Ein Land für Kinder?. Heidelore Diekmann

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Название Ein Land für Kinder?
Автор произведения Heidelore Diekmann
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783842283947



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Zeitungsabschnitte gesammelt und befestigte sie mit Magneten an der Tafel.

       Babyleichen in Blumentöpfen gefunden Säugling vom Balkon geworfen Schon wieder ein Kind in Wohnung der Eltern verhungert Säugling vor Babyklappe an Unterkühlung gestorben Säugling auf Tankstellentoilette zurückgelassen

      Die Schüler kannten die Überschriften aus den Zeitungen. Seit 2006 hatte immer wieder eines dieser Ereignisse die Zeitungsseiten gefüllt. Die gefühlvolle Michaela äußerte sich sofort ganz spontan:

      „Was geschieht da eigentlich hier bei uns, sterben wir bald aus, weil es keiner mehr schafft, sich um die Kleinen zu kümmern? Warum lieben diese Eltern ihre Kinder nicht, wie können sie sie so erbärmlich behandeln! Was sind das bloß für Menschen?“

      „Und das Schlimmste ist“, sagte Marie-Sophie, „dass diese Menschen eigentlich ganz normal aussehen, nur irgendwie selbst auch oft etwas kümmerlich und krank.“

      Es entwickelte sich eine aufgeregte Diskussion. Gründe für das Verhalten der Eltern wurden angedacht und nach Maßnahmen gesucht, die diese Katastrophen hätten vermeiden können.

      Alle redeten sich die Köpfe heiß.

      Schließlich griff Herr Steinbrech ordnend ein. Können wir etwas feststellen, was diese Fälle gemeinsam haben?

      „Ja“, antwortete Max ganz spontan, „alle diese kleinen Wesen wurden nicht geliebt, sie waren lästig und unerwünscht.“ Sofort protestierten andere gegen diese Aussage. „Kinder können doch nicht lästig sein!“

      „Aber man muss heute doch kein Kind bekommen, wenn man es nicht will, es gibt doch schließlich Verhütungsmittel“, rief nun auch Sonja in die Klasse. Sofort erhob sich ein Stimmengewirr, und alle redeten durcheinander. Der Pausengong wurde überhört, weil alle auf einmal ihre Meinung äußern wollten. Das Thema interessierte sie.

      „Wisst ihr was, wir nehmen diese furchtbaren Fälle als Anlass, über Erziehung nachzudenken. Schreibt doch bitte einmal auf, wie ihr von euren Eltern erzogen werdet. Wie viel Zeit eure Eltern für euch aufwenden mussten für eure Versorgung und Betreuung als Baby und Kleinkind und welche Regeln und Verhaltensmaßnahmen sie euch mitgaben.“

      Mit diesen Worten schloss Herr Steinbrech die Stunde und ließ eine emotional aufgewühlte Schar zurück.

      Der Auftrag

      Nach der Schule sauste Max gleich mit seinem Fahrrad zum Fabrikgelände. Prüfend schauten seine Augen zu den Grasbüscheln, unter denen die Eisenplatte verborgen war. Er legte eine Kante frei und schob seine Hand unter das Blech. „Es wird langsam Zeit, dass du dich sehen lässt“, hörte er eine Stimme neben sich sagen, und eilig entfernte sich ein Stein mit vielen schwarzen Beinen.

      „Warte, dich kriege ich!“ Schnell flitzte Max hinter dem Spinnenstein her, ergriff ihn und – verschwunden waren die Spinnenbeine, und er hatte nichts als einen Stein in der Hand.

      Nach kurzer Zeit leuchtete wieder das KOMM auf.

      Max steckte den Stein oder was es sein sollte in seine Hosentasche und kehrte zur freigelegten Kante zurück. Er hob sie an und siehe da, sie ließ sich leicht heben.

      Sollte er jetzt hinuntersteigen? Er fühlte fast einen Zwang, es zu tun. Nein, er hatte doch nur probieren wollen, ob sich die Eisenplatte bewegen ließ. Er würde jetzt Marie-Sophie abholen und mit ihr hierher zurückkehren.

      Irgendwie wollte er, dass sie ihn begleitete. Zunächst einmal fuhr er in seine Wohnung, schaute in den Kühlschrank und futterte munter drauflos.

      Während er aß, sah er sich als kleines Kind mit seiner Mutter kuscheln. Wie viel Zeit hatte sie mit ihm verbracht! Allein war er nie gewesen. Wenn sie nicht da war, waren seine Großeltern bei ihm oder Freundinnen seiner Mutter. Mit drei Jahren kam er in den Kindergarten, und die Mutter begann zu arbeiten. Von nun an hatte sie weniger Zeit für ihn, aber lieb hatte sie ihn weiter und oft mit ihm gespielt. Seit einigen Jahren kannte er allerdings schon nichts anderes mehr, als dass sie meistens fort war, zur Arbeit oder unterwegs bei Freunden. Es war eben so!

