Schlüsselbegriffe der Public History. Thorsten Logge

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Название Schlüsselbegriffe der Public History
Автор произведения Thorsten Logge
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846357286



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Wilhelm Dilthey, einer der Gründungsväter der modernen Geisteswissenschaften, kennzeichnete das geisteswissenschaftliche Verstehen im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Erklären als ein „Nachfühlen fremder Seelenzustände“.32 Damit wies Dilthey den Gefühlen im Verstehensprozess eine erkenntnistheoretische Bedeutung zu. Daniel Morat bezeichnet diesen Zugang daher folgerichtig als eine „Gefühlsmethode“.33 Dilthey arbeitete mit der Vorstellung einer grundsätzlichen Gleichartigkeit zwischen der_dem Verstehenden und dem_der Verstandenen, die ein „Hineinversetzen“ in und „Nachbilden“ von fremden Gefühlen und damit ein Nacherleben fremder Erfahrungen überhaupt ermöglicht.

      Faszination der Emotionen und Angst vor Emotionen im vergangenen Geschichtsunterricht

      Trotz dieser dezidiert geisteswissenschaftlichen, hermeneutischen „Gefühlsmethode“ waren Emotionen über viele Jahrzehnte aus dem Geschichtsunterricht regelrecht verbannt. Die Erklärung dafür liegt in der Geschichte des Unterrichtsfaches selbst. Geschichtsunterricht im wilhelminischen Kaiserreich, so der Didaktiker Bodo von Borries, verfolgte mit seinen „herkömmlichen Zielsetzungen“ unverhohlen „affirmativ-legitimatorische, ja manipulativ-indoktrinierende“ Absichten. „Kognitive Lernprozesse (Verständnis)“ seien damals „zum bloßen Vehikel des Emotionalen (Begeisterung und Liebe)“ insbesondere im Hinblick auf die Nation geworden.34 Emotionen galten aufgrund dieses Erbes, das über die Zeit des Nationalsozialismus hinauswirkte, als besonders problematisch für den Geschichtsunterricht. Das kumulierte in den 1970er Jahren in einen besonderen Rationalitätsschub im geschichtsdidaktischen Diskurs. Die Furcht vor einer unkalkulierbaren Wirkung der Emotionen resultierte in einer Dominanz kognitiver Lernprinzipien und -ziele gegenüber einem auch Emotionen adressierenden Zugang35 und in der Forderung nach einer „Kultivierung der Affekte“.36

      Emotionen im Geschichtsunterricht werden neu entdeckt

      Zu Beginn der 1990er Jahre kam es in Form einer geschichtsdidaktischen Tagung über Emotionen im Unterricht zu einem ersten Versuch, Emotionen wieder in den Lernprozess zu integrieren.37 Die Motivation zur Organisation einer solchen Tagung entstand aus der Einsicht, dass Emotionen in der historisch-politischen Bildung jahrelang vernachlässigt worden waren. Obwohl die Tagung einen Wendepunkt markieren sollte, hatte sie zunächst nur begrenzte Auswirkungen auf geschichtsdidaktische Konzepte oder gar auf Lernpläne. Erst mit dem emotional turn in der Geschichtswissenschaft fanden auch die Emotionen wieder Eingang in die Debatten um historisches Lernen, vor allem auch an außerschulischen Lernorten.38

      Der heutige geschichtsdidaktische Umgang mit Emotionen verweist auf gegensätzliche Perspektiven und Erwartungen an die Einbeziehung von Emotionen in den Lernprozess. Einerseits gibt es Formate, die auf ein Nachbilden, Nachfühlen vergangener Emotionen setzen (so wie im Mauer-Panorama) oder die emotionalen Reaktionen der Lernenden mit berücksichtigen (insbesondere wenn es darum geht, die Geschichte von gewaltsamen Geschehnissen bis hin zum Massenmord zu vermitteln). Andererseits bestehen auch Bedenken hinsichtlich dieser Praktiken, die gezielt auf das Fühlen der Lernenden ausgerichtet sind, gerade weil diese zu sehr an historische Beispiele intentionaler Emotionalisierung erinnern. Daher gilt es, vertieft danach zu fragen, wie sich in der Begegnung mit Geschichte die Emotionen auf der Subjektebene zu denen auf der Objektebene verhalten.

      Vergangenheit wird von Vermittlungsinstanzen erkennbar gemacht

      So grundlegend die Dilthey’sche Definition des Verstehens als „Gefühlsmethode“ ist, verweist sie doch auf enge Grenzen insbesondere für das spezifisch historische Verstehen und damit für die historische Bildung. Denn um der Vergangenheit habhaft zu werden, braucht es Vermittlungsinstanzen, die vergangene Lebenszusammenhänge sicht- und verstehbar machen. 2000 Jahre alte Fundamente erzählen nicht von sich aus ihre Geschichte. Dafür braucht es die Markierung der Fundamente als historisch bedeutsam durch Absperrungen und eventuell durch vorsichtige Rekonstruktion, man benötigt Erklärtexte oder -videos zum Alltagsleben in der antiken Stadt oder zu religiösen Ritualen, um die Fundamente in einen historischen Zusammenhang zu bringen. Die Wirkung dieser verschiedenen medialen Vermittlungsinstanzen liegt in ihrem Vermögen, Vorstellungsbilder entstehen zu lassen und sie mit einer besonderen Glaubwürdigkeit zu versehen, an der entlang die Betrachter_innen konsistente Vergangenheitsbilder entwickeln können. Aber selbst wenn 100 Besucher_innen dieselben Fundamente sehen und dieselben Informationen und Bilder vermittelt bekommen, liegt es an jeder_m Einzelnen, diese mit eigenem Wissen und vorhandenen Vorstellungsbildern zu verknüpfen und daraus eine Geschichte zu entwickeln (vgl. Kap. 9 Historische Imagination).

