Название | Wenn der Staat der Pate ist |
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Автор произведения | Kurt E. Müller |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783991076629 |
Wie bereinigt man ein solches von UBA und RKI nicht gewünschtes Ergebnis? Man inszeniert eine Folgestudie. Was muss geschehen? Die kritische Professorin wurde ebenso wie die beiden aufmerksamen wissenschaftlichen Beiräte nicht mehr berufen, von denen ich einer war. Eine Klinik, die eine große Fallzahl beigetragen und korrekt bewertet hatte, wurde ausgeschlossen. Bei der Nachbetrachtung der kleinen Kollektive von vier bis sechs Patienten durch die „genehmen“ Teilnehmer wurden nun psychische Ursachen als Grund der Erkrankung festgestellt. Staat und Industrie hatten, was sie wollten. Es wäre das erste Mal, dass durch Verkleinerung eines ausgewerteten Kollektivs die wissenschaftliche Genauigkeit zugenommen hätte.
Wie verdeckt man einen Interessenkonflikt? Zum Thema Multiple Chemikalien Sensitivität hatte der Betriebsarzt der BASF einen tendenziösen Artikel im Deutschen Ärzteblatt geschrieben. Es wäre natürlich ungünstig gewesen, wenn unter dem Autorennamen seine Tätigkeit und die Anschrift seiner Abteilung als Betriebsarzt gestanden wären. Also gab man als Korrespondenzadresse die der Co-Autorin an, einen Lehrstuhl für Arbeitsmedizin einer deutschen Universität.
Ein weiteres Beispiel, wie man eine unausgewogene Information in die Öffentlichkeit lanciert und gleichzeitig verdeckt, welche Interessen bestehen und welcher Bias wissenschaftlich vorliegt, ist der bereits angedeutete Workshop über Multiple Chemical Sensitivities im Februar 1996 in Berlin. Beteiligt waren das Bundesministerium für Gesundheit, das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (BgVV) und das Umweltbundesamt. Man hatte das Internationale Programm für Chemikaliensicherheit (IPCS) als Veranstalter gewonnen, das der WHO angegliedert ist und wegen seiner Nähe zur Industrie ins Gerede gekommen war. Teilnehmer waren Toxikologen, Neurologen Psychologen und Vertreter der Bereiche Umwelt und Gesundheit sowie Hygiene. Unter den Non-Government-Organisationen (NGO) waren die Vertreter von Bayer, BASF und Monsanto geführt worden. NGO vertreten eigentlich öffentliche Interessen und nicht die der Industrie. Man versuchte dadurch die Beteiligung von Lobbyisten zu verschleiern. Ein besonders interessanter Teilnehmer war der Amerikaner Dr. Ronald Gots, der Präsident des National Medical Advisory Service (NMAS), der Risk Communication International (RCI), und des Environmental Sensitivities Research Institute (ESRI) war. Diese Organisationen wurden durch die Industrie wesentlich unterstützt. Die Direktoren der Gesellschaften waren zu dieser Zeit Manager von Proctor & Gamble, Monsanto und Cosmetic, Toiletry, Fragrance Association. Er selbst hatte sich mit der Agitation gegen MCS-Patienten einen Namen gemacht und hatte zum Zeitpunkt des Workshops seit zwanzig Jahren keinen Patienten mehr gesehen. Nur Claudia Miller, zusammen mit Nicholas Ashford Autorin des Buchs Chemical Exposures, konnte man Neutralität und Sachkenntnis unter den Teilnehmern bescheinigen.
Einen Vertreter, der die klinischen und sozialen Probleme dieser schwer kranken Menschen und die Schwierigkeiten der Behandlung kannte und die Interessen dieser Menschen hätte vertreten können, hatte man nicht eingeladen. Ich hatte als damaliger Vorsitzender Vorstand des Deutschen Berufsverband der Umweltmediziner (dbu) keine Einladung erhalten, obwohl die Mitglieder des dbu die Einzigen waren, die solche Patienten auch in nennenswerter Zahl betreuten. Ziel der Veranstaltung war es, die Diagnose Idiopathic Environmental Illness (IEI) statt MCS zu etablieren. Wer hatte ein Interesse daran? Zuerst der Staat mit seinen beteiligten Behörden selbst. Es sollte nicht deutlich werden, dass Umsätze und Steuern durch Produkte erwirtschaftet werden, die eine nennenswerte Zahl der Bürger schwer erkranken lassen, und die dadurch entstehenden Kosten von der Solidargemeinschaft der Versicherten getragen werden müssen. Vor allem aber auch die chemische Industrie, die durch diese Diagnose bereits als Verursacher gebrandmarkt war.
