Название | Revolutionäre Aufbrüche und intellektuelle Sehnsüchte |
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Автор произведения | Alexander Gallus |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783863935788 |
Bis in den Sommer 1919 konnte im Übrigen keineswegs von einem eigenmächtigen „gegenrevolutionären“ Agieren der verschiedenen militärischen Formationen gesprochen werden, standen diese doch „in einem zumindest formalen Loyalitätsverhältnis zur neuen Regierung“.78 Ebert und Scheidemann strebten demzufolge ganz bewusst und „mit aller Kraft nach dem Gewaltmonopol“ und einer zum Selbstschutz befähigten „wehrhaften“ Republik. Ihr Handeln sei auf eine bewusste Entscheidung zurückzuführen und keineswegs mit Überforderung, einem bloßen Drang nach Machterhalt oder gar einem reaktionären Machtstreben zu erklären.79 Diese Politik einer Kombination von starkem Staat und Republikschutz habe mindestens anfänglich Erfolge erzielt und zugleich ein gesellschaftliches Integrationsangebot „bis in das nationale Lager hinein“ eröffnet.80 Darin sei auch der Versuch zu erkennen gewesen, die nach innen wie außen gerichtete sicherheitspolitische Verlässlichkeit der Sozialdemokratie in einer „bellizistisch“ gestimmten Gesellschaft zu unterstreichen und den Vorwürfen der „Wehrfeindlichkeit“ oder gar des „Landesverrats“ zu begegnen.81
Das Scheitern des republikanischen Wehr- oder Sicherheitskonsenses – angetrieben von Versailles-Trauma, Dolchstoßlegende und Kapp-Putsch – war nicht von vornherein festgelegt. Es wäre „eine andere Entwicklung möglich gewesen“, so lautet die Quintessenz von Peter Kellers Forschung.82 Auch er zeichnet ein differenziertes Bild militärisch-politischer Kooperation während der Transformationsperiode 1918/19 und hebt hervor, wie sehr „prinzipiell die Möglichkeit“ zu einem „dauerhaften Zweckbündnis“ bestanden habe.83 Die Chance auf alternative historische Verläufe verdeutlicht er anhand von drei unterschiedlichen Idealtypen damals agierender militärischer Führungsgruppen – pragmatisch-technokratisch, verfassungsloyal-attentistisch, restaurativ-militaristisch84 – und dem vielschichtigen Charakter der zum Einsatz gelangten militärischen Verbände. „Formationen, deren Führung tatsächlich in den Kategorien einer […] entgrenzten Kriegführung dachten, standen auch 1918/19 noch immer Befehlshaber gegenüber, die ihre Truppe gezielt zur Mäßigung aufriefen, ja tendenziell ein unblutiges Vorgehen bevorzugten.“85 Momente der Deeskalation ebenso wie der bewusste Einsatz lediglich symbolischer Gewalt während der Kämpfe im Jahr 1919 würden häufig nur unzureichend gewürdigt.86
Keller kritisiert außerdem das ebenso dominante wie simplifizierende Bild von den Soldaten der Freikorps als ausnahmslos brutalen, vor sich hinmetzelnden, regellosen, rechtsradikalen und republikfeindlichen Gewaltmenschen. Pikanterweise habe sich in der Historiografie eine Sicht verfestigt, die vielfach auf den Überzeichnungen und Selbstheroisierungen der während der NS-Zeit entstandenen Freikorpsliteratur beruhe. Der Sammelbegriff „Freikorps“ sei in typologisch-analytischer Perspektive verfehlt, es erscheine angebrachter von „Regierungstruppen“ oder zumindest „militärischen Notbehelfen“ zu sprechen, da sie, in organisationsgeschichtlicher Hinsicht, eher regulär und geordnet gebildet worden seien und nicht dem Bild „paramilitärischer Freischärler“ entsprochen hätten (die es freilich auch gab, aber nicht nur und nicht mehrheitlich – so Keller).87 Der „staatliche Faktor bei Aufstellung und Einsatz der Formationen“ sei hoch gewesen, wenngleich Keller ebenfalls deren Unübersichtlichkeit im Frühjahr 1919 betont.88 Auch Bergien begegnet der These von der Unterlegenheit und dem hilflosen Getrieben- und Ausgeliefertsein der zivilen politischen Kräfte gegenüber dem Militär reserviert, würde dies doch „jene Mobilisierungen“ ausblenden, „die nicht ohne oder gar: gegen, sondern mit und durch die republikanischen Regierungen stattfanden“ – insbesondere die Einwohnerwehren. Hierin sei weniger ein reaktionäres als ein republikanisches Projekt erkennbar gewesen.89
3. Zeitgenössische Wahrnehmung und Würdigung von Gewalt im liberal-bürgerlichen Spektrum
