Название | Wenn der Staat der Pate ist |
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Автор произведения | Kurt E. Müller |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783991076629 |
Wie geht man vor, einer Position internationale Bedeutung zu geben? Man holt sich eine renommierte Institution an die Seite. Die Welt-Gesundheitsorganisation (WHO) ist eine solche Institution, mit deren Hilfe man der eigenen vertretenen Meinung mehr Gewicht verleihen kann, wenn diese Organisation mit dieser übereinstimmt. Auf Betreiben der chemischen Industrie kam es zu einem Treffen in Berlin. Die chemische Industrie erwartete eine Änderung der Diagnose Multiple Chemikalien Sensitivität (Multiple Chemical Sensitivity, MCS) in Idiopathische Umwelt Intoleranz (Idiopathic Environmental Intolerance; IEI), um den Begriff Chemikalien aus der Diagnose zu entfernen, da dieser Zusammenhang nicht bewiesen sei. Es waren u. a. Vertreter der chemischen Industrie, der nationalen Behörden, zwei amerikanische Wissenschaftler und ein Mitglied der WHO eingeladen worden. Ich hatte als damaliger Vorstandsvorsitzender und Gründungspräsident des Deutschen Berufsverbands der Umweltmediziner (dbu) keine Einladung erhalten, obwohl die Ärzte des dbu die einzigen waren, die solche Patienten auch in nennenswerter Zahl betreuten. Der Öffentlichkeit wurde später in einer Pressekonferenz das Treffen als eine Konferenz der Welt-Gesundheitsorganisation (WHO) dargestellt, auf der beschlossen worden sei, dass MCS in IEI umzubenennen sei. Die Industrie hatte vermeintlich ihr Ziel erreicht. Diese Strategie hatten sich mit der Industrie kooperierende Personen ausgedacht, denen wir als Beamte von Behörden eine besondere Sicherheit ihrer Existenz aus unserem Steueraufkommen bieten und denen wir besonders vertrauen. Der WHO-Vertreter stellte hernach klar, dass es eine Konferenz der WHO in diesem Zusammenhang nie gab (s. nächstes Kapitel) und dass er als WHO-Repräsentant lediglich Gast dieser Veranstaltung war. Fachliche Inkompetenz, strategisches Geschick und Verlogenheit wurden zu Lasten der Kranken und der Gesellschaft eingesetzt. Sie wurden von denen umgesetzt, zu denen wir auf Grund der Zugehörigkeit zu scheinbar neutralen, vom Bürger finanzierten Institutionen ein besonderes Vertrauen haben. Das wiederholt sich bei COVID-19 und 5G erneut.
3.
Antiscience – wenn Wissenschaft unwissenschaftlich ist
Betrachtet man die Modalitäten wissenschaftlicher Diskussion über einen längeren Zeitraum, so ist man überrascht, in welchem Umfang man auf Machtgebrauch und Machtgebaren, aber auch Unsachlichkeit von Fachleuten trifft. Nur selten wird der bisher als gültig erachtete Kenntnisstand korrigiert, wenn es auf Grund neuer Kenntnisse längst sein müsste, sondern erst dann, wenn die Protagonisten überholter Lehrmeinung die Szene verlassen haben. So sagte einer der renommiertesten Forscher auf einem Kongress für Neuroimmunmodulation, an dem ich als einziger in einer Praxis tätige Arzt teilnahm und noch dazu die Ehre hatte, zu einem Vortrag geladen zu sein, fast resignierend zu mir, dass die aktuell praktizierte Medizin fünfzehn bis zwanzig Jahre hinter dem längst vorhandenen Wissen auf diesem Gebiet hinterherhinke.
Wer erzeugt die innovative Kraft in der Wissenschaft? Folgt man dem Wissenschaftsethiker und -theoretiker Prof. Fröhlich, Johannes Keppler Universität Linz, kommen Kritik aktueller Positionen sowie Korrektur der Wissenschaft und Innovation praktisch immer von Außenseitern. Was würde helfen? Aus meiner Sicht würde es helfen, wenn wir in der Lage wären, den eigenen Standpunkt gelegentlich mit den neugierigen Augen Unkundiger anzuschauen, gewünschte Ziele und erreichte zu vergleichen, Aufwand und Nutzen abzugleichen sowie eigene Interesse und die von außen herangetragenen Interessen zu analysieren. Es gelänge so, die Reflexion ständig in Gang zu halten, Fehler zu korrigieren und Weiterentwicklungen schneller in die Tat umzusetzen. Diese Fähigkeiten fehlen den meisten. Solche Verhaltensmuster kann man an einem medizinhistorisch gut dokumentierten und typischen Beispiel darstellen. Wir ziehen aus solchen historisch wertvollen Beispielen allerdings nicht die notwendigen Schüsse.
