Название | Archiv der verlorenen Kinder |
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Автор произведения | Valeria Luiselli |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956143366 |
Ma, ich will nur wissen, welchen Knopf ich wann drücken muss.
Ich zeige ihm Sucher, Linse, Schärferegulierung und Verschluss, und als er durch den Sucher sieht, schlage ich vor:
Vielleicht könntest du diesen Baum fotografieren, der aus dem Beton wächst.
Und warum?
Keine Ahnung – einfach um ihn zu dokumentieren, schätze ich.
Und wozu soll das gut sein, Ma?
Er hat recht. Wozu etwas dokumentieren, ein Objekt, unser Leben, eine Geschichte? Das Dokumentieren von Dingen – durch die Linse einer Kamera, auf Papier oder mit einem Tonaufnahmegerät – ist im Grunde nur eine Möglichkeit, allem Vorhandenen, das sich im kollektiven Verständnis der Welt abgesetzt hat, eine weitere Schicht, etwas wie Ruß hinzuzufügen. Ich schlage vor, unser Auto zu fotografieren, um die Kamera noch einmal zu testen und vielleicht herauszufinden, warum die Bilder verschwommen weiß herauskommen. Der Junge hält die Kamera in den Händen wie ein Amateurtorhüter, der gleich den Ball abschießt, späht in die Linse und drückt ab.
Hast du scharfgestellt?
Glaube schon.
War das Bild klar zu sehen?
Irgendwie ja.
Vergeblich; das Polaroid kommt blau heraus und wird dann langsam cremeweiß. Er behauptet, die Kamera sei kaputt, ein Fabrikfehler, wahrscheinlich nur eine Spielzeugkamera und keine richtige. Ich versichere ihm, dass es kein Spielzeug ist, und lege ihm eine Theorie dar:
Vielleicht kommen sie nicht weiß heraus, weil die Kamera kaputt oder nur eine Spielzeugkamera ist, sondern weil das Fotografierte gar nicht vorhanden ist. Und wenn etwas nicht vorhanden ist, gibt es kein Echo, das zurückgeworfen werden kann. Wie Geister, die nicht in Bildern erscheinen, oder Vampire, die man nicht in Spiegeln sieht, weil sie gar nicht vorhanden sind.
Er ist weder beeindruckt noch amüsiert und findet meine Echo-Theorie weder überzeugend noch lustig. Er drückt mir die Kamera in den Bauch und hüpft wieder auf seinen Platz.
Im Auto geht die Diskussion über das Problem mit der Kamera noch eine Weile weiter. Der Junge wiederholt, dass ich ihm eine kaputte, nutzlose Kamera geschenkt habe. Sein Vater schaltet sich ein und versucht zu vermitteln. Er erzählt ihm von Man Rays »Rayogrammen« und der merkwürdigen Methode, mit der er sie komponierte, ohne Kamera, indem er kleine Objekte wie Scheren, Reißzwecken, Schrauben oder Kompasse auf lichtempfindliches Papier legte und dann dem Licht aussetzte. Dass die Bilder, die Ray mit dieser Methode schuf, immer den gespenstischen Spuren nicht mehr vorhandener Objekte glichen, wie visuelle Echos oder Fußabdrücke im Matsch, die jemand vor langer Zeit hinterlassen hatte.
LÄRM
Ziemlich spät erreichen wir ein hoch in den Appalachen thronendes Dorf. Wir beschließen anzuhalten. Die Kinder verhalten sich im Auto seit einiger Zeit wie böse mittelalterliche Mönche – im Spiel liefern sie sich beunruhigende Wortgefechte, in denen sie einander lebendig begraben, Katzen töten, Städte niederbrennen. Wenn ich sie höre, scheint mir die Theorie der Wiedergeburt ziemlich plausibel: der Junge muss in Salem im fünfzehnten Jahrhundert Hexen gejagt haben, und das Mädchen war vermutlich in Mussolinis Italien ein faschistischer Soldat. Sie spielen im Mikromaßstab Geschichte nach.
Vor dem einzigen Lebensmittelladen im Ort verkündet ein Schild: »Cottages zu vermieten. Auskunft im Laden.« Wir mieten ein Cottage, klein, aber gemütlich, ein Stück weg von der Hauptstraße. Am Abend hat der Junge im Bett eine Angstattacke. Er nennt es nicht so, sagt aber, er kann nicht richtig atmen, seine Augen wollen nicht zubleiben, er kann nicht richtig denken. Er ruft mich zu sich:
Glaubst du wirklich, dass manche Dinge gar nicht vorhanden sind? fragt er. Dass wir sie sehen, sie aber gar nicht da sind?
Wie meinst du das?
Das hast du heute gesagt.
Was hab ich gesagt?
