Seelensplitter. Mitra Devi

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Название Seelensplitter
Автор произведения Mitra Devi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858825872



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hinführt, ich will dich nicht wieder im Spital besuchen müssen. Versprich mir das. »

      Nora hob bedauernd die Schultern. «Das kann ich nicht. »

      4

      Alruna war zornig. Am Anfang war alles noch gutgegangen, der Unmensch war tot. Sein Kopf war auf dem harten Boden zerschellt, sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Er war der Erste. Weitere würden folgen. Doch dann hatte diese Sekretärin, diese nichtsnutzige Vogelscheuche, eine Frau angeheuert, den Mörder zu finden. Den Mörder! Als wäre Alrunas Tat ein Verbrechen! Eine heilige Handlung war es gewesen. Ein Gebot der Grossen Göttin, die nach Vergeltung lechzte. Nach Blut, nach Menschenopfern. Alruna war ihrem Ruf gefolgt, hatte sie besänftigt. Und jetzt das. Eine Person, die ihre Nase in Dinge steckte, von denen sie nichts verstand, ein Eindringling. Alruna war mehr als zornig. Sie loderte vor Wut.

      Sie kniete in der Erde und konnte ihr Zittern nur schwer unterdrücken. Sie durfte sich nicht in diesen Gefühlen verlieren, musste ihrer Aufgabe treu bleiben. Langsam gelang es ihr, sich zu beruhigen. Ihre Hände gruben sich in den krümeligen Boden des Gartens, fühlten das millionenfache Leben darin. Unzählige kleinste Lebewesen tummelten sich in einer einzigen Handvoll Erde, das wusste sie. Sie konnte sie beinah riechen, sehen, hören. Es waren Wesen, die sich nicht gegen den Lauf der Natur sträubten, gesegnete Wesen, deren Unschuld niemals angetastet würde.

      Alruna betrachtete die Landschaft, die im Abendlicht überirdisch wirkte. Die Sonne war zur Hälfte hinter den Bergen verschwunden, die letzten Strahlen hüllten die Hügel, die Wiesen und ihren Garten in einen goldenen Schein. In gepflegten Reihen wuchsen die magischen Pflanzen. Etwas Unkraut durfte zwischen ihnen gedeihen. Auch Gewächse, die die Menschen wertlos nannten, waren schliesslich Geschöpfe der Natur. Nur hatten sie nicht das Recht, die Zauberkräftigen zu überwuchern. Dieses Jahr waren sie früh dran, der warme März hatte ihr Wachstum beschleunigt.

      Alruna lockerte mit einem Handrechen den Boden rings um eine der Alraunen. Deren dunkelgrüne Blätter hatten sich nach allen Seiten entfaltet, offen und hingebungsvoll. Aus dem Kern in der Mitte sprossen aus den verwelkten Blüten die ersten Beeren. Alruna vergrub ihre Nase tief im feuchten Grün der Pflanze. Sie sog den Duft ein, eine Mischung aus Herbe und Wildheit.

      Inzwischen war die Sonne ganz untergegangen. Der Himmel, durchzogen von weissen Wolkenstreifen, verfärbte sich erst orange, dann rosa. Alruna betrachtete das Schauspiel eine Weile, dann wandte sie sich wieder ihren Alraunen zu. Das Gift war dabei, sich zu sammeln. Am meisten Wirkstoffe waren in den Wurzeln enthalten. Doch auch von den Blättern und Beeren konnte man ernten.

      Mit einem Kännchen goss sie jede Pflanze einzeln, liess sie trinken und sich laben. Vom Dorf her waren entfernte Geräusche zu hören. Die unsäglichen Kirchenglocken, das Gebrumm eines Traktors; einmal flog ein Schwarm Krähen über ihr Haus. Mit den schwarzen Vögeln fühlte sie sich verbunden. Sie sprach mit ihnen. Manchmal antworteten sie. Das war schon immer so gewesen, seit sie denken konnte.

      In ihrer Kindheit hatte sie nur Vögel als Freunde gehabt. Damals war ihr Name noch Lisa gewesen. Als Fünfjährige hatte sie einen Raben aus den Klauen einer Nachbarskatze vor dem sicheren Tod gerettet, ihn gefüttert und gezähmt. Sie hatte ihn Abraxas getauft, nach dem Raben in ihrem Lieblingsbuch. Auf ihren Ruf war er herangeflattert und hatte sich auf ihre ausgestreckte Hand gesetzt. Tag für Tag. Er hatte ihren Blick erwidert, mit schräg geneigtem Kopf ihren Worten gelauscht. Bestimmt hatte er alles verstanden. Irgendwann einmal war er von einem Flug nicht mehr zurückgekehrt. Lisa hatte die ganze Nacht nach ihm gesucht, war über die Felder und durch den Wald gelaufen und hatte nach ihm geschrien. Doch sie hatte Abraxas nie mehr wieder gesehen. Ihr Leben war noch einsamer geworden. Sie fühlte sich allein und verloren, obwohl sie ununterbrochen von Menschen umgeben war. Von ihren Eltern und deren Freunden. Mama und Papa hatte sie nicht zu ihnen sagen dürfen, weil das spiessig klang. Sondern Rebekka und Ronny.

