Название | Revolutionäre Aufbrüche und intellektuelle Sehnsüchte |
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Автор произведения | Alexander Gallus |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783863935788 |
Diese Erwartungshaltungen sollen anhand einiger Beispiele illustriert werden: Ein „Vernunftrepublikaner“ wie Friedrich Meinecke forderte Mitte März 1919 eine „starke, straffe und einheitliche Zentralgewalt“ zur Rettung vor der „Diktatur des Proletariats“.98 Der Heidelberger Mediävist Karl Hampe, der der Monarchie nachtrauerte, sich aber fortan Stück für Stück mit der Republik arrangieren sollte, hielt es am 25. Dezember 1918 für den gravierenden Fehler der regierenden Sozialdemokratie, vor dem Einsatz physischer Zwangsgewalt im Innern zurückzuschrecken. Kurz nach Ausbruch der Weihnachtskämpfe kennzeichnete er diese Haltung als „Humanitätsdusel“, der „geradezu zum Verbrechen“ werde, „weil er bewirkt, daß Aufruhr, der anfangs mit wenig Blut erstickt werden könnte, lawinenartig wächst und schließlich ganze Ströme fordert“.99 Das rigorose Handeln seitens der Regierung in den Januarkämpfen begrüßte er und hoffte Anfang Februar 1919, dass sie „rücksichtslos durchgreifend“ bleibe.100
Der mit der Republik sympathisierende Ernst Troeltsch beobachtete im April 1919, dass sich viele Zeitgenossen ein resoluteres Vorgehen der Sozialdemokratie zur Wiederherstellung und Sicherung der Staatsgewalt wünschten. Die von ihm diagnostizierte Gewalt-Skepsis der MSPD wertete er als „Schlappheit“ und „mangelnde nationale Gesinnung“.101 Noch im Februar 1920 war Troeltsch voll des Lobes für Gustav Noske: „Regierung bedeutet Ordnung und Recht überhaupt. Daß beides wieder gewonnen worden ist, das ist das immerhin nicht zu verachtende Werk des Parlaments und Noskes. Noske, der die Furchtlosigkeit eines nie versagenden Tierbändigers an sich hat, ist der Retter des Deutschen Reiches.“102 In dieselbe Richtung weisen Notizen von Troeltschs DDP-Parteifreund Theodor Wolff. Der liberale Journalist bemerkte im Februar 1919 anerkennend, wie sehr sich Noske „gegen die Unruhestörer“ und „in der Berührung mit den harten Tatsachen“ entwickelt habe – wenngleich bisweilen etwas „merkwürdig“.103 Auch ein späterer Historiker wie Rüdiger Bergien konnte „Noskes Politik“ insofern etwas abgewinnen, als sie klar signalisierte, „dass auch Sozialdemokraten fähig waren, Sicherheit herzustellen und damit den Erwartungen gerecht zu werden, die sich traditionell an die Inhaber der Regierungsgewalt richteten“.104 Es waren solche mit großer Skepsis gegenüber der sozialdemokratischen Regierungsfähigkeit gepaarte Erwartungen, die im bürgerlich-liberalen Spektrum dominierten.
Dieses Wechselspiel aus Erwartung und Erfahrung sorgte für eine durchaus fragile Konstellation. So notierte Theodor Wolff schon rund einen Monat nach seinem Noske-Lob – Mitte März 1919 – ebenfalls, dass sich „auch in der nicht-radikalen Bevölkerung vielfach Mißstimmung über das Auftreten u. Verfahren eines Teils der Freiwilligen-Offiziere“ breitmache. Denn diese Militärs würden „schon wieder die alten Manieren annehmen“.105 Darin deutete sich zusammengenommen eine differenzierte, von Ambivalenzen durchzogene Haltung zur Gewalt an. Vergleichbare Positionen finden sich auch beim „roten Grafen“ Kessler106 oder bei der eindeutig linken, nach Parteiaffinität aber nicht leicht einzusortierenden Käthe Kollwitz. Anfang des Jahres 1919 tat Harry Graf Kessler sein Unbehagen gegenüber einer ganz ohnmächtigen Staatsgewalt kund. Es schien ihm, als seien „die Zeiten des Faustrechts zurück“.107 Noch Mitte Januar 1919 fürchtete er eine „Entwicklung wie in Rußland“ und sogar ein „Verduften des Staates“.108 Zugleich erkannte er in der „Verbrüderung mit der Gewalt“ die Entwertung eines genuin politischen Denkens und Handelns.109 Nun machte er eine „leichtsinnig und frech mit dem Leben ihrer Mitbürger spielende Regierung“ dafür verantwortlich, „einen in Jahrzehnten nicht wieder zu heilenden Riß in das deutsche Volk gebracht“ zu haben.110
