Seelensplitter. Mitra Devi

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Название Seelensplitter
Автор произведения Mitra Devi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858825872



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Reaktion.

      «Gregor. Bitte. Es zappelt fast noch. »

      Er drehte sich zur Wand und zeigte ihr sein Hinterteil. Sie seufzte. Neiderfüllt dachte sie an einen Kollegen, der sich zwei Echsen hielt und ihr triumphierend geschildert hatte, wie anhänglich und schmusebedürftig diese seien. Sie legte das Insekt neben Gregors Kletterwurzel und füllte den Trog mit frischem Wasser. Dann ging sie wieder hinunter ins Büro. Jan hatte seine Liebesbotschaft inzwischen versandt.

      Nora schaute auf die Uhr. Vielleicht hatte sie Glück und erreichte Mike. Kurzentschlossen rief sie ihren ehemaligen Kripo-Kollegen an. Tatsächlich nahm er nach dem zweiten Läuten ab.

      «Salzmann, kannst du eine halbe Stunde für mich entbehren?»

      Mike polterte am anderen Ende: «Tabani! Hättest du unseren werten Verein vor einem Jahr nicht verlassen, sässest du direkt an der Quelle. Steckst du wieder in Schwierigkeiten?»

      «Ganz und gar nicht», gab sie zurück. «Mich hat nur ein unwiderstehliches Bedürfnis gepackt, dich wieder einmal zu sehen. »

      «Natürlich. Und die Erde ist eine Scheibe. Was willst du diesmal aus mir rausquetschen?»

      Hinter seiner rauhen Art schimmerte eine Fürsorge durch, die Nora vom ersten Tag an gespürt hatte, nachdem ihr Vater getötet worden war. Carlo und er waren mehr als Polizeipartner gewesen, sie waren auch privat durch dick und dünn gegangen. Mit ihren Familien zusammen hatten sie Wanderungen unternommen und die Skiferien verbracht, so dass Nora ihn irgendwann Onkel Mike nannte. Davon wollte er allerdings nichts wissen und behauptete, es würde ihn schlagartig um Jahrzehnte altern lassen.

      «Kowalski», sagte sie nur.

      Mike schnaubte. «War ein Unfall, hättest du sogar in der Zeitung lesen können. »

      «Ich habe etwas anderes gehört. Treffen wir uns im ‹Clipper›?»

      «In Ordnung, Tabani. Aber du schuldest mir was. »

      Das sagte er jedesmal, verhielt sich jedoch seit Jahren so, als sei er ihr etwas schuldig. Nora wusste, dass er sich für Carlos Tod verantwortlich fühlte. Und dass er seine kaputte Kniescheibe als gerechte Strafe für sein Versagen betrachtete. Irgendetwas war damals am Tatort geschehen, über das er niemals sprach, das ihm aber das Leben schwer machte.

      «Wir sehen uns», sagte Nora.

      Nachdem sie aufgelegt hatte, meinte sie zu Jan: «Finde so viel wie möglich über die Firma ‹Store & Go› heraus. Jahresberichte, Schulden, Umsätze. Wer sie gründete, wer welche Lagerräume mietet. Geh die einzelnen Personen auf Sarah Doblers Liste durch. »

      «Okay. »

      Nora zog ihre Lederjacke an und verliess das Büro. Ein warmer Wind blies durch die Seefeldstrasse. Zwei junge Mütter schoben ihre Kinderwagen vor sich her. Es roch nebst Autoabgasen ganz leicht nach den Blüten eines Baumes. Nora versuchte, den Duft zu erkennen, doch er war zu schwach. Jetzt, wo die Bauarbeiten endlich beendet waren, war es fast idyllisch in diesem Stadtteil. Der Lärm und der Dreck der letzten Monate waren unerträglich gewesen. Die Läden, die während des Ratterns, Knatterns, Bohrens und Asphaltierens über finanzielle Einbussen geklagt hatten, kamen Nora frisch herausgeputzt vor. Zumindest entstaubt. Der Stadtkreis 8 war vor vielen Jahren Teil des Strassenstrichs gewesen, hatte sich kurzfristig in ein Trendquartier für Künstler und Alternative verwandelt, um vor ein paar Jahren immer mehr zu einer Hochburg für Gutbetuchte zu werden. Junge Familien mit Kindern zogen weg, weil sie die horrenden Mieten nicht mehr bezahlen konnten. Die ehemals lockere Durchmischung von Einheimischen und Zugewanderten, Jung und Alt, Spiessern und Ausgeflippten machte einem von Geld dominierten Einheitsbrei Platz. Noras Haus war inzwischen eines der wenigen unrenovierten, das wie ein Bastard in der Reihe der teuren Gebäude stand. Immer mehr Alteingesessenen wurde gekündigt, die Wohnungen wurden danach aufwendig umgebaut und für das Doppelte vermietet. Seefeldisierung wurde das Phänomen bereits genannt und inzwischen sogar für andere Quartiere verwendet, denen Ähnliches drohte.