      Die beiden waren selber noch Jugendliche gewesen, als sie Lisa bekamen. Bei einem Openair-Konzert sei sie gezeugt worden, erzählten sie ihr, als sie noch keine Ahnung hatte, was das bedeutete. Mit ihren Freunden, langhaarigen Hippies wie sie, lebten sie in diesem Bauernhaus, arbeiteten nicht wie die Eltern anderer Kinder, sondern schliefen bis in den Mittag. Miteinander und übereinander. Katzen und Hunde hatten sie ein halbes Dutzend, dazu eine Schildkröte, deren harte Kotstückchen man in den Teppich trat. Alle rauchten süsslich stinkende Zigaretten, die sie schläfrig machten. Sie trugen wallende indische Gewänder, auf die runde Spiegelchen genäht waren, und pflanzten Marihuana und Schlafmohn im Garten.

      Manchmal bemalten sie sich gegenseitig ihre Körper, das war lustig, und Lisa durfte mitmachen. Einmal zeichnete sie einen feuerspeienden Drachen auf Ronnys Rücken. Er lobte sie wegen ihres kreativen Talents und nannte sie «meine kleine Künstlerin». Dann begann er kichernd, die Brüste einer Frau zu bemalen. Erst grundierte er sie von aussen nach innen grellgrün, dann umrundete er ihre Brustwarzen mit roten Kreisen, zog den Pinsel langsam und nachdrücklich immer enger, bis sie vor Entzücken quietschte und mit ihm im Nebenzimmer verschwand. Rebekka warf den beiden einen kurzen verärgerten Blick zu, dann folgte sie ihnen. Bald darauf waren aus dem Zimmer Gelächter, Stöhnen und begeisterte Schreie zu hören. Lisa blieb in der Stube zurück, mit zwei Männern, die mit halbgeschlossenen Augenlidern an einer Wasserpfeife nuckelten und ihre Köpfe zur Musik bewegten.

      Am Abend gaben ihr Ronny und Rebekka zum erstenmal Haschbiskuits und Opiumplätzchen zu essen. Die Wirkung trat erst nach einer Weile ein, dafür mit voller Wucht. Plötzlich, während die Rockmusik aus den Boxen dröhnte, riss es Lisa den Boden unter den Füssen weg. Sie fiel in eine Geisterwelt. Bleiche Gestalten griffen mit blutleeren Fingern nach ihr. Lisa wollte sie abschütteln, da hörte sie die Stimmen zum erstenmal. Fistelstimmen, die ihr grausige Dinge zuflüsterten. Sie konnte nicht sprechen, alles in ihr war erstarrt. Niemand nahm es wahr. Das Zimmer verschwamm vor ihren Augen, sie bekam keine Luft mehr. Die Lampe drehte sich, die Wände verzogen sich in grellen Mustern, die Gitarrentöne von Jimi Hendrix drangen wie Tentakel eines Tintenfischs in Lisas Ohren. Sie wollte sie zuhalten, aber ihre Arme liessen sich nicht bewegen. Minuten vergingen. Oder Stunden. Lisa wusste es nicht.

      Endlich konnte sie schreien, doch die Gesichter ihrer Eltern waren zu dümmlichen Grimassen verzerrt. Ronny und Rebekka boten Lisa noch mehr von dem Zeug an. Lisa wollte nicht. Sie rannte aus dem Haus, in die nächtliche Dunkelheit. Die Gespenster folgten ihr. Packten sie, schlüpften durch ihren Mund in ihren Körper, ihre Seele, ihr Herz. Nisteten sich in ihrem Innern ein. Seitdem hörte sie die Stimmen immer wieder in ihrem Kopf, spürte die krötenkalten fremden Wesen in sich.

      Wo sie in jener Nacht geschlafen hatte, wusste sie nicht. Am Morgen brachte eine Nachbarin sie zu ihren Eltern zurück. Die hatten ihre Abwesenheit gar nicht bemerkt. Noch immer lief Musik. Rolling Stones. Der dumpfe Bass liess den Raum erbeben. Ronny und Rebekka dösten am Boden. Die Frau mit den bemalten Brüsten lag daneben, die rote und grüne Farbe bis zum Bauchnabel verschmiert. Ihre Atembewegungen waren zu sehen. Auf und ab, auf und ab. Lisa schaute ihnen lange zu und fühlte eine klaffende Leere in sich. Janis Joplin krächzte ein Lied, die Töne wehten über die schlafenden Körper. Dann sang Jim Morrison. Lisa kannte die Musiker. Es waren die toten Helden ihrer Eltern.

      «Tot», wisperte es in Alrunas Kopf, als sie wieder in der Gegenwart ankam. Noch immer kniete sie in der Erde, die Hände zwischen den Alraunen. «Tot. »

      Die Abenddämmerung war einem bedrohlichen Dunkelviolett gewichen. Die Berge, düstere Giganten in der Ferne, waren nur noch undeutlich zu erkennen. Einsam fühlte sie sich, so einsam. Sie meinte, den Flügelschlag von Abraxas zu hören. Doch es war nur eine ganz gewöhnliche Krähe, die sich auf der Eiche neben dem Haus niedergelassen hatte. Alruna blieb lange so sitzen. Lauschte dem Rascheln der Blätter. Spürte die kühle Brise, die über die Gräser strich. Der Anflug von Trauer, die sie vorhin heimgesucht hatte, machte einer Entschlossenheit Platz. Ihre Mission war noch nicht beendet. In weniger als einem Monat würde sie 27 Jahre alt werden. Bis dann musste es vollbracht sein.

      Alruna hob den Kopf und blickte nach vorn. Die letzten hellen Streifen am Firmament waren verschwunden. Der Himmel war schwarz.

      Nora ging im Bus Sarah Doblers Liste der «Store & Go»-Mitarbeiter nochmals durch. Dank der ausführlichen