17 Personen waren abstimmungsberechtigt. Nur 7 von ihnen hatten zum Thema publiziert: Keiner der Teilnehmer behandelte solche Patienten, die isoliert von der Gesellschaft und von ihrem gewohnten sozialen Umfeld, oftmals auch isoliert von ihrer Familie, leben müssen, um jeglichen Chemikalienkontakt vermeiden zu können. Fast alle müssen ihren Beruf aufgeben. Sie können nichts spontan unternehmen und Nahrung nur in eingeschränktem Maß tolerieren. Nach ungewollten Expositionen können sie rasch ihre kognitive Hirnleistung anfangs vorübergehend, mit der Zeit auf Dauer einbüßen, die oftmals hoch war, bevor sie erkrankten. Sie leiden an einer der schwersten Krankheiten, die wir kennen. Es gibt keine speziellen Ambulanzen, Krankenhausbetten oder Rehabilitationen. Sie sind die Lepra-Kranken der Moderne. Da überrascht es, welches Verständnis und Mitgefühl für eine überwiegend gesunde Gesellschaft aufgekommen sind, wenn nur teilweise vergleichbare Einschränkungen, immer auf einige Wochen befristet, während der COVID-19 Pandemie erfolgt sind, mit denen MCS Patienten ab dem Beginn ihrer Erkrankung in der Regel das ganze verbleibende Leben zurechtkommen müssen. Sie haben keine Fürsprecher im Gesundheitswesen, in der Politik oder den Medien. Die sozialen und psychischen Folgen sind in diesen Fällen ohne Belang. Die Gesellschaft behandelt sie als Sonderlinge und lacht hinter vorgehaltener Hand, wenn sie Schutzmasken tragen, die bei der Corona Pandemie große Wertschätzung erfahren haben. In den Talk Shows kommen sie nicht vor.
Das Ergebnis dieser Sitzung in Berlin wurde als WHO-Beschluss in einer Pressekonferenz sofort der Öffentlichkeit mitgeteilt. Auf Grund einer internationalen Protestwelle distanzierten sich WHO, UNEP (United Nations Environmental Program) und die ILO (International Labor Organisation) von dem Berliner Beschluss. Mit Ausnahme der deutschen Behörden und der Vertreter deutscher Universitäten, die allesamt durch Steuergelder finanziert werden, kehrten alle zum ursprünglichen Terminus Multiple Chemikalien Sensitivität (MCS) zurück. Das Beispiel zeigt, dass man durch geeignete Auswahl eines Forums immer versuchen kann, ein von Lobbyisten gestecktes Ziel zu erreichen. Es scheitert nur dann, allerdings längst nicht immer, wenn die Öffentlichkeit oder einzelne Personen wachsam sind. Der Staat ist Pate auch in diesem Deal gewesen.
Zu der ganzen Angelegenheit teilte Dr. M. Marcier, Director International Program on Chemical Savety Herrn Dr. A. Donnay, MCS Referral & Resources an der John Hopkins University, am 21. März 1996 mit:
„The Workshop held in Berlin on 21–23 February on ‚multiple chemical sensitivities‘ and some other environmental intolerances was for the purpose of an exchange of views between invited experts from a number of countries. The views expressed were those of the experts and a report, prepared by the experts, will carry the standard WHO disclaimer to this effect.
International Non-Govermental-Organisations concerned with worker health with which IFCS corresponds are:
ICEM
International Federation of Chemical, Energy, General Workers & Miners Union. Brussels
ICFTU
International Confederation of Free trade Unions. Brussels“
4.
Dieselgate – ein Rückblick in die Zukunft
(überarbeiteter Aufsatz in umg 2018; 30(4): 48-49)
Wenn man als Arzt mehr als viereinhalb Jahrzehnte im Gesundheitswesen tätig ist und sich davon 3 Jahrzehnte mit sehr begrenztem Erfolg bemüht hat, die Rolle der Umwelteinflüsse für die Entwicklung von Krankheiten immer besser zu verstehen und dies in Weiterbildung zu vermitteln und durch Prävention eine humane und kostengünstige Bewahrung der Gesundheit der Gesellschaft zu erreichen, statt symptomatisch und teuer vermeidbare Krankheiten zu therapieren, überrascht einen kaum noch etwas. Nun ist es doch geschehen. Wieso? Der Grund: Die Strategien sind beim Auto auch nicht besser als bei den Menschen, obwohl es (das Auto) unser höchstes Gut ist. Der Diesel hat es aufgedeckt. So führt der Spiegel (2018, Nr. 32, Seite 5) in seiner Titelgeschichte aus: „Dieselgate – Dieselgipfel hat die enge Verquickung zwischen Politik und Autoindustrie offengelegt – Die Bundesregierung ist quasi handlungsunfähig.“ Auf Seite 8 der gleichen Ausgabe schreibt dazu Jakob Augstein