Systemtheorie III: Steuerungstheorie. Helmut Willke

Читать онлайн.
Название Systemtheorie III: Steuerungstheorie
Автор произведения Helmut Willke
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783846341223



Скачать книгу

dagegen nur noch in höchst voraussetzungsvoller und spezifischer Weise von außen beeinflussen (siehe Systemtheorie II, Kap. 5).

      Ich möchte mich im Folgenden darauf beschränken, einige prägende Momente in Etzionis Steuerungskonzeption der aktiven Gesellschaft hervorzuheben. In ihnen unterscheidet sich die Form der aktiven Gesellschaft grundsätzlich von traditionellen Beschreibungen, vor allem von den in der Tradition von Locke und Tocqueville stehenden Gesellschaftstheorien, welche nur Individuen und individuelle Akteure kennen. Folgende Merkmale werde ich herausgreifen und kurz erläutern:

       Die Hervorhebung des korporativen Systems (»collectivity«) als eigenständiger Handlungsrealität gegenüber individuellen Akteuren;

       die Idee der systemischen Interaktion (»representational interaction«), die es erlaubt, Kommunikationen auf korporative Systeme zuzurechnen;

       das Postulat der Selbsttransformation als Fähigkeit eines Systems, sich selbst aktiv nach einer bestimmten Idee oder Vision des Systems zu verändern; und

       die Rolle des kollektiven Wissens als (gegenüber dem individuellen Wissen) eigenständiger Instanz der Identität und der Selbststeuerung eines Sozialsystems.

      Die formende Bedeutung kollektiven Handelns und kollektiver Akteure für gegenwärtige Gesellschaften unterstreicht Etzioni mit dem Konzept der »collectivity«: »A collectivity is a macro-scopic unit that has a potential capacity to act by drawing on a set of macroscopic normative bonds which tie members of a stratification category« (Etzioni 1971, S. 98). Um Missverständnisse zu vermeiden, übersetze ich hier den Begriff der »collectivity« mit »korporativem System«. Die »Inkorporierung« soll auf die wesentlichen Momente der[25] »collectivity«, die dichte soziale Vernetzung und die gemeinsame normative Bindung hinweisen.

      Die Fähigkeit korporativer Systeme zu kollektivem Handeln – und zwar nicht im diffusen Sinne eines Massenphänomens, sondern im Sinne gerichteter strategischer Kommunikation auf der Basis der Verfügung über sozietale (gesellschaftliche, gesellschaftsweite) Ressourcen und der Verankerung im Stratifikationsmuster der Gesellschaft – verbietet es, eine Gesellschaft auf die Aggregation atomistischer Individuen zu reduzieren. Wenn aber korporative Systeme wie Organisationen, Vereinigungen, Interessengruppen oder öffentliche Körperschaften gesellschaftlich relevant handeln können, dann stellt sich unweigerlich die Frage ihrer kollektiven Rechte und Pflichten, sowie die Frage ihrer Einpassung in das Steuerungsmodell der Demokratie. Die Entwicklung gesellschaftlicher Akteure außerhalb der Politik verändert die Regeln des politischen Spiels um individuelle und kollektive Güter und Rechte – und sie verändert mithin die Steuerungsaufgabe und Steuerungsfähigkeit der Politik (Willke and Willke 2008). Aber es stellt sich auch die Frage der Beeinflussbarkeit und des Einflusses der korporativen Systeme, die Frage nach dem Modus und der Qualität der Interaktionen zwischen korporierten kollektiven Akteuren innerhalb und zwischen den Funktionssystemen einer Gesellschaft.

      Lindbloms Verdikt, dass große Korporationen nicht in den Rahmen der Demokratie passen, muss umgeschrieben werden, weil die Realität moderner Demokratie als Organisationsgesellschaften nur die Wahl lässt, entweder diese Realität zu verleugnen oder aber das Modell Demokratie aufzugeben. Längst gibt es keinen vernünftigen Zweifel mehr an der Beobachtung, dass nicht nur der engere Bereich der Politik, sondern die Gesellschaft insgesamt von Großorganisationen beherrscht wird, so dass der politische Prozess aus der strategischen Interaktion einer Vielzahl von öffentlichen und privaten Organisationen resultiert:

      »Eine wichtige Folge dieser Entwicklung ist die zunehmende Fragmentierung von Macht, die auf der Handlungsfähigkeit formaler Organisationen nach innen wie nach außen und auf ihrer Verfügungsgewalt über Ressourcen beruht; um das zu konkretisieren, braucht man nur an die großen Unternehmen, an Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände oder an Ärzteverbände zu denken. In vielen Bereichen der Politik gilt daher, dass es der Staat längst nicht mehr mit einer amorphen Öffentlichkeit oder mit Quasi-Gruppen wie soziale Klassen zu tun hat, sondern mit korporativen Akteuren, die über eine eigene Machtbasis verfügen« (Mayntz 1993, S. 41).

