Der letzte Stein. Ilse Nekut

Читать онлайн.
Название Der letzte Stein
Автор произведения Ilse Nekut
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991077077



Скачать книгу

weiter mit ihren Freundinnen durch den dicht bewaldeten Stadtrand. Natürlich waren ihre Streifzüge örtlich begrenzt, sie waren ja erst acht, aber ein Ausflug zur versteckten Wiese – so nannten sie den großen Grasflecken oberhalb des kleinen Berges in Omas riesigem Garten – kam ihr und ihren Freundinnen vor wie eine weite, gefährliche Reise.

      Wenn die Mädchen zu weit hinauf in den Wald gegangen waren und Mutter das erfuhr, sagte sie streng:

      „Wenn ihr so weiter macht, wird euch einmal der schwarze Mann holen.“

      ‚Schwarzer Mann? Rauchfangkehrer? Neger? Dora wusste es nicht und durchstreifte weiter Wiesen und Wälder.

      Um ihrem Ruf als Bub, ob verpatzt oder nicht, gerecht zu werden, kletterte sie auf jeden halbwegs mit Ästen bestückten Baum und rannte mit den Buben um die Wette. Dass sie dabei einmal stürzte und sich ihre Knie zerschürfte, störte sie nicht.

      Als sie schon in die dritte Klasse, die 3b, ging, rutschte sie im Winter auf ihrer ledernen Schultasche einen steilen, vom Eis glatten Hang hinunter. Auf diese Weise zeigte sie den mitrutschenden Buben etliche Male, dass sie zu ihnen gehörte. Ein wahrer Bub unter verpatzten Mädchen, das war sie.

      Peter, ein Bub aus ihrer Klasse, wartete jeden Morgen bei der Kreuzung auf Dora. Sie gingen dann gemeinsam zur Schule. Peter wurde von seinen Schulkollegen gehänselt, weil er mit einem Mädchen ging.

      „Du mit einem Mädel! Waschlappen!“, riefen sie.

      Dora merkte, dass es besser war, ein Bub zu sein. Und es war wohl auch besser, später ein Mann zu werden statt ein Fräulein.

      Auch einen Unfall mit ihrem Rad nahm Dora tapfer in Kauf. Sie wurde anerkannt von den etwas fremden Wesen, die noch Kinder waren, aber einmal Männer werden sollten.

      Alles hatte seine Richtigkeit, nur ihre Mutter sah dem Treiben besorgt zu. Ihr wäre lieber gewesen, Dora hätte sich mit einem hübschen Kleidchen ins Kinderzimmer begeben und hätte dort mit Puppen gespielt.

      Dass ihre Tochter ‚auf Bub komm raus‘ am liebsten abgewetzte Hosen trug und sich beim Friseur die Haare kurz schneiden ließ, irritierte sie, aber sie ließ sich nichts anmerken.

      ‚Es wird vorüber gehen‘, tröstete sie sich selbst.

      Und irgendwie war da auch Stolz dabei.

      Das Blut

      Dora war neun,

      als das mit Lisa passierte.

      Lisa war nicht nur Kusine, auch Freundin. Und sie riss sich beim Hinfallen auf der großen Wiese, auf der sie beide ohne Aufsicht spielten, den Oberschenkel an einem Stacheldraht auf. Sehr tief.‚Warum ist Blut rot und nicht blau oder grün?‘, dachte Dora.

      ‚Warum ist die Wunde ihrer Kusine so groß und so tief?

      Warum sieht man in dieser Wunde weißes Muskelfleisch, das wie Grießpudding aussieht?

      Und warum sang die Frau in dem alten Haus neben der Wiese, auf der sie spielten, immer wieder zuerst Opernarien und als Abschluss ‚Deutschland, Deutschland über alles‘? Bei offenem Fenster.

      Obwohl doch Deutschland früher sehr böse war. Das sagte Mama.

      Und warum waren die Augen von diesem Herrn Hitler, den Oma manchmal zornig erwähnte, braun und nicht rosa?‘

      Wo man singt, da lass dich nicht gleich nieder,

      auch böse Menschen haben ihre Lieder.

      Das hatte Oma sie gelehrt. ‚Vielleicht hatten die bösen Deutschen früher böse Lieder, und die Sängerin in dem alten Haus neben der Wiese konnte das nicht vergessen … Sie sang schön, wie ein Engel.‘

      Lisas Blut.