      Diese Geschichtsaneignung als Fremd- oder Identitätserfahrung

      Überlegungen verweisen zum einen auf das Individuelle einer jeden Rezeption und Rekonstruktion des Vergangenen, zum anderen auf gesellschaftliche Deutungsmuster, die festlegen, was aus der Vergangenheit wert ist, sichtbar gemacht zu werden, und welche Geschichte anhand dieses Sichtbar-Gemachten erzählt werden soll. Die Frage ist nur, unter welchen Vorzeichen die Sichtbarmachung der Vergangenheit stattfindet. Sollen die Besucher_innen erkennen, wie anders das alltägliche Leben in einer antiken Stadt war, oder sollen sie Parallelen zu ihrem eigenen Leben sehen? Ist die Begegnung mit der Vergangenheit dementsprechend eine Alteritäts- oder eine Identitätserfahrung? Das hängt entschieden von der Art und dem Einsatz der Vermittlungsinstanzen ab. Um beim Beispiel der Ausgrabungen zu bleiben, besteht einerseits die Möglichkeit, die Fundamente minimal zu restaurieren und sie mit entsprechenden Informationstexten zu versehen. Andererseits ermöglicht es moderne Technik, die Besucher_innen mit Ton, Videoinstallation oder gar unter Zuhilfenahme von Augmented-Reality-Technik auf eine Zeitreise mitzunehmen und die Geschichte ‚hautnah miterlebbar‘ zu machen.

      Ein Nachfühlen historischer Emotionen ist nicht möglich

      Doch wie bereits dargestellt, ergibt sich aus der Perspektive der Emotionsgeschichte ein erheblicher Einwand gegen die Begegnung mit Geschichte als Identitätserfahrung. Denn ein Nachfühlen historischer Emotionen ist nicht möglich, eben weil sich Emotionen im Laufe der Zeit ganz grundlegend ändern können. Eine Annährung im Sinn des analogen Fühlens ist denkbar, aber nicht die Zeitreise in das Herz und in den Kopf der Menschen in längst vergangenen Zeiten. Wir als Menschen der Jetztzeit teilen nicht den „Erfahrungsraum und den Erwartungshorizont“ jener Menschen, um hier prägnante historische Kategorien von Reinhart Koselleck aufzugreifen.39 Um auf das Beispiel des Heimwehs zurückzukommen: Aus unserem heutigen Verständnis von Heimweh fehlt uns zum Mitfühlen ein Verständnis davon, dass Heimweh im 17. und 18. Jahrhundert als Krankheit für den Tod zahlreicher Söldner verantwortlich gemacht wurde. Wie könnten wir die Entscheidung eines führenden Offiziers nachvollziehen, seine Soldaten bei den ersten Anzeichen von Heimweh unverzüglich nach Hause zu schicken?

      Historisches Lernen als Alteritätserfahrung

      Es gibt einen zweiten dezidiert geschichtsdidaktischen Einwand gegen das Nachfühlen historischer Emotionen. Historisches Lernen ist diesem Einwand zufolge die Erfahrung des zeitlich, kulturell und geografisch Anderen, des Fremden, es ist eine Alteritätserfahrung. Die Aufforderung, etwas nachzuerleben, nachzufühlen, was Menschen in der Vergangenheit gedacht und gefühlt haben, baut jedoch auf die Illusion des Gleichartigen, der Identitätserfahrung. Wenn die Besucher_innen im Asisi-Panorama den erhöhten Blick über die Mauer haben, begeben sie sich in die Perspektive der Westberliner_innen im Jahr 1980. Doch ihr Blick auf die grauen Wohnblöcke Ost-Berlins heute ist weit weniger von bangen Fragen begleitet als derjenige der Zeitgenoss_innen. Damals lag in dem Blick über die Mauer vielleicht die Sorge um geliebte Angehörige, die Hoffnung darauf, einen Blick auf sie erhaschen zu können, oder einfach nur die Erleichterung darüber, auf dieser Seite der Mauer zu stehen. Den Besucher_innen heute wird vorgespielt, dass sie das sehen könnten, was die Menschen damals von solchen Beobachtungsposten aus sahen; oberflächlich mag das vielleicht stimmen, aber die Bedeutungen, Gedanken und Gefühle, die dem Sehen unterlegt sind oder mit ihm einhergehen, unterscheiden sich zwischen damals und heute.

      Wilhelm Dilthey legte trotz solcher Einschränkungen, die mit der „Gefühlsmethode“ des historischen Verstehens verbunden sind, dennoch eine wichtige Spur für die Verortung von Emotionen in Lehr-Lern-Prozessen, in dem es um geisteswissenschaftliche Themen geht, nämlich die der