Food Code. Olaf Deininger

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Название Food Code
Автор произведения Olaf Deininger
Жанр Медицина
Серия
Издательство Медицина
Год выпуска 0
isbn 9783956144486



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entdeckt hat, und so weiter.

      Die Bilder und Videos von Speisen und Zutaten berichten über die Menschen, die sie online posten. Und sie sind nicht nur Teil der Darstellung des eigenen Lifestyles. Denn Essen oder besser gesagt kulinarisches Wissen ist – wie zu Beginn dieses Kapitels bereits angedeutet – auch zum Distinktionsmerkmal und zum Statussymbol geworden. Weltläufigkeit, Bildung, mitunter auch Überlegenheit drücken sich in der Kenntnis von Zutaten, Herkunft, Zubereitung und Trends beim Essen aus.

      Angetrieben wird dieser Trend durch die jungen Millennials, die beim Essen gerade die Deutungshoheit übernehmen. An diesem Punkt sind sich die klassischen Marktforscher der ehrwürdigen GfK (Gesellschaft für Konsumforschung in Nürnberg), die eher modeorientierten Trendforscher, wie etwa die Wiener Food-Expertin Hanni Rützler, und Wissenschaftler wie beispielsweise Shyon Baumann, Professor für Soziologie an der Universität Toronto und Autor der 2015 veröffentlichten Analyse Foodies: Democracy and Distinction in the Gourmet Foodscape, oder der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz, Autor von Die Gesellschaft der Singularitäten – Zum Strukturwandel der Moderne, einig. Menschen »performen« ihre Identität auf Plattformen. Sie werden zu kulinarischen Selbstdarstellern. Und wer seinen ethisch korrekten, gesunden und elaborierten Konsum auf Social Media nicht »performen« kann, hat kein Mitsprache recht. Auch Gesundheit wird auf Social Media «performt«, zeigt Dr. Karen Cross, Dozentin an der University of Roehampton in London, in ihrer Studie »Visioning food and community through the lens of social media« (ver öffentlicht in: Digital Food Cultures (Critical Food Studies)). Für den französischen Soziologen Pierre Bourdieu, der in den 1970er- und 1980er-Jahren die Zusammenhänge zwischen sozialem Status und Lebensstilen untersuchte, sind Tischmanieren und das Wissen über Nahrungsmittel eine Art »kulinarisches Kapital«, das sich etwa bei Aufstieg und Karriere gesellschaftlich fruchtbar machen lässt. Ein Wissen, das damals ausschließlich durch die Vorstellungen und Lebensweisen der Oberschicht geprägt war.

      Das Postulat, dass Essen im Netz gut aussehen muss, um gut anzukommen, kann zu einer Verunsicherung führen und zur Orientierung des eigenen Konsums an dem, was auf Social Media »funktioniert«, was also viele Likes und Reaktionen von Followern erzeugt » image «.

      Sozialforscher wie Colin Campbell sehen hier »Craft-Consumer« am Werk: Menschen, die für die erfolgreiche Auswahl und Präsen tation ihrer alltäglichen Konsumentscheidungen einiges an (unbezahlter) kreativer Arbeit leisten. Durch die intensive Nutzung von Social Media und die »Instagramisierung« der Gerichte wird mitunter nur für das Foto gekocht, die Gerichte werden danach gar nicht gegessen. Damit tragen die jungen Foodies auch zur Lebensmittelverschwendung bei, schreibt der britische Guardian in seinem 2017 veröffentlichten Bericht »Instagram generation is fuelling UK food waste mountain, study finds«. Ob die Influencer auf ihren Kanälen einen perfekten und gesunden Lebensstil nur vorgeben und statt dem üppigen geposteten Salat nicht doch Pommes essen, weiß sowieso niemand.

      Über Jahrhunderte wurden Rezepte, das Wissen über Ernährung oder die Zubereitung von Essen mündlich oder über Handschriften und Kochbücher weitergegeben. Ein Köstlich new Kochbuch aus dem Jahr 1598, geschrieben von Anna Wecker aus Nürnberg, gilt als das erste gedruckte deutsche Kochbuch. Lange Zeit waren Bücher, Zeitschriften und Magazine die esskulturellen Leitmedien, Mitte des 20. Jahrhunderts kam das Fernsehen dazu.

      Mit dem Web 1.0 beginnt die digitale Esskultur, wie Deborah Lupton, Professorin am Zentrum für Sozialforschung im Gesundheitswesen an der University of New South Wales in Sydney, in ihrem Aufsatz »Cooking, Eating, Uploading: Digital Food Cultures« feststellt.

      Mitte der 90er-Jahre entstehen erste Webseiten und Blogs, auf denen Menschen digital Rezepte publizieren, sammeln und über persönliche kulinarische Eindrücke und Erfahrungen beim Kochen schreiben. Gleichzeitig entstehen erste Diskussionsforen im Netz; Kochportale wie Chefkoch.de werden aus der Taufe gehoben. Menschen können dort nicht nur ihre Rezepte teilen, sondern auch untereinander diskutieren. Suchmaschinen wie Google ermöglichen erste globale Suchen nach Rezepten und das Kochbuch wird digital durchsuchbar.

