Systemtheorie III: Steuerungstheorie. Helmut Willke

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Название Systemtheorie III: Steuerungstheorie
Автор произведения Helmut Willke
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783846341223



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wegen des kurzfristig organisierten Transaktionsgeschehens schnell: Idealtypisch gelten die Bedingungen der je gegebenen Situation, die Zukunft wird ausgeklammert oder diskontiert. (Dies lässt sich gut mit Vertragstypen vergleichen, bei denen die Zukunft eine bedeutende Rolle spielt, etwa Arbeits- oder Eheverträge).

      Dass der moderne Markt anders als frühere Formen wie Palavern, Ringtausch oder Basaren, massive Zeitersparnisse und Tempovorteile ermöglicht, ist unbestritten. Schwieriger ist die Frage der Kostengünstigkeit. Zwar zweifelt kaum jemand daran, dass moderne Warenmärkte eine besonders kosteneffiziente Form der Koordination von Angebot und Nachfrage darstellen – sonst hätte sich diese Form nicht weltweit durchgesetzt und auch noch die machtgestütze Konkurrenz zentral verwalteter sozialistischer Quasi-Märkte aus dem Rennen geworfen. Auch stellt wohl niemand in Frage, dass es für »einfache« Güter und »einfache« Beziehungen zwischen Anbieter und Nachfragern keine effizientere Form als die des modernen Marktes gibt.

      Die Zweifel an der Kostengünstigkeit des Marktes beginnen dort, wo ökonomische Transaktionen den Rahmen einfacher, freier, kurzfristiger, direkter und insofern für alle Beteiligten gut überschaubarer Beziehungen zwischen Anbietern und Nachfragern sprengen. Der Markt selbst war eine geniale Erfindung zur Reduktion der Komplexität sozialer Austauschbeziehungen auf »rational choice«. Aber offensichtlich lässt die gesellschaftliche Evolution einen solchen, durch Reduktion eroberten Freiraum nicht lange unbesetzt. Er dient nur als Treibhaus für den Aufbau neuer Komplexität. Je stärker Marktbeziehungen nun ihrerseits dem Moloch Komplexität wieder anheimfallen, je komplexer sich die Produkte, Produktionsformen, Austauschbeziehungen, Zeithorizonte und Kosten-Nutzen-Kalküle von Anbietern und Nachfragern darstellen, desto problematischer wird die Annahme, dass der Markt kostengünstig ist, weil er praktisch ohne Transaktionskosten (ohne Verzögerung und ohne besondere Koordinationsanstrengung) funktioniert. »Invisible time« und »Invisible hand« als konstituierende Merkmale des idealen Marktes konnten gegenüber der Herausforderung durch Komplexität nicht bestehen.

      Aufschlussreich ist, dass die klarste Formulierung dieser Zweifel nicht im Rahmen einer Theorie des Marktes entwickelt wurde, sondern im Rahmen einer Theorie der Firma. 1937 veröffentlichte Ronald Coase einen inzwischen[35] klassischen Artikel über ebendiese »Theorie der Firma« (1937). Ausgangspunkt dafür war Ronald Coases Verwunderung darüber, dass offenbar nicht der Markt die alleinige Koordinationsinstanz für ökonomische Transaktionen ist (wie es die Theorie des Marktes vorsieht), sondern dass Firmen einen wichtigen Teil der notwendigen Koordination übernehmen. In einer von Märkten gesteuerten Ökonomie könnten diese nicht überleben, würden sie die von ihnen übernommenen Koordinationsaufgaben nicht effizienter verrichten als der Markt selbst: »Coase identified transaction-cost economizing as a primary reason for the existence of the firm (as an alternative to the ad hoc purchasing of services within a market)« (Cyert und March 1992, S. 219). Diese Beobachtung führte zu Coases zentraler Idee: Er schlug vor, Märkte und Firmen als alternative Modelle der Koordination ökonomischer Transaktionen zu verstehen und sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Transaktions-Kosteneffizienz zu vergleichen. Transaktionskosten, so hat Douglas North (1990, S. 362) kompakt formuliert, sind die Kosten für die Schließung und Sicherung von Verträgen.

      Über den engeren wirtschaftswissenschaftlichen Kontext hinaus ist Coases Theorem höchst brisant. Denn es postuliert gegenüber dem liberalistischen Dogma moderner Gesellschaften, das auf pluralistische und dezentrale Selbstorganisation in demokratischen und marktförmigen Strukturen setzt, eine in manchen Hinsichten überlegene Koordinationsleistung hierarchischer Strukturen. Zwar spezifiziert Coase diese Hinsichten nicht, weil er Begriff und Inhalt von Transaktionskosten nicht operationalisiert; aber dies macht sein Argument noch massiver, weil es so verstanden werden kann, dass für alle nicht trivialen, komplexen Transaktionen Hierarchie die bessere (d. h. kostengünstigere) Wahl sei.

