Tatort Nordsee. Sandra Dünschede

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Название Tatort Nordsee
Автор произведения Sandra Dünschede
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783734994906



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      August hatte den Reifen ganz stiekum ersetzt.

      »Dicker Hufeisennagel drin – nichts zu machen«, hatte er Henrike angelogen. Sie wusste zwar schon einiges, er wollte die Sache aber nicht auf seinen Hof kommen lassen, um zu verhindern, dass Henrike Panik bekam. Und doch musste er jetzt schleunigst etwas unternehmen. Wohin? Direkt zur Polizei? Der Reifen stand in der Scheune. Er würde ihn vielleicht erst Holger Janssen, dem Dorfpolizisten, zeigen müssen. Mal sehen, was der dazu meinte. Oder erst mit Wiard sprechen? Oder doch Henrike aufklären? Die würde glatt mitsamt der Kinder und Großeltern den Hof verlassen, bis geklärt war, wer hier nachts umging – das durfte doch nicht sein!

      Was auch immer geschehen würde – er musste erst einmal mit Wiard sprechen, dem fiel immer etwas ein. Außerdem musste das Getreide aus den Silos raus, besser würde die Qualität mit dem Alter schließlich nicht (war ja kein schottischer Whisky, der hier lagerte). Mit neuem Reifen hatte er vor, nach Norden zu fahren, um dort bei der Raiffeisengenossenschaft seine Ladung abzuliefern und den Lohn für seine Erntearbeit einzustreichen. Kurze Zeit vergaß er den Ärger und die Furcht, die sich seiner bemächtigt hatten. Die Kabine war warm, der Sitz gut gefedert, die Elektronik in Ordnung und die Schalldämpfung erstaunlich. Es war ohne Weiteres möglich, in Ruhe Radio zu hören, stereo. Er liebte es, samstags nachmittags zu pflügen, da er dabei ungestört die Berichterstattung zur Fußball-Bundesliga hören konnte, von der Anfangsphase bis zur Schlusskonferenz. Und wenn dann noch der ›HSV‹ gewann … Konnte das Leben schöner sein? Aber da war er sich nicht einig mit Freerk, der stand auf ›Werder Bremen‹. Dann fielen ihm Wiards Fenster, der kaputt geschossene Reifen, der Deich und alles andere wieder ein, und seine Miene verfinsterte sich.

      Der Trecker surrte ruhig dahin, und die Fahrt ging fast zu schnell vorbei, denn August dachte angestrengt nach. Er würde die Polizei einschalten müssen.

      Er parkte gleich vorne, da offenbar auch andere auf die Idee gekommen waren, heute Getreide zu liefern. Es war eine Menge Betrieb. Schneller, als er erwartet hatte, lief ihm Peter Kümmel über den Weg.

      »Moin, August, sag bloß, du hast immer noch Korn in deinen Silos?«, fragte dieser, als er August entdeckte.

      »Sicher, und ich verkauf nur, wenn die Preise hoch sind.«

      »Hast du doch gar nicht nötig bei den Subventionen, die ihr aus Brüssel kriegt«. Das Gesicht, das Kümmel bei dieser Aussage machte, verriet, dass er gespannt war, wie August auf diese Flanke reagieren würde.

      August konterte: »Subventionen, lachhaft, und wenn, dann absolut notwendig, da nun mal der ganze Markt völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Die Preise werden hier künstlich hochgehalten, dort künstlich gedrückt. Kann ich was dafür? Wir verdienen doch nichts mehr …«

      »Schon gut, schon gut, reg dich nicht auf, August, weiß ich ja alles, aber übertreiben brauchst du nun auch nicht, denn dein Trecker sieht nicht so aus, als würdet ihr am Hungertuch nagen. Was soll’s, irgendwann wird sich das ändern müssen, kann ja nicht immer so weitergehen mit der verdrehten Politik … Aber unser neuer Landwirtschaftsminister ist wohl auch nicht so ’ne große Leuchte. Ach, manchmal kann einem schlecht werden … Heute ist viel los hier, wirst wohl ein bisschen warten müssen. Ich würde dir glatt eine Tasse Tee aus meiner Thermoskanne abgeben, aber nur, weil du es bist«, bot Kümmel an.

      »Das ist nett, aber vielen Dank. Henrike hat mir so viele Erledigungen mit auf den Weg gegeben, dass die Zeit kaum reichen wird. Ich wollte mal eben in den Supermarkt, Kluntje und Tee sind alle«, lehnte August höflich ab.

      »Oh, das ist schlimm, Kluntje und Tee alle …«, murmelte Peter ein wenig geistesabwesend, und man merkte ihm an, dass er das ›schlimm‹ ernst meinte.

      »Kann ich den Schlepper hier stehen lassen?«, August zeigte zu seinem Deutz und machte sich schon auf den Weg Richtung Supermarkt.