Es ist eine Stärke von Mark Jones’ Revolutionsgeschichte der Gewalt, viele Zeitgenossen zu Wort kommen zu lassen: von Ernst Troeltsch und Theodor Wolff über Harry Graf Kessler bis zu den Historikern Karl Hampe und Gustav Mayer. Diese Kronzeugen werden jedoch meist so zitiert, dass ihre Beobachtungen zu jenem „Crescendo der Gewalt“ passen, von dem Jones ausdrücklich spricht und das eine ständig ansteigende Gewaltdynamik suggeriert.90
An einer Stelle kommt indes auch bei Jones eine andersgeartete Episode zur Sprache: ein Spaziergang Ernst Troeltschs im Berliner Grunewald, den er auf Anraten seiner besorgten Frau nur mit einem Revolver bewaffnet wagen sollte. Einigermaßen verblüfft stellte Troeltsch im Nachhinein fest, wie überflüssig dies angesichts der friedlichen Stimmung gewesen sei. Einen Monat nach den Januarunruhen wunderte er sich erneut, wie unbeeindruckt das Berliner Großstadtleben trotz aller Gräuel und Gewehrsalven weiterlief. „Musiker und Histrionen bieten sich an allen Plakatsäulen in Massen an“, notierte er in einem seiner berühmten Spectator-Briefe, „die Theater spielen weiter und versammeln ihr an Gewehrschüssen vorbeieilendes Publikum in gewohnter Masse, vor allem wird, wo irgend möglich, getanzt – ohne Rücksicht auf die Kohlen- und Lichtnot“.91
Am 17. Januar 1919, erst zwei Tage nach dem Luxemburg-Liebknecht-Mord, hielt Harry Graf Kessler nach einem Kabarett-Besuch Vergleichbares in seinem Tagebuch fest: „Rassige spanische Tänzerin. In ihre Nummer krachte ein Schuß hinein. Niemand achtete darauf. Geringer Eindruck der Revolution auf das großstädtische Leben. Dieses Leben ist so elementar, daß selbst eine weltgeschichtliche Revolution wie die jetzige wesentliche Störungen darin nicht verursacht. Das Babylonische, unermeßlich Tiefe, Chaotische und Gewaltige von Berlin ist mir erst durch die Revolution klargeworden, als sich zeigte, daß diese ungeheure Bewegung in dem noch viel ungeheureren Hin und Her von Berlin nur kleine örtliche Störungen verursachte, wie wenn ein Elefant einen Stich mit einem Taschenmesser bekommt. Er schüttelt sich, aber schreitet weiter, als ob nichts geschehen wäre.“92
Diese Erfahrungsgeschichte der Beruhigung und des Gleichmuts tritt bei Jones ganz hinter die Nervosität und Hypersensibilität der Zeit zurück, so als ob – zumindest im Geiste einer ganzen Bevölkerung – der Finger stets am Abzug gewesen wäre. Dazu passt die Rede von einer „Nachkriegsgeschichte des Maschinengewehrs“.93 Es gilt, gegen diese Deutung stärker die Paradoxien der zeitgenössischen Wahrnehmung zu erfassen, die sich aus den Eindrücken von alltagsweltlicher Normalität einerseits und aus außergewöhnlichen Taten politischer Gewalt andererseits speisten. Aber auch jenseits solcher ebenso kontingent wie bisweilen bizarr erscheinender Konstellationen ließe sich der These einer Radikalisierung der politischen Kultur im Zeichen von Bolschewismusfurcht und ostentativ eingesetzter militärischer Gewalt jene einer gezielten Mäßigung entgegenhalten. Politisch beruhte sie auf dem innerlinken Schisma zwischen moderaten und extremen Kräften ebenso wie auf einer bürgerlich-sozialdemokratischen Übereinkunft und dem Bemühen, vielfältige Ideen zur weiteren Ausgestaltung der liberalen und sozialen Demokratie zu integrieren.94
Gleichwohl steht fest: Die von Noske implementierte Regierungsgewalt verstärkte die Spaltung der Linken massiv. Clara Zetkin wies im Januar 1920 den Mehrheitssozialdemokraten die alleinige Schuld für den „breiten Blutstrom“ während der Kämpfe des Vorjahres zu. Dies sei ein Blutstrom, der fortan „nicht überbrückt werden“ könne.95 Wer sich ganz auf die Geschichte der Arbeiterbewegung kapriziert, wird dieser zeitgenössischen Einschätzung einiges abgewinnen können. Wer den milieufixierten Blick indes weitet, wird nicht nur das blutige Fanal des Luxemburg-Liebknecht-Mordes vom 15. Januar, sondern auch das Ergebnis der Wahlen zur Nationalversammlung vom 19. Januar 1919 zu würdigen haben. Bei diesen Wahlen, an denen erstmals in der deutschen Geschichte Frauen wählen und gewählt werden durften, errang die MSPD 37,9 Prozent der Stimmen vor dem Zentrum mit 19,7 und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) mit 18,5 Prozent. Mit einer Dreiviertelmehrheit begründeten diese drei Parteien bekanntlich die sogenannte Weimarer Koalition. Schon die Regierungsbildung unterstrich den Grundcharakter der Republikgründung: Sie war ein Basiskonsens zwischen gemäßigtsozialdemokratischen und liberal-bürgerlichen Kräften.
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