Kollwitz schließlich notierte an der Jahreswende 1918/19 zunächst erleichtert, dass bei allen Widrigkeiten und Kämpfen endlich kein Krieg mehr sei. „Der entsetzliche, immer unerträglichere Kriegsdruck ist fort und das Atmen ist wieder leichter. Daß wir damit gleich gute Zeiten bekämen, glaubte kein Mensch, aber der enge Schacht in dem wir staken, in dem wir uns nicht rühren konnten, ist durchkrochen, wir sehen Licht und atmen Luft.“111 Was die Kämpfe zwischen mehrheitssozialdemokratischer Regierung und Spartakus betraf, zeigte sie sich zwiegespalten. Bei aller Sympathie für den linken Radikalismus war sie mit der Zurückdrängung der Spartakus-Anhänger doch einverstanden. Für so notwendig sie ein solches Vorgehen grundsätzlich hielt, nannte sie die „rohe Gewaltanwendung“ gleichwohl „entsetzlich“. Sie brachte Verständnis für den Ruf nach dem Militär auf, fürchtete im selben Atemzug aber, dass dies der Beginn einer marschierenden „Reaktion“ sein könnte.112
Diese Stimmen vermitteln einen Eindruck davon, wie komplex und ambivalent das Gewalthandeln während des „langen Novembers“ der Revolution in bürgerlich-intellektuellen, vorwiegend linksliberalen Kreisen bewertet wurde, als wie notwendig und fragwürdig zugleich es erschien. Es wäre angesichts dieser Stimmen irreführend, selbst das ausdrückliche Lob für Noske als Zeichen von kruder Gewaltverherrlichung zu interpretieren. Dies würde das vorrangige Anliegen dieser liberalbürgerlichen Zeitzeugen verkennen: nämlich die staatliche Ordnung und das Gewaltmonopol wiederherzustellen. Insofern sind diese Quellen nicht als Ursprung und Akzeptanz extralegaler und illegitimer Gewalteinsätze zu werten, wie sie später unter den Nationalsozialisten zur Regel werden sollten. Im Gegenteil: Die Äußerungen zielten auf die Legalisierung und Konzentrierung der Gewalt, sie spiegeln ein Bedürfnis nach bürgerlicher Sekurität.
4. Interregionale und transnationale Vergleichsüberlegungen
Ein weiterer Kritikpunkt gegenüber der These, es habe sich bei der Novemberrevolution um einen Wendepunkt der Gewalt gehandelt, ergibt sich aus dem interregionalen und transnationalen Vergleich. Im Kern orientieren sich die gewaltgeschichtlichen Studien zur Revolutionszeit an den Szenarien in Berlin und München, darüber hinaus auch an den Industrieregionen in Mitteldeutschland und im Ruhrgebiet. Aus vergleichend regionalgeschichtlicher Sicht besteht noch großer Forschungsbedarf.113
Insbesondere Dirk Schumanns Habilitationsschrift Politische Gewalt in der Weimarer Republik setzte in dieser Hinsicht schon im Jahr 2001 einen wichtigen Markstein.114 Seine Studie ist insgesamt ein Beleg für die Militarisierung und Gewaltaffinität der politischen Kultur Weimars, und doch argumentierte Schumann insofern in eine ähnliche Richtung wie später Bergien und Keller, als er quellengestützte Befunde zu einem insgesamt „maßvollen Verhalten des Landesjägerkorps, der Einwohnerwehren, der Reichswehr und der Schutzpolizei zwischen 1919 und 1921“ zusammentrug.115 Damit wies er auch die häufig den Einwohnerwehren „zugeschriebene Schlüsselrolle“ zurück, „weite Teile des Bürgertums an die Anwendung auch extralegaler Gewalt gegen die Linke“ gewöhnt zu haben.116 Schumanns empirische Analyse stützte sich vorrangig auf Material mit Aussagekraft für die preußische Provinz Sachsen, die von weniger politischer Gewalt als Berlin, München oder das Ruhrgebiet geprägt war. Diese Vergleichskonstellation sensibilisiert zugleich dafür, nicht leichtfertig einen Teil (eine regionale Ausprägung) für das Ganze (das gesamte Deutsche Reich) zu nehmen.
Schumann strich zudem heraus, dass für die Gräueltaten Anfang der 1920er Jahre vor allem zurückgekehrte ehemalige Baltikumkämpfer die Verantwortung trugen.117 Es ist unstrittig, dass es am Ende des Ersten Weltkriegs in den Randbereichen der alten Reiche der Hohenzollern, Habsburger und Romanovs – beispielsweise im Baltikum – zu besonders vielen und besonders heftigen Gewaltexzessen kam. Staatliche Kontrolle und das Gewaltmonopol existierten dort kaum noch, multi-ethnisches Zusammenleben, das zu imperialer Zeit durchaus funktionierte, galt nunmehr als Bedrohung. Nationale „Reinheit“ kam gleichsam als Kehrseite des Drangs nach „Selbstbestimmung“ und als düster in die Zukunft weisende Losung auf.118