Der englische Landarzt Bostock erkannte die Ursache des Heuschnupfens als Erster. Er beschrieb den Zusammenhang 1819 und gebrauchte den Begriff Hayfever (Heufieber), weil sich die Betroffenen fiebrig sowie müde fühlten und Schnupfensymptome aufwiesen, wenn die Gräser blühten und das Heumachen begann. Die etablierten Wissenschaftler der damaligen Zeit hielten diese Einschätzung für abwegig und propagierten eine neurotische Genese. Dieser Position schloss sich auch Laforgue aus Toulouse an. Es hat sich bis heute nicht viel daran geändert, neue Erkrankungen zunächst dem psychischen oder psychosomatischen Formenkreis ohne weiteren Beleg zuzuordnen. Dechambre vermutete meteorologische Ursachen. Friedrich Schönwein aus Basel schuldigte Ozon an. Eine Ansicht, die auch aus heutiger Sicht nicht ganz bedeutungslos ist. Wissen wir doch seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, dass Umwelteinflüsse die Pollen veranlassen, Stressproteine an der Oberfläche zu bilden, die viel größeres Potenzial besitzen, Allergien auszulösen. Rehstein behauptete, dass es ein Problem der Intellektuellen sei. Helmholtz erklärte vibrionenartige Erreger der Nasenschleimhaut zur Ursache. Eine Meinung, der sich Zuelzer und Pfuhl in Deutschland sowie Budberg in England anschlossen. Der berühmte Behring hielt die Helmholtz’schen Vibrionen für Streptokokken. Piorry, Kratschmer, Kutter, Daly und Voltolini waren Anhänger der lokalen Reflexauslösung. Wilhelm Haack stellte seine Theorie der Reflexneurose 1882 vor. Mackenzie freute sich darüber, dass man die Pollenätiologie vergessen könne, obwohl Blackly schon 1873 an 700 Arbeitern die Verursachung des Heuschnupfens durch Pollen bewiesen hatte. Es war schließlich Alfred Wolff-Eisner, der erstmals den Begriff Allergie in diesem Zusammenhang gebrauchte, welcher 1906 von Clemens von Pirquet geprägt worden war. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung wogte dennoch weiter. Sie fand erst im Jahr 1967 eine Ordnung, als das Ehepaar Ishizaka und der Schwede Johansson unabhängig voneinander mit dem Immunglobulin E (IgE) die fünfte Klasse der Immunglobuline und damit das treibende Agens der allergischen Reaktion vom Soforttyp gefunden hatten. Clemens von Pirquet hat schon 1919 ein Reagin als Verursacher postuliert, dem dieses IgE entsprach. Nach fast 150 Jahren hatte Bostock Recht bekommen. Da war er längst tot – nach einem Lebensweg der Verunglimpfung und Beleidigung. Auf diesem Weg hatten sich viele der namhaften Wissenschaftler geirrt.
Es ist ein historisches Bedürfnis in der Medizin, auch einfache Sachverhalte in eine schwierige Sprache zu transformieren, um dem Gesagten allein dadurch Gewicht und Bedeutung zu verleihen und damit den Mangel an grundlegendem Verständnis zu verdecken. Es hat medizinhistorische Gründe, dass dieser Weg früher stets gewählt wurde, weil damals die Ebene des Beschreibens viel detaillierter und genauer entwickelt war als die Ebene des Erkennens von Ursachen und Gründen. Diese Diskrepanz ist allerdings auch heutzutage weiterhin vorhanden, wenn auch nicht mehr so ausgeprägt. Die im Gymnasium das große Latinum erworben haben, sind gleich zu Beginn des Studiums im Vorteil, weil ihnen die medizinischen, auf dieser Sprache basierenden Grundbegriffe viel schneller vertraut sind als denen, die nur die „neuen Sprachen“ gelernt haben und sich in dem Fach Terminologie damit erst vertraut machen müssen.
In meinen Seminaren benutzte ich gerne das folgende Beispiel, um auf den Kern des Problems aufmerksam zu machen: Kommt ein Patient zum Arzt und sagt: „Herr Doktor, ich habe plötzlich an meinem Körper in kurzer Zeit einen Hautausschlag bekommen. Können Sie mir sagen, was das ist?“ Der Arzt entgegnet: „Machen Sie sich doch mal frei, dass ich mir das anschauen kann.“ Der Patient entkleidet sich und lässt den Arzt nicht aus den Augen. Beunruhigt stellt er die sorgenvollen Falten auf der Stirn des Arztes fest. „Und, was ist es?“ Der Arzt sagt in gewichtigem Tonfall: „Es ist eine Pityriasis lichenoiden et varioliformis acuta, Mucha-Habermann.“ Der Patient verharrt andächtig und denkt sich: „Unglaublich, was diese Ärzte so alles wissen müssen.“ Nach einer Weile des Zögerns fragt er vorsichtig: „Woher kommt die Krankheit denn?“ Der Arzt entgegnet knapp: „Das weiß man nicht genau.“
Diese Mechanismen haben über Jahrhunderte funktioniert, um akademische Distanz zu schaffen und den Respekt vor dieser akademischen Bildung zu bewahren. Die Ärzte tun sich schwer damit umzugehen, dass diese einfachen Mechanismen nicht mehr funktionieren. Viele Patienten, und das sind längst nicht mehr nur die jüngeren, kommen durch die Möglichkeiten des Internets bestens vorinformiert in die Sprechstunde oder arbeiten nach was sie dort gehört haben. Man versucht die dadurch aufkommende Problematik durch lapidare Feststellungen zu kompensieren und stellt fest, wenn der Patient bestens vorbereitet wiederkommt: „Na, leiden Sie jetzt auch am Morbus Google?“ Zu selten bemühen wir Ärzte uns, die Patienten von vornherein auf Augenhöhe zu behandeln. Die Patienten erkämpfen sich das durch Verbesserung ihres Wissens auf anderen Wegen und wir Ärzte nehmen es zähneknirschend zur Kenntnis.
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