      Doras Kusine Lisa saß mit gepunktetem Rock, aber grießpuddingähnlichem blutigem Muskelfleisch auf einem Baumstamm und war bleich im Gesicht. Das rote Blut – nicht blau, nicht grün, nein, rot war es – schoss plötzlich wie aus einem leicht verstopften Springbrunnen aus ihrem Oberschenkel.

      Doras Augen starrten auf die Verletzung.

      ‚Warum sind Augen niemals rosa oder lila?‘

      Lisas Blut.

      Dora rannte zu dem alten Haus mit der Sängerin, um Hilfe zu holen. Sie rannte nicht nach Hause, nein. Sie hetzte zur Sängerin. Wie ein Blitz die Stufen hinauf, und schon war sie im Sängerinnenzimmer. Die Frau, die oft Opernarien und danach das Deutschlandlied sang, rief die Rettung an. Gott sei Dank hatte sie Telefon, Doras Eltern hatten keines. ‚Warum nicht?‘

      Dora dachte an ihren Papa, der selbst keine Opernarien sang, sondern solchen Gesängen nur lauschte. Mit Kopfhörern und geschlossenen Augen. Ansprechbar war er nicht, wenn er dies tat, und Dora hasste diesen Rückzug ihres Vaters in die Arienwelt.

      Gut, dass die Kusine jetzt in guten Händen war. Dora schaute zu den Wolken hinauf, die heute weiß waren. ‚Warum sind Wolken weiß oder grau und nicht kariert?‘

      Und sie sah, wie aus den Wolken über ihr eine grießbreiähnliche Masse floss und einen blutroten Regen ankündigte.

      ‚Warum ist Blut rot?‘, fragte sie sich wieder und wieder.

      Die Panzer

      Dora war neun,

      als die Panzer walzten.

      Ihre Eltern verfolgten seit kurzem oft die Nachrichten im Radio. Und sie sahen immer besorgter drein. Dora getraute sich nicht zu fragen, was los war. Bis ihr Vater die Mutter entsetzt ansah und sagte:

      „Jetzt sind die russischen Panzer in Ungarn. Die walzen alles nieder!“

      Dora verstand wenig, nur ‚russisch‘, das kannte sie. Und auch, dass die Russen seit einem Jahr nicht mehr da waren. ‚Wieso jetzt Ungarn? Was sind Panzer?‘ Dora kannte keine russischen Panzer, aber sie erinnerte sich an die freundlichen Soldaten, die Kinder mochten, vor allem blondzopfige.

      ‚Was war in Ungarn passiert?‘ Es schien sehr ernst zu sein. Vater versuchte zu erklären. Dass die Ungarn einen Volksaufstand gemacht hatten gegen die russische Besatzung, dass die russischen Politiker das nicht duldeten, und dass sie in Ungarn einmarschiert sind und mit Panzern alles niederwalzten.

      ‚Wie können Panzer walzen?‘ Dora kannte nur Straßenwalzen, die den heißen Asphalt platt machten‚ aber wieso machten in Ungarn Panzer alles platt?

      „Viele Flüchtlinge werden kommen, das ist sicher“,

      meinte Mutter, und Dora fragte sich, was Flüchtlinge eigentlich waren. Sie hatte erst wenig von Flucht gehört. Der nächste Fasching fiel ihr ein. Sie wollte nicht aussehen wie alle anderen. Sie wollte weder als Cowboy noch als Prinzessin noch als Matrose verkleidet sein.

      „Darf ich im nächsten Fasching als Flüchtling gehen, Mama?“

      „Auf keinen Fall, Kind. Flüchtlinge, das sind arme Leute, denen man die Heimat genommen hat, die aus ihren Häusern vertrieben worden sind oder die vor Krieg oder sonst was Fürchterlichem fliehen mussten. Damit spaßt man nicht. Und niemand sollte sich im Fasching als Flüchtling verkleiden. Das wäre sehr dumm und geschmacklos.“

      Also was Heimat bedeutete, dass hatten sie in der Schule gerade durchgenommen. Damit kannte Dora sich aus, und sie hatte auch schon begriffen, dass es schlimm war, die Heimat zu verlieren. Diese Heimatlosen meinte also ihre Mutter, wenn sie sagte, dass viele Flüchtlinge kommen würden. Und dass sie aus Ungarn kommen würden, war Dora klar.

      „Wie viele werden da kommen, Mama?“

      „Ich glaube, sehr viele.“

      „Wie viele?“

      „Vielleicht Hunderte oder Tausende oder zweihunderttausend.“

      Dora verstand diese Zahl nicht ganz.

      „Was denn nun? Zwei oder hundert oder tausend?“

      Mutter