegel gestorben.«
»Und wir hocken hier in diesem Rattenloch auf unseren Ärschen und werden bedeutend und immer älter …«
»Moralische Buchführung verlangt eine Abrechnung.«
»In der Ehe habe ich einen gewissen Persönlichkeitsverlust erlitten – zunächst war dieser Verlust angenehm, wohltuend …«
»Ehe basiert auf dem Prinzip der Trägheit.«
»Der Himmel aus städtischer Perspektive ist ein Negativum – die Abwesenheit von Häusern.«
»Der Abschied war vage, denn die Trennung hat immer noch etwas Unwirkliches.«
Diese letzte Zeile ist mit Bleistift unterstrichen, dann mit schwarzer Tinte umkreist und am Rand mit einem Ausrufezeichen versehen. Von mir oder ihm unterstrichen? Ich weiß es nicht mehr. Aber ich erinnere mich noch, dass es mir, als ich Sontag zum ersten Mal las, ähnlich erging wie bei der ersten Lektüre von Hannah Arendt, Emily Dickinson und Pascal und ich immer wieder jähe, subtile und vermutlich mikrochemisch bedingte Hochgefühle empfand – kleine, tief im Hirngewebe flackernde Lichter –, wie manche Menschen sie erleben, wenn sie ein sehr einfaches, bis zu diesem Zeitpunkt jedoch unaussprechliches Gefühl plötzlich in Worte fassen können. Wenn die Worte eines Fremden auf diese Weise in das eigene Bewusstsein dringen, werden sie kleine gedankliche Lichtmarken. Sie sind nicht unbedingt erhellend. Ein Streichholz, angezündet in einem dunklen Flur, die glühende Spitze einer Zigarette, um Mitternacht im Bett geraucht, Aschenglut in einem erlöschenden Feuer: nichts davon besitzt genügend eigenes Licht, um etwas zu offenbaren. Ebenso wenig wie die Worte von anderen. Manchmal aber lässt einen ein kleines Licht den dunklen, unbekannten Raum erkennen, der es umgibt, das gewaltige Unwissen, das alles umhüllt, was wir zu wissen glauben. Und diese Erkenntnis und das Verarbeiten der Dunkelheit sind wertvoller als jedes angehäufte Faktenwissen.
Während ich die unterstrichenen Passagen in Sontags Tagebüchern wieder lese und sie noch Jahre später kraftvoll finde, manche sogar neu unterstreiche – besonders die Betrachtungen über die Ehe –, wird mir bewusst, dass alles Gelesene zwischen 1957 und 1958 geschrieben wurde. Ich zähle mit den Fingern nach. Sontag war damals erst vierundzwanzig, neun Jahre jünger, als ich es heute bin. Plötzlich bin ich peinlich berührt, als wäre ich dabei erwischt worden, wie ich vor der Pointe über einen Witz lache oder als hätte ich bei einem Konzert zwischen zwei Sätzen applaudiert. Deshalb springe ich zu 1963, als Sontag um die dreißig war, inzwischen geschieden, und Aktuelles und Künftiges vielleicht klarer sah. Ich bin zu müde, um weiterzulesen. Ich markiere die Seite, schließe das Buch, schalte das Verandalicht aus – bedrängt von Insekten und Motten – und gehe ins Bett.
ARCHIV
Am nächsten Morgen wache ich früh auf, gehe durch die Küche in den Wohnbereich und öffne die Verandatür. Hinter den Bergen geht die Sonne auf. Zum ersten Mal seit Jahren verspüre ich das Bedürfnis, Einzelheiten aus unserem Privatleben aufzunehmen, möchte ich Geräusche dokumentieren und aufbewahren. Vielleicht liegt es daran, dass Neues, neue Umstände, eine Aura von Vergangenem umgibt. Anfänge werden oft mit Enden verwechselt. Wir betrachten sie wie eine Ziege oder ein Stinktier, das dämlich die Sonne am Horizont anstarrt, ohne zu wissen, ob das gelbe Gestirn dort auf- oder untergeht.
