Название | Food Code |
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Автор произведения | Olaf Deininger |
Жанр | Медицина |
Серия | |
Издательство | Медицина |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783956144486 |
Wenn der Supermarkt wie Netflix funktioniert
Der Wochenmarkt auf dem Smartphone
Kapitel 8 – Die digital-globale Ess-Gesellschaft
Welternährung per App: Die neue Weltordnung der Kalorien
Die Versprechen hungriger Datensammler
Brauchen wir Big Brother, um die Welt zu retten?
Kapitel 9 – Der Weg in eine genießbare Zukunft
New Food Work: Die Chance auf kulinarische Kreativität
Wie wir in der digitalen Welt den Spaß am Essen nicht verlieren
Wie wir die Kontrolle über unsere Lebensmittel bekommen und behalten
Regulierungsbedarf im Internet of Food
VORWORT
Es war eine 10er-Packung Kaugummi: Geschmacksrichtung »fruchtig-süß«. Am 26. Juni 1974 um 8:01 Uhr scannte die Supermarktkassiererin Sharon Buchanan in der Kleinstadt Troy im US-Bundesstaat Ohio den ersten Strichcode auf einem Lebensmittelprodukt. In der Nacht zuvor hatten Techniker und Ingenieure den ersten Prototypen eines Barcode-Scanners in ihre Kasse eingebaut. Nach dem ersten Kassen-Piepton der Geschichte erschien der Preis: 69 Cent.
Heute, fast fünfzig Jahre später, erscheint vielen die Verbindung von Essen und digitaler Technologie auf den ersten Blick immer noch fremd. Dabei tauchen inzwischen selbst auf unverpackten Lebensmitteln kleine Codes auf, sei es auf den Eiern am Frühstückstisch oder auf den Bananen im Obstregal. Nach dem Smartphone-Scan versprechen uns kleine QR-Codes, mehr über die Herkunft und den Anbau unserer Lebensmittel zu verraten. Ganz selbstverständlich posten wir abends die vollen Teller in unserem Lieblingsrestaurant bei Instagram oder teilen an Weihnachten stolz das Festessen per Messenger in der größeren Familiengruppe.
Überall dort, wo heute die Technologie entwickelt wird, die viele Teile unserer Lebenswelt prägt – in den Konzernzentralen von IBM, Amazon, Google oder Alibaba –, interessiert man sich brennend für die digitale Zukunft unserer Lebensmittelwelt. Genauso wie in den Innovationsabteilungen großer Supermarkt- und Handelsketten. Tausende von Food-Start-ups, haben sich in den letzten zehn Jahren rund um den Globus gegründet – auch sie wollen die Food-Welt neu gestalten. Wir müssen uns fragen: Interessieren wir uns genauso brennend dafür, was dieser technologische Wandel mit unserem Essen macht?
Während wir diese Zeilen im Dezember 2020 schreiben, beginnt in Deutschland der zweite Lockdown. Und dieses Ausnahmejahr hat uns allen deutlich gemacht, wie eng die beiden Welten Lebensmittel und Technologie bereits miteinander verflochten sind. Millionen Bundesbürger stehen wieder öfter in der eigenen Küche und lernen Kochen mit den Tutorials auf YouTube. Die Zeit, die Menschen mit der Online-Suche nach Hofläden oder Lebensmittel-Lieferdiensten verbringen, ist sprunghaft angestiegen. Landwirte entwickelten in kürzester Zeit Onlineplattformen zur Erntehelfersuche. Gastronom* innen kreierten digital konfigurierbare Kochboxen, stiegen ins Online-Liefergeschäft ein und boten Unterstützung beim Kochen via Livestream. Viele von uns stellten fest, wie praktisch und einfach es ist, sich mithilfe von App und Laptop gut und nachhaltig zu versorgen.
