Winzige Gefährten. Ed Yong

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Название Winzige Gefährten
Автор произведения Ed Yong
Жанр Математика
Серия
Издательство Математика
Год выпуска 0
isbn 9783956142482



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sein – seine Zellen müssen eng aneinanderhaften, damit fremde Moleküle (und Mikroorganismen) nicht von seinem Innenraum in die Blutgefäße sickern können. All diese lebenswichtigen Eigenschaften sind beeinträchtigt, wenn die Mikroben fehlen. Wenn Zebrafische oder Mäuse ohne Bakterien aufwachsen, entwickelt sich ihr Darm nicht vollständig, die Zotten sind kürzer, die Wände sind durchlässiger, die Blutgefäße sehen nicht wie ein dichtes städtisches Straßennetz aus, sondern wie vereinzelte Landstraßen, und ihr Regenerationszyklus ist einen Gang heruntergeschaltet. Viele dieser Mängel lassen sich einfach dadurch ausgleichen, dass man die Tiere mit einer normalen Mikroorganismenausstattung oder auch nur mit isolierten Molekülen von Mikroorganismen versorgt.6

      Die Bakterien selbst geben dem Darm nicht physisch eine neue Form. Sie wirken vielmehr auf dem Weg über den Wirtsorganismus. Sie sind nicht die Arbeiter, sondern das Management. Dies zeigte Lora Hooper, indem sie keimfreien Mäusen per Infusion ein verbreitetes Darmbakterium namens Bacteroides thetaiotaomicron verabreichte – von seinen Freunden schlicht B-theta genannt.7 Wie sie herausfand, aktivieren die Mikroorganismen ein breites Spektrum verschiedener Mausgene, die an der Aufnahme von Nährstoffen, dem Aufbau einer undurchlässigen Barriere, dem Abbau von Giftstoffen, der Bildung neuer Blutgefäße und der Schaffung reifer Zellen mitwirken. Mit anderen Worten: Der Mikroorganismus teilt den Mäusen mit, wie sie ihre eigenen Gene einsetzen müssen, damit ein gesunder Darm entsteht.8 Der Entwicklungsbiologe Scott Gilbert bezeichnet dieses Prinzip als Co-Entwicklung. Weiter kann man sich von dem immer noch in Umlauf befindlichen Gedanken, Mikroorganismen seien nichts als eine Bedrohung, kaum entfernen. In Wirklichkeit helfen sie uns, zu dem zu werden, was wir sind.9

      Skeptiker könnten nun einwenden, dass Mäuse, Zebrafische und Tintenfische die Mikroben für ihre Entwicklung nicht unbedingt brauchen: Eine keimfreie Maus sieht immer noch aus wie eine Maus, geht wie eine Maus und quiekt wie eine Maus. Es ist nicht so, dass man die Bakterien weglässt und plötzlich ein vollkommen anderes Tier vor sich hat. Aber keimfreie Tiere leben in einer anspruchslosen Umwelt: in klimakontrollierten Blasen mit ausreichend Nahrung und Wasser, ohne natürliche Feinde und ohne jedwede Infektionen. In der grausamen freien Wildbahn würden sie kaum überdauern. Sie könnten existieren, vermutlich jedoch nicht lange. Sie können sich allein entwickeln, aber besser ergeht es ihnen mit ihren Partnern, den Mikroorganismen.

      Warum? Warum haben Tiere manche Teile ihrer Entwicklung so effizient auf andere Arten übertragen? Warum machen sie nicht alles selbst? »Nach meiner Überzeugung ist das unvermeidlich«, sagt John Rawls, der mit keimfreien Mäusen und Tintenfischen gearbeitet hat. »Mikroben sind für Tiere ein notwendiger Lebensbestandteil. Man kann sie nicht loswerden.« Denken wir noch einmal daran, dass die Tiere in einer Welt entstanden sind, in der es bereits seit Jahrmilliarden von Mikroorganismen wimmelte. Sie waren die Herrscher über den Planeten, lange bevor wir auf der Bildfläche erschienen. Und als wir schließlich da waren, entwickelten sich bei uns natürlich Wege, auf denen wir mit den Mikroben um uns herum in Wechselwirkung treten konnten. Alles andere wäre töricht, so als würden wir uns mit verbundenen Augen, Ohrstöpseln und Maulkorb in eine fremde Stadt begeben. Außerdem waren die Mikroorganismen nicht nur unvermeidlich, sondern nützlich. Sie fütterten die ersten Tiere. Ihre Gegenwart lieferte wertvolle Hinweise auf nährstoffreiche Regionen, auf Temperaturen, die dem Leben förderlich waren, oder auf flache Oberflächen, auf denen man sich niederlassen konnte. Indem die ersten Tiere solche Hinweise aufnahmen, verschafften sie sich wertvolle Informationen über ihre Umwelt. Und wie wir noch genauer erfahren werden, gibt es bis heute eine Fülle solcher uralter Wechselbeziehungen.

      Nicole King ist weit weg von zu Hause. Normalerweise leitet sie ein Labor an der University of California in Berkeley, aber derzeit ist sie in London auf Urlaub. Sie will mit ihrem achtjährigen Sohn Nate eine Aufführung des Musicals Billy Elliot besuchen, allerdings nur unter der Bedingung, dass er eine halbe Stunde lang still neben uns auf der Parkbank sitzt, während wir über eine wenig bekannte Gruppe von Lebewesen sprechen, die Choanoflagellaten, auch Kragengeißeltierchen genannt. King ist eine der wenigen Wissenschaftlerinnen, die sich eingehend mit diesen Tierchen beschäftigen, und da sie voller Zuneigung von ihren »Choanos« spricht, werde ich sie auch so nennen.