Vielleicht will ich die ersten Geräusche unserer gemeinsamen Reise festhalten, weil sie die letzten von etwas sein könnten. Gleichzeitig möchte ich es nicht tun, weil ich Arbeit und Privates nicht gerne vermische; dieser besondere Moment unseres Zusammenseins soll kein Dokument für ein künftiges Archiv werden. Am liebsten würde ich bestimmte Eindrücke einfach im Kopf unterstreichen: dieses Licht, das durch das Küchenfenster hereinfällt und den Raum in warmes Gold taucht, während ich die Kaffeemaschine vorbereite; die sanfte Brise, die zur offenen Tür hereinweht und meine Beine umschmeichelt, als ich den Herd einschalte; die tapsenden Schritte – verursacht von kleinen, bloßen, warmen Füßen –, als das Mädchen aus dem Bett steigt, von hinten an mich herantritt und verkündet:
Mama, ich bin wach!
Ich stehe am Herd und warte, dass der Kaffee fertig ist. Sie sieht mich lächelnd an und reibt sich die Augen, als ich ihr Guten Morgen wünsche. Ich kenne niemanden, für den Aufwachen etwas so Schönes und Erfreuliches ist. Ihre Augen sind verblüffend groß, und ihr weißes, viel zu großes Höschen bauscht sich unter ihrem nackten Oberkörper. Ernst und überaus höflich sagt sie:
Ich habe eine Frage, Mama.
Ja?
Ich möchte wissen: Wer ist Herrgott Nochmal?
Statt einer Antwort reiche ich ihr ein großes Glas Milch.
ORDNUNG
Der Junge und sein Vater schlafen noch, und wir – Mutter und Tochter – setzen uns in dem kleinen, lichten Wohnzimmer auf die Couch. Sie trinkt ihre Milch in kleinen Schlucken und schlägt ihr Skizzenbuch auf. Nach ein paar misslungenen Zeichenversuchen bittet sie mich, vier Quadrate für sie zu malen – zwei oben, zwei unten – und sie dann in dieser Reihenfolge zu beschriften: »Figur«, »Schauplatz«, »Problem«, »Lösung.« Als ich fertig bin und wissen will, wozu die Quadrate gut sind, erklärt sie mir, in der Schule hätte sie gelernt, dass man so Geschichten erzählt. Schlechter Literaturunterricht beginnt schon früh und dauert viel zu lange. Ich erinnere mich noch, wie ich einmal, als der Junge in die zweite Klasse ging und ich ihm bei den Hausaufgaben half, plötzlich feststellte, dass er den Unterschied zwischen einem Substantiv und einem Verb nicht kannte. Also fragte ich ihn. Er schaute theatralisch an die Decke und sagte ein paar Sekunden später, doch, natürlich kenne er den Unterschied: Substantive seien die Buchstaben auf den gelben Karten über der Tafel, Verben seien die auf den blauen Karten unter der Tafel.
Das Mädchen füllt jetzt konzentriert die Quadrate aus. Ich trinke meinen Kaffee, öffne wieder Sontags Tagebücher und lese erneut einzelne Zeilen und Worte. Ehe, Scheidung, moralische Buchführung, Trennung: Haben unsere Unterstreichungen die Probleme angedeutet? Wann begann unser Ende? Ich kann nicht sagen, wann oder warum. Ich bin mir nicht sicher, wie es passiert ist. Als ich kurz vor unserer Abreise ein paar Freunden erzählte, dass meine Ehe wahrscheinlich zerbrechen wird oder zumindest in einer Krise steckt, fragten sie:
Was ist passiert?
Sie wollten ein genaues Datum:
Wann genau hast du es gemerkt? Vor diesem oder nach jenem?
Sie wollten einen Grund:
Politik? Langeweile? Emotionale Gewalt?
Sie wollten einen Auslöser:
Hat er dich betrogen? Du ihn?
Ich