Der letzte Stein. Ilse Nekut

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Название Der letzte Stein
Автор произведения Ilse Nekut
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991077077



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und hilft löschen.“

      Dora und ihre Schwester gingen, nein, liefen zu Oma zurück, die zunächst nicht glaubte, was ihre Enkelinnen atemlos erzählten. Aber dann begriff sie. Die Wohnung der Kinder und der Eltern war in Gefahr. Es könnte sein, dass das Feuer alles zerstörte, vielleicht sogar das ganze Haus. Vielleicht sogar ein Leben.

      So gut es ging, bewahrte Oma Ruhe, schon der Mädchen wegen.

      Dora konnte nicht einschlafen an diesem Abend bei Oma. Sie hatte Angst um das Klavier, auf dem sie immer wieder üben durfte, auch wenn es eher ein Klimpern war. Und sie hatte ungeheure Angst um den Goldhamster, der nicht sterben durfte. Ihre Gedanken kreisten um das alte Klavier, ein Pianino, in dem sich der Hamster ein Nest für seine Vorräte gebaut hatte. Sie sah, wie das Klavier voller Flammen in sich zusammenkrachte, wie der Hamster in diese Flammen lief, um sein Futter zu retten, sah, wie das Haus einknickte und fiel, das Klavier und das Tier unter den Trümmern begrub.

      Oma redete ruhig auf Dora ein. Dora hörte zwar die Worte, aber nicht deren Bedeutung. Ihr war kalt, sie zitterte.

      Endlich kam ihre Mutter, spät in der Nacht. Alles sei in Ordnung, nur der Plafond im Wohnzimmer sei etwas feucht vom Löschwasser. Und Vati war zum Helden geworden. Er hatte den Feuerwehrleuten am Anfang derart geholfen, dass alle ihn danach bejubelten. Vati ein Held, das Klavier intakt, der Hamster quietschlebendig.

      Alles war gut gegangen, aber die Angst vor dem Feuer blieb. In Doras Kopf prasselten und züngelten die feurigen Fontänen. Es zischte und knisterte, der Funkenflug kreiselte in der Luft und verlor sich in der Nacht. Und manchmal träumte Dora von toten Hamstern, verkohlt bis auf die Knochen.

      Es dauerte lange, bis ihre Angst vor Feuer verschwunden war.

      Das Mosaik

      Dora war sieben,

      als sie das Mosaik entdeckte.

      Die Stunde der Kostbarkeiten, in denen die Großmutter beim monatlichen Besuch im Nebenzimmer Erfundenes erzählte, war wieder einmal fast zu Ende. Opa unterhielt sich inzwischen gut mit Mama, Papa und Terese.

      Dora aber hatte seit kurzem das Gefühl, den glitzernden Geschichten eigentlich entwachsen zu sein, aber sie sagte nichts. Sie war nur nicht ganz bei der Sache.

      Da meinte die Großmutter, sie hätte noch etwas für Dora. Auf dem Dachboden hätte sie es gefunden.

      „Und was?“

      „Ach, es ist nur eine Schachtel“, Oma lächelte verschmitzt.

      „Und was ist drinnen in der Schachtel?“

      Oma machte es spannend. Sie stieg mit Dora die Stufen zum Dachboden hinauf, wo ihnen stickige Luft aus dunklen Ecken entgegenkam.

      „Hier ist es, mein Kind. Wir tragen es hinunter.“

      Sie nahm die Schachtel, stützte sich ein wenig auf Doras Schultern und stieg ab Richtung Familie.

      Auf dem großen Tisch im Nebenzimmer öffnete Dora die Schachtel. Staub und der Geruch nach vergilbten Büchern und alten Kellern gelangten in ihre Nase. Trotzdem blieb ihr Blick am Inhalt der Schachtel haften.

      „Was ist das, Oma?“

      „Schau es dir genauer an. Es sind kleine Mosaiksteine aus der Zeit vor dem ersten großen Krieg, von meinen Großeltern.“

      „Aber woraus sind diese kleinen Steine gemacht? Sie sind rau und leicht.“

      „Aus Sandstein, denke ich.“

      Ab diesem Sonntag verzichtete Dora bei jedem Oma-Besuch auf das Geschichtenerzählen. Sie saß über den Steinen und bewunderte deren dumpfe, verblasste Farben und raue Oberflächen. Rostrot, Graugrün, verwaschenes Blau und mattes Beige gab es da. Die Großmutter gab ihr ein altes, kleines Heftchen, dessen einzelne vergilbte Blätter fast zerfielen. In diesem Heft waren Anleitungen zum Setzen der Steine und Beispiele für Bilder, die man mit ihnen legen konnte. Eine Vorlage also. Dora konnte noch nicht sehr gut lesen, aber das machte nichts. Die Bilder in diesem kleinen Heft waren ohnehin das Wichtigste.