Du hast gesagt, wenn ich dich, dieses Zimmer und alles andere sehe, aber nichts davon ist wirklich da, dann kann es kein Echo erzeugen und also auch nicht fotografiert werden.
War doch nur ein Scherz, Liebling.
Okay.
Schlaf jetzt, ja?
Okay.
Später am Abend stehe ich ratlos mit einer Taschenlampe vor dem offenen Kofferraum unseres Autos und versuche zu entscheiden, welche Schachtel ich öffnen soll, um ein geeignetes Buch zu finden. Ich muss über mein Hörprojekt nachdenken, und fremde Texte zu lesen und mich vorübergehend in die Gedankenwelt anderer einzuloggen hat mir schon oft den Zugang zu meinen eigenen Gedanken erleichtert. Aber wo anfangen? Ich stehe vor den sieben Schachteln und frage mich, was wohl ein Fremder mit dieser Sammlung von Papieren anfangen würde, die jetzt in einer vorläufigen, gewissen Ordnung in den Schachteln archiviert ist. Wie viele möglichen Kombinationen dieser Dokumente gab es wohl? Und welche anderen Geschichten würden erzählt werden, wenn man sie mischen, vertauschen und neu ordnen würde?
In der zweiten Schachtel meines Mannes liegt unter einigen Notizbüchern ein Buch mit dem Titel Die Ordnung der Klänge von R. Murray Schafer. Ich erinnere mich, es vor vielen Jahren gelesen und nur einen Bruchteil davon verstanden zu haben, aber zumindest wurde mir klar, dass es ein gigantisches und wahrscheinlich vergebliches Unterfangen war, den Überschuss an Geräuschen und Klängen, die den Menschen umgeben, zu ordnen. Durch das Trennen und Katalogisieren von Lauten wollte Schafer den Lärm loswerden. Ich blättere die Seiten durch – eine Fülle von komplizierten Diagrammen, symbolischen Darstellungen unterschiedlicher Arten von Geräuschen und ein riesiges Verzeichnis, das die Laute dessen katalogisiert, was Schafer als World Soundscape Project bezeichnete. Das Verzeichnis umfasst »Laute des Wassers« ebenso wie »Laute der Jahreszeiten« oder »Laute des Körpers«, »Häusliche Laute«, »Verbrennungsmaschinen«, »Kriegs- und Zerstörungsgeräte«, »Laute der Zeit«. Jede dieser Kategorien ist in einzelne Punkte unterteilt. Unter »Laute des Körpers« etwa finden sich: Herzschlag, Atem, Schritte, Hände (Klatschen, Kratzen et cetera), Essen, Trinken, Ausscheidung, Geschlechtsverkehr, Nervensystem, Laute des Traums und des Schlafs. Beendet wird das Verzeichnis mit der Kategorie »Indikatoren künftiger Geschehnisse«, unter der natürlich nichts aufgelistet ist.
Ich lege das Buch zurück, öffne Schachtel I, sehe vorsichtig den Inhalt durch und nehme ein braunes Notizbuch heraus, auf dessen erste Seite mein Mann »Über Sammeln« geschrieben hat. Ich schlage eine beliebige Seite auf und lese eine Notiz: »Sammeln ist eine Form von erfolgreicher Prokrastination und Trägheit, die viele Möglichkeiten erschließt.« Ein paar Zeilen darunter steht ein abgeschriebenes Zitat aus einem Buch von Marina Zwetajewa: »Genie ist die höchste Stufe des Ausgeliefertseins an das Überkommenwerden – das zum einen, und des Fertigwerdens mit diesem Überkommenwerden – das zum zweiten.« Das Buch Kunst im Licht des Gewissens gehört mir, und diesen Satz hatte ich wahrscheinlich mal unterstrichen. Ihn jetzt in seinem Notizbuch zu lesen empfinde ich als kleinen geistigen Diebstahl, als hätte er eine meiner inneren Erfahrungen an sich genommen und sie sich zu eigen gemacht. Aber irgendwie bin ich auch stolz, geplündert zu werden. Schließlich nehme ich, auch wenn es mir vermutlich wenig beim Nachdenken über mein Tonprojekt oder über Soundscaping im Allgemeinen hilft, Susan Sontags Wiedergeboren. Tagebücher 1947–1963 aus der Schachtel.
BEWUSSTSEIN & ELEKTRIZITÄT
Ich bleibe auf der Veranda und lese Sontags Tagebücher. Meine Arme und Beine, ein Festmahl für die Moskitos. Über mir knallen sture Käfer mit ihren Außenskeletten gegen die einzige Glühbirne; weiße Motten wirbeln um ihren Heiligenschein und fallen dann herunter. Eine kleine Spinne webt im Schnittpunkt eines Balkens und einer Säule eine Falle. Und