      An die Hausaufgabe Steinbrechs denkend, schrieb er schnell auf:

      „Als Säugling und Kleinkind bis zu drei Jahren wurde ich rund um die Uhr von meiner Mutter betreut. Sie verbrachte den ganzen Tag mit mir. Es müssen täglich zwölf Stunden gewesen sein. Jetzt mit zwölf Jahren sehe ich meine Mutter vielleicht zwölf Stunden in der Woche, weil sie arbeitet oder eigene Unternehmungen macht. Meine Mutter hat mir vieles beigebracht und auch erklärt, warum ich nett zu anderen Leuten sein sollte, und wenn sie mir etwas verboten hat, musste ich es auch befolgen, sonst wurde sie sehr böse.“

      Der kurze Text musste genügen, denn es wurde Zeit, Marie-Sophie abzuholen.

      Nicht lange danach standen sie gemeinsam vor der Eisenplatte auf dem Fabrikgelände. Die Sonne brach durch das Wolkengrau und ließ die Umrisse aller Gegenstände auf dem Gelände scharf hervortreten. Neugierig war Marie-Sophie ihm gefolgt, obwohl sie nichts von dem, was er erzählte, glauben konnte.

      „Du wirst sehen, ich werde dir eine andere Welt zeigen. Es muss doch eine Bedeutung haben, dass ich dich dort gesehen habe“, sagte Max sich zu Marie-Sophie umwendend. „Folge mir die Treppe hinunter!“

      „Sollte sie da hinuntergehen? Ja, das Ganze war zu spannend!“ Nie wäre sie jetzt auf den Gedanken gekommen umzukehren. Neugierig stieg sie mit Max die Stufen hinunter. Es war alles unbekannt für sie. Auf einem Fabrikgelände war sie noch nie gewesen. Konnte er ihr hier etwas Besonderes zeigen? Sie glaubte es nicht und war trotzdem mitgekommen.

      Spöttisch gelacht hatte sie, als Max sich ein Grasbüschel auf einen Eisenstab gesteckt hatte und gemeint hatte, dass das ihre Lichtquelle auf der dunklen Treppe werden würde. Und wie staunte sie, als das Büschel zu glühen begann und ihren Weg graugrün ausleuchtete. „Sag, mal, hast du heimlich phosphoreszierendes Material besorgt?“

      „Du wirst noch viel Ungewöhnliches sehen, das Gras ist nur das erste.“ Und schon begann um sie herum ein Hüpfen und Poltern. Viele Steine bewegten sich gelb leuchtend die Treppe hinunter bis in die Halle.

      „Na, ihr habt lange auf euch warten lassen“, ertönte Mercuriamams warme Stimme.

      „Na, ich bin reichlich unsanft weggeschickt worden, es zog mich nichts so schnell wieder hierher“, konnte Max noch sagen, und dann versank er wieder in Wärme und Weichem.

      „Wir hatten erkannt, dass du am liebsten bei uns geblieben wärest, und das konnten wir dir zu diesem Zeitpunkt noch nicht erlauben. Deshalb haben wir dich etwas grob in deine Welt zurückbefördert. Ich hoffe, du verzeihst uns, wenn du erfährst, was der Grund hierfür war. Wir brauchen nämlich eure Hilfe. Auch wenn wir alles verfolgen können, was auf der Welt geschieht, können wir nur sehr selten selbst eingreifen. Wie schön, dass du Marie-Sophie mitgebracht hast. Marie-Sophie, herzlich willkommen im Vorzimmer der Großen Erdmutter!“

      Marie-Sophie starrte bewegungslos in das sanfte gelbe Licht, das eine unglaubliche aus- und einladende Person umgab. Sie sah nichts anderes als diese. Ihr Gesicht, das nicht voll ausgeleuchtet war, strahlte große Ruhe aus und wurde von grüngelben, strahlenförmig abstehenden Haaren umrahmt. Ihre ebenfalls grünlichen Augen schauten sie liebevoll an.

      Kaum verstand sie die Worte, die an ihr Ohr drangen. Sie hörte nur eine Stimme, die ihr so melodiös und sanft erschien, dass sie immerfort hätte lauschen können, ohne auch nur begreifen zu wollen, was gesagt wurde. Schritt für Schritt näherte sie sich, wie magisch angezogen, und versank ebenfalls in der warmen und weichen Umarmung von Mercuriamam. Auch sie fühlte sich so glücklich, wie Max sich schon bei seinem ersten Zusammentreffen mit Mercuriamam gefühlt hatte.

      Beide wussten nicht, wie lange sie in diesem Zustand des Wohlfühlens zugebracht hatten, als sie ein Räuspern hörten.

      Sie schauten hoch und erblickten einen langen, dürren Mann mit einem schwarzen Holzkasten unter dem Arm. Von seiner Gestalt war nicht viel zu erkennen, da er ganz dunkel gekleidet war. Graugrün schimmerte sein Gesicht, und seine