      Wie wir in Kapitel 3 sehen werden, stimmt Coases Theorem nahtlos mit Max Webers Idee der überlegenen Rationalität formal bürokratischer Steuerungsformen überein. Erstaunlicherweise wird auf diesen Zusammenhang bis heute kaum hingewiesen. Allerdings benötigten sogar die Wirtschaftswissenschaften über 35 Jahre, bis sie die Bedeutung der Ideen von Coase erkannten. Vor allem Oliver Williamson (1975; 1985; 1991) entdeckte zu Beginn der 1970er-Jahre Coase wieder und arbeitet seitdem am Ausbau und an der Operationalisierung einer Theorie der Transaktionen, Transaktionskosten und der Systeme der Koordination von Transaktionen. Für unseren Zusammenhang sind Coase und Williamson bedeutsam, weil sie direkt auf einen Vergleich der Koordinationsleistungen von Markt und Hierarchie zielen. Sollte sich herausstellen, dass für komplexe Transaktions- und Interaktionsbeziehungen mit hohen Transaktionskosten Hierarchie tatsächlich das überlegene Steuerungsmodell ist, dann hätte das Modell demokratischer Selbststeuerung im Kontext komplexer, wissensabhängiger Problemlagen schlechte Karten.

      [36]Wohlgemerkt sprechen sowohl Coase wie auch Williamson nicht von Demokratie, sondern vom Markt als Gegenmodell zur Hierarchie. Aber das ist die übliche Einseitigkeit von Ökonomen – und wohl auch die berechtigte Angst davor, mit der Bevorzugung von Hierarchie Demokratie als Modell zu diskreditieren. Für eine soziologische und insbesondere für eine steuerungstheoretische Betrachtungsweise allerdings ist demokratisches Pathos wertlos, wenn sich nicht genauer begründen lässt, warum und in welchen Hinsichten Demokratie als Steuerungsmodell komplexer Gesellschaften vorzuziehen ist. Im folgenden Abschnitt werde ich zeigen, dass es eine Reihe guter Gründe gibt, der überkommenen Idee von Demokratie als Steuerungsmodell kritisch zu begegnen. Aber auch am Modell hierarchischer Steuerung lässt sich grundlegende Kritik üben – sogar gerade im Kontext hochkomplexer Transaktions- und Interaktionsbeziehungen (siehe Kapitel 3.1). All dies führt dazu, gegenüber der Routine dogmatischer Rechtfertigungen gegenwärtiger Formen von Demokratie und Hierarchie konsequent und geduldig nach »dritten« Formen zu suchen, die der Herausforderung hoher organisierter sozialer Komplexität besser gewachsen sind.

      Sicherlich unterscheiden sich Demokratie und Markt als Steuerungsmodelle für die Koordination komplexer sozialer Systeme. Vor allem, darauf hat mich Fritz Scharpf in einem hilfreichen Kommentar hingewiesen, geht es im Fall des Marktes um die individuelle Verfolgung individueller Zwecke, während Demokratie die individuelle Partizipation an kollektiven Entscheidungen über kollektive Ziele meint. Da mich hier Markt ebenso wie Demokratie vorrangig als Modi der Systemsteuerung interessieren, betone ich eher die Gemeinsamkeiten der Makroeffekte beider Steuerungsformen. Sie liegen in den systemischen Effekten einer dezentralen, verteilten Koordination, die sich in beiden Fällen nicht in bloßer Aggregation erschöpft, sondern in einer Transformation der unterliegenden Rationalität – auch wenn sie sich in beiden Fällen »hinter dem Rücken der Akteure« vollzieht. Bei gutem Verlauf erzeugen beide Koordinationsformen aus der Interaktion rationaler Egoisten dann »public virtues« (genauer: nicht beabsichtigte Kollektivgüter), wenn erwartet werden kann, dass die Interaktionen sich kontinuierlich in eine absehbare Zukunft fortsetzen werden (Axelrod/Keohane 1985).

      Gegenüber den durchaus vorhandenen und wichtigen Unterschieden zwischen den Formen Markt und Demokratie hebe ich also hier ihre grundlegenden Affinitäten hervor, ihre funktionalen und strukturellen Übereinstimmungen. Der Markt lässt sich als »demokratisches« Modell eines Güteraustausches (»eine Mark = eine Stimme«) verstehen, der von den Rücksichten auf Stand und Klasse, Moral und Religion, Familie und Freundschaft befreit und nach dem Prinzip »eine Person, eine Stimme« (bei der Bildung des Preises) organisiert ist. Demokratie kann als Markt für politische Herrschaft gelten, [37]strukturiert nach dem Prinzip »eine Person eine Stimme« (bei der Bildung politischer Repräsentation). Auf diesem Markt konkurrieren »politische Unternehmer« um Anteile an der Übertragung öffentlicher Macht (Schumpeter). Tatsächlich hat die letztere Sichtweise zu einer weitverzweigten und in Teilen überzogenen »Ökonomischen Theorie der Demokratie« geführt.

      Über diese Ähnlichkeit hinaus scheint mir die wichtigere Affinität von Demokratie und Markt darin zu bestehen, dass es homologe Formen der Koordination sind, die prinzipiell durch Selbstorganisation, Dezentralität, verteilte Intelligenz, weitgehende Autonomie der Teilsysteme, inkrementale Entscheidungsfindung, leichte Reversibilität der getroffenen Entscheidungen und insbesondere durch formale Gleichheit der Entscheider /Nachfrager/ Konsumenten/Wähler gekennzeichnet sind. Charakterisiert sind beide Formen durch Kurzfristigkeit der Entscheidungslogik, Diffusität der Verantwortlichkeit,