      Bei den kommenden Besuchen fischte Dora sich jeweils eines der Bilder heraus und legte die mattfarbigen Steine nach dieser Vorlage. Es waren meist symmetrische Figuren, die da entstehen sollten. Sechsecke wie Schneeflocken oder Bienenwaben. Oder auch Achtecke wie im Stammbuch ihrer Freundin. Dora fiel ihr Kaleidoskop daheim ein. Man musste die kleine Röhre vors Auge halten und drehen, dann entstanden ähnliche Bilder, wie die bei ihren Mosaikvorlagen.

      Sie perfektionierte dieses Nachbauen aus den alten Heften. Bis sie es sich anders überlegte.

      Sie beschloss, neue Steinbilder ohne Vorlagen zu legen. Und so kam es, dass sie die Bilder von jenen Palästen aus ihrem Kopf holte, von denen Oma ihr so oft erzählt hatte. Nach diesen Vorstelllungen formte sie Abbilder aus mindestens dreihundert Einzelsteinen. Das Gold der Paläste und die Haare der Prinzen legte sie aus den fahlbeigen Steinen, für die Kleider der Prinzessinnen die ziegelroten, für die exotischen Blumen und Sträucher die grünen, für den Himmel und die Seen die verwaschenen blauen.

      Terese interessierte sich nicht für die Tätigkeit ihrer kleinen Schwester während der Familienbesuche, was Dora gerade recht war.

      Es gab nur eine Situation, die sie ärgerte. Wenn fast alle Mosaiksteinchen ausgelegt waren, nur mehr der obere Abschluss des selbst ausgedachten Bildes fehlte, dann kam es vor, dass genau ein Stein fehlte, um das Bild zu vollenden. Dieser letzte Stein machte Dora öfter Kopfzerbrechen, doch mit der Zeit entstand diese Lücke immer seltener. Sie bekam Übung. Trotzdem passierte es manchmal.

      Nach einem halben Jahr meinte Oma, Dora solle sich das Spiel mit nach Hause nehmen. Das tat sie.

      Etwas Seltsames geschah. Seitdem sie die fahlbunten Mosaiksteine daheim hatte, rührte sie sie nicht mehr an. Entweder war es so, dass Dora langsam erwachsen wurde, oder die Schachtel samt Inhalt gehörte einfach zu Oma und ihrem alten verwunschenen Haus.

      Dora verstaute alles im elterlichen Keller und wusste, dass das Spiel noch lange nicht zu Ende war.

      Sie musste an den letzten Stein denken, der immer wieder einmal fehlte.

      Der Film

      Dora war sieben,

      als sie zum Film kam.

      ‚Endlich einmal mit Papa was Besonderes erleben!‘ Dora zertrümmerte vor Freude eine Fensterscheibe. Niemand schimpfte.

      Es war ein kühler Samstagnachmittag im September, als ihre Schwester und sie mit hinaus zu den Rosenhügelstudios fahren durften. Papa arbeitete nämlich ‚beim Film‘. Doras Schwester, die älter und gescheiter war, protzte mit dem Wissen, dass Papa Filmtonmeister war. Darunter konnte sich Dora nichts vorstellen. Ton, den kannte sie nur aus der Schule, wenn sie Tierfiguren und kleine Vasen aus Ton zu formen versuchten. Film, da wusste sie Bescheid. Sie hatte vor einiger Zeit eine Kindervorstellung besucht, ‚Bergkristall‘. Stellenweise war die Sache sehr traurig gewesen, und Dora hatte insgeheim gedacht, so ein Film sei nichts für Kinder. Sie war schockiert, zeigte das aber nicht.

      Die Zusammensetzung der Worte ‚Film‘ und ‚Ton‘ hatte Dora noch nie gehört. Dass Papa ‚Filmtonmeister‘ war, nahm sie einfach zur Kenntnis, obwohl sie ganz genau wusste, dass ihr Vater doch eigentlich Automechaniker war. Schließlich lag er oft, meist am Wochenende, unter dem Familienauto und reparierte Unsichtbares. Also Automechaniker. Filmtonmeister, das musste sein Hobby sein.

      An diesem Nachmittag fuhren sie also zu dritt mit dem Auto zu den Filmstudios. Dora, ihre Schwester Terese und ihr Vater. Was Dora vom familieneigenen Auto hielt, wusste sie selbst nicht so genau. Der umgebaute, ehemalige Wehrmachtswagen erregte oft die Aufmerksamkeit der Leute auf den Straßen. Hellgrünes Wellblech, das Reserverad vorne schräg aufgepackt, hölzerne Türen, ein Cabrio mit grauem Stoffdach. Auf alten Fotos aus dem Krieg hatte sie solche Autos gesehen. Sie wusste nichts anzufangen damit. ‚Aus dem Krieg? Welchem Krieg?‘ Manchmal schämte Dora sich wegen dieses auffallenden Gefährts, aber meist war sie stolz darauf, dass