Staatsrecht III. Hans-Georg Dederer

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Название Staatsrecht III
Автор произведения Hans-Georg Dederer
Жанр Языкознание
Серия Schwerpunkte Pflichtfach
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783811492813



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des absoluten Vorrangs dann nicht bestehe, wenn dies zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen führe. Konkret stellte er auf das Bestimmtheitsgebot und auf das strafrechtliche Rückwirkungsverbot ab, beides wichtige Rechtsgrundsätze sowohl im nationalen wie im unionalen Bereich (vgl Art. 49 Abs. 1 GRC), denen grundlegende Bedeutung zukomme (EuGH, Rs C-42/17, M.A.S. und M.B., ECLI:EU:C:2017:936, Randnrn 29 ff).

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      Wie weit diese neue Vorrangrechtsprechung geht und ob sie insbesondere über den strafrechtlichen Bereich hinausgeht, ist allerdings noch nicht ausreichend geklärt. Diese neueste Wendung der Rechtsprechung des EuGH könnte sich so deuten lassen, dass der Vorrang des Unionsrechts mit Rücksicht auf grundlegende Verfassungsstrukturen eines Mitgliedstaates zumindest dann nicht durchgreift, wenn jene Strukturelemente zugleich in der Unionsrechtsordnung selbst als Fundamentalregeln anerkannt sind. Denn dann lässt sich argumentieren, dass in Wahrheit schon kein Normkonflikt zwischen (materiellem) Unionsrecht und (materiellem) nationalem Recht vorliegt (so auch die „Grundannahme“ des italienischen Verfassungsgerichtshofs, EuGRZ 2018, S. 685 ff, 692).

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      Der Anwendungsvorrang gilt nach der Rechtsprechung des EuGH nicht nur gegenüber generell-abstrakten Normen, wie Gesetzen, sondern uU auch gegenüber individuell-konkreten Akten, wie Verwaltungsakten, die bereits bestandskräftig geworden sind.

      Beispiel:

      § 4 Abs. 1 S. 1 des Landschaftsschutzgesetzes des österreichischen Bundeslandes Vorarlberg sieht vor, dass im Bereich von Seen und eines daran anschließenden 500 m breiten Uferstreifens, gerechnet bei mittlerem Wasserstand, jegliche Veränderung in der Landschaft verboten ist.

      Nach § 4 Abs. 2 kann die Behörde unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen von der Vorschrift des Absatzes 1 bewilligen.

      Die ABC-Charter Gesellschaft mbH pachtete im Uferbereich des Bodensees gelegene Grundstücke, auf denen sie im Jahr 1990 200 Bootsliegeplätze errichten durfte. Durch Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Bregenz wurde bestimmt, dass davon maximal 60 Boote, deren Eigner ihren Wohnsitz im Ausland haben, im Hafen untergebracht werden dürfen. Als dieses Kontingent nach dem Beitritt Österreichs zur EU im Jahr 1995 um zwei Liegeplätze überschritten wurde, wurden über Herrn Ciola, den Geschäftsführer der Gesellschaft, gestützt auf eine Sanktionsbestimmung im Genehmigungsbescheid zwei Geldstrafen von jeweils 75 000 ÖS verhängt. Der mit der Angelegenheit befasste Verwaltungsgerichtshof fragte den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 177 EWGV (jetzt Art. 267 AEUV), ob die Dienstleistungsfreiheit dahingehend auszulegen sei, dass eine derartige Kontingentierung mit Strafandrohung verboten sei. Der EuGH bejahte dies. Zur weiteren Frage des Verwaltungsgerichtshofs, ob man sich gegenüber einem Bescheid auch dann noch auf die Dienstleistungsfreiheit berufen könne, wenn dieser bestandskräftig geworden ist, führte der EuGH ua Folgendes aus (EuGH, Rs. C-224/97, Ciola/Land Vorarlberg, Slg. 1999, S. I-2517 ff):

      „(25) Vorab ist … festzustellen, daß der Rechtsstreit nicht das rechtliche Schicksal des Verwaltungsaktes … selbst, sondern die Frage betrifft, ob ein solcher Verwaltungsakt im Rahmen der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Sanktion, die wegen der Nichtbeachtung einer sich aus ihm ergebenden Verpflichtung verhängt wurde, deshalb unangewendet bleiben muss, weil er mit dem Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs unvereinbar ist.