      Man findet sie in Gewässern auf der ganzen Welt, von tropischen Flüssen bis zu dem Meer unter dem Antarktiseis. Während wir uns unterhalten, meldet sich Nate, der bis dahin in aller Ruhe auf einem Block gekritzelt hat, zu Wort und zeichnet eines. Er malt ein Oval mit wellenförmigem Schwanz und einem Kragen aus steifen Filamenten – das Ganze sieht aus wie eine Samenzelle im Hemd. Der schlagende Schwanz treibt Bakterien und andere Teilchen in Richtung des Kragens, wo sie eingefangen, verschluckt und verdaut werden; Choanos sind aktive Räuber. Nates Zeichnung fängt ihre wesentlichen Eigenschaften sehr schön ein. Insbesondere macht sie deutlich, dass Choanos einzellige Lebewesen sind. Sie sind Eukaryonten wie du und ich, inklusive der Luxuseigenschaften wie Mitochondrien und einem Zellkern, die bei Bakterien fehlen. Aber wie Bakterien bestehen sie nur aus einer frei schwimmenden Zelle.10

      Manchmal zeigen diese Zellen eine gesellige Seite. Salpingoeca rosetta, Kings Lieblingsspezies, bildet häufig Kolonien oder Rosetten. Auch die kann ihr Sohn zeichnen – Dutzende von Choanos mit nach innen gerichteten Köpfen und schlagenden Schwänzen auf der Außenseite sehen aus wie behaarte Himbeeren. Es ist, als wären mehrere Choanos aufeinander zugeschwommen, aber in Wirklichkeit ist das Gebilde nicht durch eine Kollision entstanden, sondern durch Zellteilung. Choanos vermehren sich durch Zweiteilung, aber manchmal trennen die beiden Tochterzellen sich nicht völlig, sondern sind am Ende durch eine kurze Brücke verbunden. Das geschieht immer und immer wieder, bis sich eine Kugel aus verbundenen Zellen gebildet hat, die von einer einzigen Hülle umgeben sind. Das ist die Rosette. Sie wäre eine uninteressante biologische Banalität, wären die Choanos nicht die nächsten lebenden Verwandten aller Tiere.11 Sie sind entfernte Vettern jedes Froschs, Skorpions, Regenwurms, Zaunkönigs oder Seesterns. King, die verstehen will, wie die Evolution des Tierreichs begonnen hat, ist von den Choanos fasziniert. Das gilt insbesondere für den Prozess, durch den aus einer einzigen Zelle ein vielzelliger Haufen und damit die Rosette wird.

      Wir wissen sehr wenig darüber, wie die ersten Tiere aussahen, denn ihr weicher Körper bildete keine Fossilien. Sie kamen und gingen wie ein Winterhauch und hinterließen keine Spuren in der Welt. Wir können aber über sie einige begründete Vermutungen anstellen. Alle heutigen Tiere sind vielzellige Lebewesen. Ihr Dasein beginnt als hohle Zellkugel, und ihren Lebensunterhalt sichern sie sich durch Fressen. Deshalb ist es ein vernünftiger Gedanke, dass auch unser gemeinsamer Vorfahre die gleichen Eigenschaften hatte.12 Die Rosetten geben demnach heute wieder, wie die ersten Tiere ausgesehen haben dürften. Und der Prozess, durch den sie entstehen – eine einzige Zelle teilt sich und bildet eine zusammenhängende Kolonie –, vollzieht den evolutionären Übergang nach, der die Urtiere entstehen ließ, auf die schließlich die Eichhörnchen, Tauben, Enten, Kinder und alle anderen Tiere in dem Park folgten, in dem King und ich uns unterhalten. Indem sie diese harmlosen, wenig bekannten Einzeller studiert, kommt King der Aufklärung des rätselhaften Ursprungs unseres ganzen Organismenreiches so nahe, wie es überhaupt nur möglich ist.

      Ihre Beziehung zu S. rosetta war nicht unproblematisch. Sie wusste, dass die Spezies in freier Wildbahn Kolonien bildet, konnte sie aber kaum dazu bringen, das auch in ihrem Labor zu tun. In ihren Händen und auch in denen anderer Wissenschaftler verwandelten sich die geselligen Geschöpfe auf rätselhafte Weise in Einzelgänger. Sie änderte Temperatur, Nährstoffkonzentration, Säuregehalt … doch es klappte nicht. King konnte das Problem nur lösen, indem sie aufgab. Frustriert wandte sie sich einem anderen Ziel zu: der Sequenzierung des Genoms von S. rosetta. Auch das brachte Schwierigkeiten mit sich. King hatte S. rosetta mit Bakterien gefüttert, aber die musste sie jetzt loswerden, damit ihre Gene nicht die Ergebnisse der Sequenzierung verfälschten. Also fütterte sie die Choanos mit einer ganzen Reihe von Antibiotika, und zerstörte damit überraschenderweise gänzlich deren Fähigkeit, Kolonien zu bilden. Hatten sie sich schon zuvor nur widerwillig zusammengetan, so lehnten sie es jetzt rigoros ab. Die Bakterien hatten irgendetwas an sich gehabt, was die Choanos gesellig machte.

      Die Doktorandin Rosie Alegado nahm die ursprünglichen Wasserproben, isolierte die darin enthaltenen Mikroorganismen und fütterte die Choanos mit einem nach dem anderen. Von vierundsechzig Arten stellte nur ein Bakterium