An den Regen. Fariba Vafi

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Название An den Regen
Автор произведения Fariba Vafi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783962026202



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Marhamat?“

      Sie sah mich fragend an. Ich riet ihr, zu antworten.

      „Du siehst doch, dass ich sie schäle.“

      Mein Vater schaute in ihre Richtung.

      „Ich sehe dich damit rumspielen.“

      Diesmal schlug ich ihr vor, nicht zu antworten. Auch mein Vater sagte nichts. Er schaute zum offenen Fenster. Es war Frühling, und es roch nach Regen. Ein frischer Windstoß wehte kleine gelbe Blütenblätter ins Zimmer. Wie Pailletten wirbelten sie durch die Luft und landeten sanft auf unserem Teppich. Mein Vater schien verblüfft über die Schönheit und Wohltat der Natur. Ich ging nach draußen. Bei schönem Wetter konnte ich einfach nicht zu Hause sitzen und Marhamat beim Zucchinibraten zuschauen. Zeit im Freien zu verbringen war für mich wie Urlaub. Ich ließ allen Ärger hinter mir und genoss diese wenigen Ruhestunden. Aber schon jeder Heimweg machte meine gute Laune wieder zunichte. Mein Vater saß im Dunkeln. Und Marhamat mit ihm. Aus purer Gewohnheit machte sie erst Licht, wenn ich zur Tür reinkam und tastete sich im Dunkeln bis zur Küche vor, in der es heller war, weil Licht von draußen einfiel. Ich verfluchte die düstere Grottenatmosphäre, für die Marhamat sorgte, und sorgte meinerseits aus Trotz für Festbeleuchtung.

      „Du nutzt wohl aus, dass ich nichts sehen kann, gewissenlos wie du bist?“, schnauzte mein Vater.

      Ich schaute sofort zu Marhamat, die mich verstohlen ansah, aufstand und ging. Ich schloss die Tür zu meines Vaters Zimmer und heftete mich Marhamat an die Fersen. Mir platzte fast der Kragen. Ihr Kinn zitterte.

      „Er kriegt alles mit, was ich mache.“

      Ich riet ihr: „Stell dich doch nicht so dumm, Mütterchen. Er ist nicht Gott. Er ist ein armer, hilfloser Tropf, der nicht mal sein eigenes Gesicht sehen kann.“

      Marhamat kamen die Tränen. Ich unterbrach meine Tirade.

      „Was gibt’s zu weinen?“

      „Tut mir leid, dass er so hilflos geworden ist.“

      Ich schrie sie an.

      „Du bist hilflos! Und merkst es nicht mal, du Unglückliche! Er spielt sich als Herrscher auf und kommandiert dich rum wie seine Dienerin!“

      Ihr Haar hing ihr ins Gesicht wie ein Strang verstaubter alter Wolle. Dass sie keinen Finger rührte, um sich freie Sicht zu verschaffen, brachte mich noch mehr auf. Ich hätte sie am liebsten durchgerüttelt, geschlagen. Für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete ich sogar, mir könnte tatsächlich die Hand ausrutschen. Ich zog schnell meinen Mantel an.

      „Komm, lass uns rausgehen.“

      Sie kehrte mir den Rücken.

      „Ich kann allein rausgehen. Bin schließlich kein Kind mehr.“

      „Nein, du bist kein Kind, und ich bin nicht deine Mutter. Leider ist es umgekehrt. Nun komm schon, erheb dich. Du warst mir übrigens nie eine richtige Mutter, vergiss das nicht.“

      „Du brauchst gar keine Mutter.“

      Sie hielt mich seit jeher für ungemein stark.

      „Wieso braucht das Riesenbaby da eine, und ich nicht?“

      Ihr Mund verzog sich mitleidsvoll.

      „Versündige dich nicht.“

      Nichts machte mich rasender als ihre Floskeln.

      „Steh auf und geh, bevor ich mich deinetwegen in Stücke reiße.“

      Am nächsten Tag machte ich einen Schritt auf sie zu. Sie aß Fladenbrot und Schafskäse. Beides fand sie immer schon schmackhafter als Hackspieße mit Reis. Ich rückte das Tischtuch gerade. Sie hatte nur ein Eckchen ausgefaltet. Ich legte die Brotfladen in die Mitte, stellte den Teller mit Käse daneben.