      Nora war bis jetzt noch nicht davon betroffen. Für die tiefe Miete musste sie einen tropfenden Wasserhahn in der Küche und undichte Fenster hinnehmen. Und einen Boiler im Bad, der gerade mal für eine dreiminütige warme Dusche reichte. Nach ihrem Einzug war sie mehrmals mitten in der Haarwäsche von eiskaltem Wasser überrascht worden. Sie hatte sich darauf eingestellt und hoffte, die Immobiliengeier würden ihr Haus noch lange verschonen.

      Nora überquerte die Strasse und erwischte gerade noch ein 2er-Tram. Sie setzte sich, nahm eine der herumliegenden Gratiszeitungen und blätterte sie durch. Nichts über einen Unfall. Vielleicht war in den letzten Tagen darüber berichtet worden, und sie hatte es verpasst. Sie fuhr am Bellevue und am Paradeplatz vorbei und stieg an der Station «Sihlstrasse» aus. Den Rest ging sie zu Fuss.

      Mike sass an seinem gewohnten Tisch vor einem Glas alkoholfreiem Bier und winkte ihr, als er sie entdeckte. Seine Löwenmähne leuchtete silbergrau, sein Schnurrbart war zu Kringeln gezwirbelt. Er stand auf – er überragte sie um Haupteslänge – und schlug ihr zur Begrüssung herzhaft auf die Schulter. «Schön, dich zu sehen, Tabani!», dröhnte er. «Auch wenn ich weiss, dass dein Interesse nicht dem alten Mike gilt, sondern den Informationen, die du ihm gleich entlocken wirst. »

      Nora versuchte, sich zu verteidigen, kam aber nicht zu Wort.

      Kaum hatten sie sich gesetzt, legte er los: «Also? Was hast du mit Kowalski am Hut?»

      Die Bedienung kam, und Nora bestellte den vierten Kaffee heute. «Seine Chefsekretärin hat mich gerade aufgesucht. Sie glaubt, er wurde umgebracht. »

      «Unmöglich», gab er zurück. «Die Autopsie lässt keine Zweifel zu. Schädelbruch, sofort tot. Von seinem Gesicht war nicht mehr allzu viel übrig. Er stürzte kopfvoran aufs Trottoir. »

      «Das würde passen», sagte sie.

      «Wozu?»

      «Meine Auftraggeberin erzählte mir, Kowalski habe das Gefühl gehabt, fliegen zu können. »

      «Das macht aus dem Ganzen noch keinem Mord», meinte Mike.

      Die Kellnerin stellte eine Tasse vor Nora hin, und sie nahm einen Schluck Kaffee.

      «Wie sieht’s mit Alkohol im Blut aus?», fragte sie weiter. «Haben die Rechtsmediziner den Schnelltest trotz der klaren Todesursache vorgenommen?»

      Mike zog seine buschigen Augenbrauen zusammen, so dass er aussah wie ein grimmiger Kosak. «Du weisst, dass wir uns jetzt den Bereichen nähern, über die ich dir keine Auskunft mehr geben darf. »

      «Klar, Onkel Mike», feixte sie. «Ich könnte auch direkt das Institut für Rechtsmedizin anrufen. Ich habe einen ausgezeichneten Kontakt zur Präparatorin. Wir gehen oft zusammen joggen. »

      «Du bist eine Landplage, Tabani», knurrte er, betrachtete sie aber mit väterlichem Blick.

      «So sind Detektivinnen. Wenn sie nett sind, erfahren sie nichts. Also, was ist mit Kowalskis Blut?»

      «Ich sehe so viel von Carlo in dir», sagte er mit unerwartet leiser Stimme. «Deine Zielstrebigkeit, deine Hartnäckigkeit. Er wäre stolz auf dich und würde sich gleichzeitig masslos über dich ärgern. »

      Sie lächelte.

      Dann beantwortete er ihre Frage: «Der Schnelltest ergab nur für eine Substanz ein positives Ergebnis. »

      «Alkohol. »

      «Genau. Alles andere – Cannabis, Kokain, Benzodiazepine, Methadon und so weiter – war negativ. »

      «Wie viel Promille hatte er intus?»

      «Viel», sagte Mike. «Ich weiss es nicht auswendig, da es für uns keine Rolle spielte. Er starb nicht an einer Alkoholvergiftung, sondern an der Kopfverletzung. Glaub mir, deine Zeit kannst du besser nutzen. Ich habe niemals einen so eindeutigen Fall gehabt. »

      «Wir werden sehen. » Sie stand auf und schob den Stuhl zurück. «Danke, Salzmann. Ich hab mich gefreut, dich zu sehen. »

      «Ganz