      »Ja, den lass da mal stehen, das geht wohl, stört nicht weiter. Lass doch den Schlüssel hier. Falls eine Lücke entsteht, fahr ich ihn schon mal auf die Waage.«

      »Um dann gleich ein paar Zentner abzuziehen, oder wie?«, grinste August. »Nee, gute Idee, hier ist der Schlüssel. Ach, da fällt mir noch ein, dein Schwager, der ist doch beim Bauamt beschäftigt?«

      »Beim Amt für Küstenschutz, das ist was anderes. Die einen passen auf, dass die Deiche halten, die anderen, dass keiner einen Schuppen in seinem Garten baut, der nicht genehmigt ist. Warum fragst du?«

      »Hat er was mit dem Deichbau bei uns im Polder zu tun gehabt, im Sommer?«

      »Ja, sicher. Er sagte immer, der Bau dieses Deichabschnittes, das sei Sache seines Chefs. Er selbst zählt sich auch zu den Führungskräften, aber hier verweist er gerne auf seinen Vorgesetzten. Im September war er da, sollte irgendetwas prüfen, er hat es mal erwähnt, aber nichts Näheres dazu gesagt. Irgendjemand hatte behauptet, dass der Deich an einigen Stellen nicht dicht sei, oder so. Georg meinte jedenfalls, dass alles in Ordnung wäre.«

      »Wie heißt er noch mit Nachnamen?«

      »Redenius, Georg Redenius.« Kümmel rief einem anderen Schlepperfahrer zu, er solle weiter nach links fahren.

      »Kannst du mir seine Nummer geben?«

      »Sicher, was willst du von ihm?«

      »Hm, nur so. Mich interessiert der Deich natürlich, schließlich sitzen wir direkt dahinter, er schützt unseren Polder, da will ich nur nach ein paar Einzelheiten fragen, mehr nicht. Auch Zuständigkeiten und so. Du weißt ja, heutzutage darf man den Deich nicht mehr betreten, wegen Naturschutzbestimmungen. Da wollte ich mal fragen, ob es Ausnahmen für diejenigen gibt, die direkt dahinter wohnen.« August war froh, diese Begründung gefunden zu haben, und hoffte, dass sie ausreichend sein würde.

      »Kannste getrost vergessen«, wehrte Peter Kümmel ab, »die Vorschriften sind so scharf, dass du da auch nicht draufkämst, wenn du direkt am Deichfuß leben würdest und jeden Morgen über den Deich zur Arbeit laufen müsstest. Das hat mir Schorsch, also der Georg, schon öfter verklickert. Wenn du bei schönem Wetter mit ’nem Paddelboot über die Bucht fährst und auf ’ner Sandbank aussteigst, darfst du gleich blechen, wenn sie dich erwischen. So ist das jetzt auch auf dem Deich, jedenfalls in dem Abschnitt bei euch. Mensch Junge, die Staatskassen sind leer, da muss man neue Einnahmequellen schaffen. Ist doch eine gute Idee, Geld fürs Spazierengehen und Bootfahren zu kassieren. Lass man, unsere Politiker sind gar nicht so unkreativ, wie manche sagen. Demnächst kommt die Kneipenbesuchssteuer oder die Kartenspielsteuer. Verlass dich drauf!«

      »Mach wohl sein. Ist doch alles nix, holl mi up. Aber an der Ostkrümmung, da muss das nun wirklich nicht sein«, rutschte August heraus.

      »Richtig, von der Ostkrümmung sprach er«, pflichtete Peter ihm bei, ohne zu merken, dass August mehr gesagt hatte, als er eigentlich wollte. Der Betrieb nahm zu.

      »Du, ich muss hier mal wieder ein bisschen meiner Tätigkeit nachgehen«, meinte Peter Kümmel.

      »Ich muss auch los, ein Wagen ist schon wieder durch. Bis gleich«, rief er noch und machte sich auf den Weg, Kluntje zu kaufen. Indes ging das Wiegen der Getreidehänger weiter, August wusste seinen Wagen bei Peter Kümmel in guten Händen, und wenn die Schlange im Supermarkt nicht allzu lang wäre, würde er rechtzeitig zurück sein.

      August wählte die Nummer, die er von Peter Kümmel erhalten hatte, noch am selben Abend. Am anderen Ende der Leitung meldetet sich eine Stimme: »Redenius«.

      »Moin, August Saathoff hier, ich habe Ihre Nummer von Ihrem Schwager Peter, den ich gut kenne«, stellte sich August vor.

      »Ja, Moin, Ihren Namen kenne ich auch«, antwortete Redenius. »Peter hat mir schon öfter von Ihnen und Ihrem Hof erzählt.«

      »Ich habe ein paar Fragen zum Deich.«

      »Zum Deich?«, kam es zurück, und August meinte, plötzlich aufkommende Unsicherheit auf der anderen Seite zu verspüren.

      »Ja, zum Deich, dem neuen Deich, der neulich erst fertiggestellt wurde.«