      Es liegt auf der Hand, dass dies die Undurchschaubarkeit, Komplexität und die Schwierigkeit politischer moderner Demokratien steigert. Aber muss deshalb[26] das Modell Demokratie aufgegeben werden? Diese Frage wird uns durchgehend beschäftigen, denn es ist die zentrale Frage einer Steuerungstheorie moderner Gesellschaften. Aber bleiben wir zunächst bei Etzioni.

      Dieser bezeichnet es als eine zentrale Hypothese seiner Studie, dass im Gefüge der Typen von Interaktionen in modernen Gesellschaften sich charakteristische Verschiebungen ergeben. Während die Modi der direkten und der symbolischen Interaktion zwischen korporativen Systemen an Gewicht verlieren, steigt die sozietale Bedeutung der »repräsentationalen« oder systemischen Interaktion: »Representational interaction« nennt Etzioni eine über den institutionellen oder organisatorischen Apparat der korporativen Akteure geregelte Kommunikation, welche dem korporativen System insgesamt, nicht aber individuellen Akteuren, zugerechnet wird. Systemische Kommunikation und Interaktion wird zwar auch von kommunizierenden und handelnden Individuen, etwa Vorsitzenden, Vertretern oder Bevollmächtigten mitgetragen, ihre Inhalte und Wirkungen beziehen sich aber nicht auf diese Personen als Individuen, sondern als Repräsentanten des Systems. Ihre gesellschaftlichen Wirkungen entfalten systemische Kommunikationen aufgrund dieser Repräsentativität und ihrer Zurechnung auf das jeweilige korporative Sozialsystem, nicht aber, weil dort bestimmte Individuen handeln.

      Sinnvoll ist diese Verdichtung von Kommunikationen durch Repräsentativität, weil in komplexen und dichten Sozialbeziehungen nicht jede Person und jede Gruppe in der Fülle ihrer Besonderheiten zum Zuge kommen kann, ohne das System völlig zu überlasten. Empirischen Anschauungsunterricht dafür erteilt gegenwärtig der amerikanische Kulturkampf einer völlig überzogenen »political correctness«, wonach jede noch so idiosynkratische Gruppe der Mehrheit die umfassende Berücksichtigung ihrer Besonderheiten aufzwingen kann – jedenfalls semantisch. In der Organisation komplexer Systeme sind viele Details der konkreteren Ebenen auf generalisierteren Stufen der Interaktion irrelevant, oder jedenfalls nicht unabdingbar wichtig. Der Aufbau organisierter Komplexität ist nur möglich, wenn die Dynamik und Varianz der konkreteren Ebenen durch Restriktionen der Relevanzgesichtspunkte kontrolliert und in vereinfachte Formen der Interaktion von Subsystemen gezwungen wird. In der naturwissenschaftlichen Theorie der Komplexität wird dies als Prinzip des »optimum loss of detail« bezeichnet:

      »The principle states that hierarchical control appears in collections of elements within which there is some optimum loss of the effects of detail. Many hierarchical structures will arise from the detailed dynamics of the elements, as in the formation of chemical bonds, but the optimum degree of constraint for hierarchical control is not determined by the detailed dynamics of the elements. … hierarchical controls arise from a degree of[27] internal constraint that forces the elements into a collective, simplified behavior that is independent of selected details of the dynamical behavior of its elements« (Pattee 1973, S. 93).

      Mit der Unterscheidung von direkter, symbolischer und systemischer Interaktion bietet Etzioni ein leicht nachvollziehbares Konzept für die Erklärung der nach wie vor höchst umstrittenen Frage, wie nicht individuelles, kollektives oder systemisches Kommunizieren und Handeln vorstellbar sein soll. Er zeigt auf, dass das Handeln von Systemen über die Figur der Repräsentativität nicht nur möglich und normal, sondern eben für komplexe Gesellschaften und ihre Makrodynamik besonders bedeutsam ist.

      Diese frühen Hypothesen Etzionis sind in der nachfolgenden langjährigen Diskussion um die Theorie des Neokorporatismus eindrucksvoll bestätigt worden (Schmitter 1983; Willke 1983, Kap. 4). In korporatistischen Verhandlungssystemen, wie z. B. konzertierten Aktionen, kommunizieren die Vertreter von korporativen Systemen mit Wirkung für ihre Systeme und mit sozietalen Wirkungen, eben weil sie nicht als individuelle Personen, sondern als Repräsentanten von Systemen agieren. An diesen Fällen lassen sich auch einige der Konsequenzen systemischer Kommunikation gut beobachten: Entgegen naiven Vorstellungen von Kommunikation und Handeln kommt es für die Inhalte der systemischen Interaktion nicht nur – und heute vielleicht nicht einmal mehr vorrangig – auf die Intentionen oder Interessen der beteiligten Individuen an, sondern auch auf die Gesetzmäßigkeiten der Operationsweise