      Mit der Mobilwerdung des Internets Ende der 2000er-Jahre wird Food »shareable«, mit jedem im Handumdrehen per Smartphone teilbar. Soziale Food-Netzwerke entstehen. Dienste wie Foursquare oder Google-Maps werden zum Entdeckungsort der »lokalen« Food-Suche. Lebensmittelkonsum, Erfahrungen beim Einkaufen oder Essengehen werden ebenfalls lokalisierbar. Die Smartphone-Kamera ist beim Essen, beim Einkaufen oder Kochen obligatorisch dabei.

      In den 2010er-Jahren werden in Deutschland die ersten kommerziell erfolgreichen Koch-Apps entwickelt. Gleichzeitig entstehen kulinarische Communities, wie zum Beispiel Foodboom, KitchenStories und KptnCook. Allergie-Communities und Diät-Communities finden sich weltweit durch Hashtags über unterschiedliche Kanäle hinweg. Food-Blogger und Influencer erreichen Millionen Leser und Zuschauer über ihre Blogs, Videos und Foto-Kanäle.

      Influencerinnen wie etwa die Amerikanerin Vani Deva Hari bieten Foodwatch 2.0: Im Instagram-Livestream kann man Hari beim Einkaufen im Supermarkt begleiten. Mit dem Smartphone durchstöbert sie dann live die Zutatenlisten auf Packungen und kritisiert Lebensmittelhersteller für zu viele und ihrer Meinung nach gefährliche Zusatzstoffe in den Produkten. Die enorme Reichweite ihres Blogs »Foodbabe« bringt selbst Konzernriesen wie Kraft Foods zum Umdenken. So initiierte die Bloggerin eine Petition gegen die künstlichen Farbstoffe »Yellow 5 & Yellow 6«, die im Verdacht stehen, ADHS auszulösen, die von 365.000 Leuten unterzeichnet wurde. Kurz darauf ersetzte Kraft die künstlichen Farbstoffe durch natürliche Farbstoffe aus Paprika und Kurkuma.

      Die 2020er-Jahre läuten die nächsten Phase der digitalen Esskultur ein: »Künstliche Kulinarische Intelligenz« lässt die online verfügbaren Rezeptdatenbanken »smart« werden. Das bedeutet: Nun sind sie personalisierbar, individualisierbar und »intelligent«. Der Computercode lernt aus vielen Datenspuren unsere Präferenzen kennen und kann daraus Vorschläge und Vorhersagen generieren. Durch künst liche Intelligenz entwickelt sich der personalisierte Food-Coach, Ernährungsberater oder Einkaufsführer.

      Kulinarische Daten-Sammler wie Opentable, Instagram oder Foursquare können live Trends erkennen und Kulturunterschiede festmachen, auswerten und damit kommerzialisieren.

      Deborah Lupton sieht im Zusammenschluss von »Big Food Data«, also der Auswertung vieler Daten über Lebensmittel und Ernährungsverhalten, eine Entwicklung zu immer umfassenderen und smarteren Funktionen und Services. Immer mehr Geräte wie etwa Magensensoren, das Fitnessarmband, der Sensor am Lebensmittel, die Allergie-App, KI-Emotionssensoren liefern ihre Daten, um das perfekte Gericht für den Kunden zum genau richtigen Zeitpunkt zu berechnen.

       Die kulinarische Kirche namens Instagram

      Essen bedeutet heute Identität – zumindest einen Teil davon. Menschen kommunizieren über das Essen indirekt auch ihre politische, regionale, ethische oder soziale Wertehaltung. Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme. Durch das Bekenntnis zu einem klaren Ernährungsstil tritt man einer Community bei. Man sagt: »Ich bin Veganer«, »Ich bin Paleo«, »Ich bin Slow-Food Mitglied«. Der Kulturanthropologe und Völkerkundler Gunther Hirschfelder stellt fest, dass in einer Zeit, in der Kirche und Religion an Bedeutung verlieren, das Essen »quasi religiöse Züge annimmt«.

      Digitale Kommunikation ermöglicht der Generation Food heute, Kontakt zu ihren »Ess-Religionsgemeinschaften« zu halten und sich reformistischen oder orthodoxen Richtungen anzuschließen, egal ob Grillfans, Pulvernahrungsjünger oder Gemüseheilige. Wer wissen will, wie hart es heute ist, aus einem orthodoxen Veganerstamm auszutreten, muss sich nur mit Aussteigern unterhalten, die nach einer streng veganen Phase wieder Milch trinken oder sogar Fleisch essen. Digitale Selbstdarstellung in Social Media macht diesen Ausstieg schwer, ganz abgesehen von den bekannten labyrinthartigen Filterblasen oder sogenannten »Rabbit Holes«, in denen man sich in extreme Ernährungsformen verrennen kann. Der eine oder die andere findet sich dank algorithmischer Vorschläge »Das könnte dir auch gefallen« eher in einer Ernährungssekte als in einer fröhlichen