      (26) Sodann ist darauf hinzuweisen, daß die Bestimmungen des EG-Vertrags, da sie in der Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats unmittelbar gelten und da das Gemeinschaftsrecht dem nationalen Recht vorgeht, Rechte zugunsten der Betroffenen erzeugen, die die nationalen Behörden zu achten und zu wahren haben, so daß ihnen entgegenstehende Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts aus diesem Grund unanwendbar werden (vgl Urteil vom 4. April 1974 in der Rechtssache 167/73, Kommission/Frankreich, Slg. 1974, 359, Randnr 35) …

      (30) Zum einen haben sich … alle Träger der Verwaltung einschließlich der Gemeinden und der sonstigen Gebietskörperschaften diesem Vorrang zu beugen, so daß sich der einzelne ihnen gegenüber auf eine solche Gemeinschaftsbestimmung berufen kann (Urteil vom 22. Juni 1989 in der Rechtssache 103/88, Fratelli Costanzo, Slg. 1989, 1839, Randnr 32).

      (31) Zum anderen können die Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, die einer solchen Gemeinschaftsbestimmung entgegenstehen, sowohl Rechts- als auch Verwaltungsvorschriften umfassen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 7. Juli 1981 in der Rechtssache 158/80, Rewe, Slg. 1981, 1805, Randnr 43).

      (32) Nach der Logik dieser Rechtsprechung umfassen die genannten innerstaatlichen Verwaltungsvorschriften nicht nur generell-abstrakte Normen, sondern auch individuell-konkrete Verwaltungsentscheidungen.

      (33) Es wäre nämlich durch nichts zu rechtfertigen, wenn dem einzelnen der Rechtsschutz, der sich für ihn aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts ergibt und den die innerstaatlichen Gerichte zu gewährleisten haben (vgl Urteil vom 19. Juni 1990 in der Rechtssache C-213/89, Factortame ua, Slg. 1990, I-2433, Randnr 19), in einem Fall verweigern würde, in dem es um die Gültigkeit eines Verwaltungsakts geht. Dieser Rechtschutz kann nicht von der Art der entgegenstehenden Bestimmung des innerstaatlichen Rechts abhängen.“

      Da der EuGH festgestellt hatte, dass die Kontingentierung auf maximal 60 Boote gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoße, bestand eine Kollision zwischen Gemeinschaftsrecht und dem bestandskräftigen Bescheid. In dieser Situation greift der Anwendungsvorrang, und die Bestimmung des Bescheids über die Kontingentierung wird unanwendbar. Sie darf daher nicht als Grundlage für eine Geldstrafe herangezogen werden.

      103

      Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts muss konsequenterweise auch für rechtskräftige Urteile gelten, die gegen Unionsrecht verstoßen. Sie dürfen nicht als Rechtsgrundlage für weiteres staatliches Handeln herangezogen werden.

      104

      

      Die dargestellte Vorrang-Rechtsprechung des EuGH bezieht sich auf sog. direkte Kollisionen. Darunter versteht man Kollisionen zwischen materiellem Unionsrecht und materiellem nationalem Recht, auch – wie gezeigt – in Form von bestandskräftigen Verwaltungsakten sowie in Form von rechtskräftigen Urteilen.

      105

      Bei indirekten Kollisionen handelt es sich um solche zwischen materiellem Unionsrecht und nationalem Verfahrensrecht. In derartigen Fällen greift der EuGH nicht direkt auf den Anwendungsvorrang zurück, sondern stützt sich auf die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten und die Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz, was zu differenzierteren Ergebnissen führt (s. im Einzelnen Rn 1003 ff).

      Beispiel:

      In der Rs. Germany und Arcor ging es – im Zusammenhang mit einem Rechtsstreit über die Erstattung von zu Unrecht erhobenen Gebühren – um eine Kollision zwischen einer Richtlinienbestimmung (materielles Recht) und § 48 VwVfG (Verfahrensrecht) (EuGH, verb. Rs. C-392/04 und C-422/04, i-21 Germany und Arcor, Slg. 2006, S. I-8559 ff; s. Rn 1012):

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      Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts stellt eine „Mindestgarantie“ dar (EuGH, Rs. 168/85, Kommission/Italien, Slg. 1986, 2945 ff, Randnr 11) und entbindet die Mitgliedstaaten nicht von der Verpflichtung, die dem Unionsrecht widersprechenden – und von diesen im konkreten Anlassfall unanwendbaren – nationalen Rechtsvorschriften dem Unionsrecht anzupassen (Rechtsbereinigungspflicht, s. Rn 1009). Der EuGH hat das wie folgt begründet (EuGH, Rs. C-290/94, Kommission/Griechenland, Slg. 1996, S. I-3285 ff):

      „(29) Nach gefestigter Rechtsprechung entbinden nämlich der Vorrang und die unmittelbare Wirkung der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts die Mitgliedstaaten nicht von der Pflicht, diejenigen Bestimmungen ihrer innerstaatlichen