Wir haben aber auch überlastete digitale Strukturen erlebt, die mit einer veränderten Nachfrage nicht mehr zurechtkamen. Wir sehen digital Benachteiligte, die an dieser »schönen neuen Welt« nicht teilhaben können, und Menschen, die im Liefergeschäft für unseren Komfort unverhältnismäßig schuften müssen. Viele Bürger*innen, aber auch Unternehmer*innen mussten feststellen, wie abhängig sie bereits von digitalen Giganten geworden sind, die als die Gewinner aus dieser Krise hervorgehen werden.
Es lohnt sich also, in den Motorraum der digitalen Maschinerie zu schauen, die den Wandel auf unseren Tellern antreibt. Der erste Computer der Welt, den Konrad Zuse 1941 in Berlin-Kreuzberg zum Laufen brachte, nahm mit seinen Schaltkreisen und Kabeln noch ein ganzes Zimmer seines Elternhauses ein. Damals war es noch offensichtlich, wenn man »im Computer« war. Er war begehbar. Im heutigen Smartphone-Zeitalter sind wir ständig online, umgeben von Daten, die permanent und überall erzeugt, verarbeitet, mit anderen Daten ergänzt und angereichert, zusammengesammelt und analysiert werden. Die Geräte verschmelzen mit unserem Alltag. Die Rechenoperationen dahinter werden dagegen immer unsichtbarer, passieren im Verborgenen und außerhalb unserer Wahrnehmung. Die Ergebnisse dieser mathematischen Berechnungen erscheinen auf den ersten Blick neutral. Doch sie bestimmen in Wahrheit unser Leben immer stärker.
Wir haben uns für dieses Buch umgeschaut: Wo sind entlang der Lebensmittelkette vom Acker bis auf unsere Teller schon heute künftige Technologien im Einsatz und wo werden sie erprobt? Wo stehen die Garagen, in denen Gründer*innen und Tüftler*innen an Zukunftstechnologien unserer Lebensmittelwelt arbeiten? Wie funktionieren diese neuen Algorithmen, wie arbeitet die künstliche Intelligenz der New-Food-Economy, und wie beeinflusst sie unseren Appetit und unsere Esskultur?
Was wir gesehen haben, ist ein grundlegender Wandel – in der Art, wie wir uns ernähren, wie wir Lebensmittel herstellen, verarbeiten, vertreiben und konsumieren. Neue Technologien, Digitalisierung, eine Gründungswelle und eine Generation von jungen Konsument*innen und Gründer*innen, die sich nicht mehr um alte Denkmuster scheren, prägen diesen Wandel. Vieles mag noch fern oder wie Scien ce-Fiction erscheinen – obwohl es längst Realität ist. Anderes ist bereits unbemerkt in unseren Alltag gesickert und bedarf dringend unserer Aufmerksamkeit.
Es gibt viele Gründe zur Hoffnung: Wir sehen neue Technologien, neue Möglichkeiten, Chancen, unser Lebensmittelsystem nachhaltiger, fairer und leckerer zu machen.
Es gibt aber auch Gründe zur Sorge: Wir sehen neue Herausforderungen und Probleme, die wahrgenommen, besprochen, angegangen und gelöst werden müssen.
Wir glauben, dass man den tief greifenden Wandel, der in unserer Lebensmittelwelt geschieht, nur dann verstehen kann, wenn man im wahrsten Sinne des Wortes über den Tellerrand hinausschaut, die technologischen ›Zutaten‹ hinterfragt und mit denen spricht, die am bunten Zukunftsmenü mitkochen. Denn es betrifft uns am Ende alle.
Die tief greifenden Veränderungen können schneller auf unserer Gabel ankommen, als wir denken. Deshalb sehen wir jetzt den richtigen – und im ungünstigsten Fall vielleicht den letzten – Zeitpunkt, um über wegweisende Richtungsentscheidungen dieser Entwicklungen zu sprechen. Geht es um eine Dystopie vom Untergang? Geht es um die Utopie eines Schlaraffenlandes, das sich von selbst einstellt? Oder geht es um einen gemeinsamen, demokratischen Prozess? Vielerorts herrscht Sprachlosigkeit: Viele Institutionen wollen nicht aus ihren tradierten Denkmustern heraus, unterschätzen