      „Ich sag ja nicht, dass du gar nichts für ihn tun sollst. Aber krummlegen musst du dich für ihn nicht. Warum massierst du ihm den Rücken?“

      Während ich redete, zog sie eine Fliegenklatsche unter ihren Knien hervor und schlug nach einer Fliege. So kraftlos, dass das Tierchen sich aufrappelte und davonflog. Marhamat sah mich an, wartete, bis ich geendet hatte.

      „Wenn du ein bisschen Kaschk kaufen könntest, getrockneten Quark - die Auberginen sind schon fertig.“

      Ich starrte sie an, fassungslos.

      „Kipp dir deine Quark-Auberginen übern Kopf!“

      Sie zuckte zusammen, weil ich laut geworden war.

      „Du bist wie dein Vater.“

      „Nein, bin ich nicht, Hadschi Khanum.“

      Mit ihren dritten Zähnen hatte sie Mühe, ihr Brot zu kauen.

      „Doch, bist du. Er kann nichts sehen, aber du hast Augen, und du machst Sachen.“

      „Was für Sachen?“

      „Du weißt genau, was ich meine.“

      „Nein, weiß ich nicht. Sag du’s mir.“

      Sie bückte sich, klaubte mit einer Hand Krümel vom Teppich und sammelte sie in der anderen.

      „Lass mich in Frieden. Lass mich in meinem Unglück sterben.“

      „Sag mir erst, welche Sachen du meinst, danach kannst du meinetwegen sterben gehen.“

      „Wenn ich tot bin, bist du mich los.“

      Ich ließ nicht locker.

      „Was für Sachen?“

      Sie schob ihren halbgekauten Bissen Brot in eine Backe. Die wurde dick.

      „Du rührst keinen Finger, machst aber viel Geschrei. Du heiratest nicht, tust stattdessen aber auch nichts anderes. Du schminkst dich, putzt dich raus und gehst auf die Straße. Genau wie er, in seinem Alter, ständig macht er sich fein, schmiert sich Pomade ins Haar und geht aus dem Haus.“

      „Ich arbeite.“

      „Ja, für dich. Wir hatten davon bis heute nichts.“

      Ich drehte mich um und trat ihr direkt unter die Augen.

      „So siehst du mich also? Hast du vergessen, dass ich dir letztes Jahr Sachen zum Anziehen gekauft habe? Wo hast du die hingetan? Warum trägst du sie nicht?“

      Je mehr ich auf sie einredete, desto stärker geriet ich in Rage. Wieder schrie ich sie an. Sie. Meinen Vater. Und er übertönte mich: „Schrei mich nicht an, du Wechselbalg!“

      Stattlich gebaut und kräftig wie er war, holte er aus und warf etwas nach mir. Ich ergriff die Flucht und knallte die Tür hinter mir zu. Seitdem hat er nie wieder die Hand gegen mich erhoben. Er brauchte mich. Von seinen vier nichtsnutzigen Blagen war ich ihm die nützlichste. Nicht umsonst hatte er mir die Buchhaltung seines Ladens übertragen. Sobald er aufmuckte, klappte ich die Bücher zu und warf meinen Stift nach ihm.

      „Mach deine Abrechnung selbst.“

      Als ich heute morgen nach ihm schaute, hatte er sein schwarzes Hemd abgelegt und trug das rote. Marhamat war erst seit sechsundvierzig Tagen tot.

      „Du hast dein rotes Hemd an.“

      Er stand vor der Wand, an der früher der Spiegel hing, fasste an den Hemdkragen.

      „Ich seh das ja nicht. Ich dachte, es sei das Dunkelblaue.“

      Ich suchte ihm das Blaue raus und gab es ihm. Er warf es in die Ecke.

      „Lass gut sein. Jetzt hab ich das Rote schon an. Das andere trag ich morgen.“

      Der alte Trickser. Glaubte er wirklich, ich ließe mich für dumm verkaufen? Ich öffnete und schloss die Tür, blieb aber im Zimmer. Er setzte seine getönte Brille auf, trat dann von einem Fuß auf den anderen. Ich stand wortlos auf. Er rief nach mir. Ich gab keine Antwort. Er musste glauben, ich sei nicht mehr im Raum. Er ging zum Kleiderschrank. Öffnete die Tür. Sie quietschte. Er wartete einen Moment und lauschte