Название | Wörterbuch der Soziologie |
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Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846385661 |
Daher sind alltägliche Situationsdefinitionen meist gesellschaftlich vorgegeben, selten individuell entwickelt. Die Anpassung an gesellschaftlich fixierte und oft verbindliche Situationsdefinitionen[77] ermöglicht Kooperation und Ordnung. Individuell relativ eigenständige Situationsdefinitionen können hingegen zu sozialem Wandel führen. Sie setzen i. d. R. Wissen über konventionelle Situationsdefinitionen voraus.
Soziologische Konzeptionen der Situationsdefinition unterstellen häufig, dass Menschen zu hohen Intelligenzleistungen fähig sind. Dies schließt nicht aus, dass tatsächliche Situationsdefinitionen von schlichten, fast unbewussten bis hin zu hochkomplexen, analysierenden reichen.
Literatur
Esser, Hartmut, 2001: Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. 6: Sinn und Kultur, Frankfurt a. M./New York. – Goffman, Erving, 1977: Rahmenanalyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a. M. – Thomas, William I.; Thomas, Dorothy S., 1928: The Child in America. Behaviour Problems and Programs, New York.
Stefan Hradil/Christian Steuerwald
Differenzierung
Differenzierung (engl. differentiation) ist das zentrale Konzept, um die Struktur sowie den Prozess der evolutionären Abfolge verschiedener Gesellschaften zu erfassen. Es hat eine lange Tradition und Kontinuität in der Geschichte der Soziologie.
Linien differenzierungstheoretischen Denkens
Drei Quellen und Linien differenzierungstheoretischen Denkens lassen sich identifizieren (Tyrell 2008: 107 ff.): a) Die biologienahe Tradition lässt sich von der Organismusanalogie inspirieren. Es wird von einem Ganzen ausgegangen, das sich aufgliedert und in der Teilung die Einheit wahrt; b) Eine zweite Variante stammt aus der Wirtschaftswissenschaft und arbeitet mit dem Begriff der Arbeitsteilung. Mit zunehmender Populationsdichte ergibt sich ein Zwang, ehemals fusionierte Tätigkeiten zu teilen, um dem Konkurrenzdruck durch Spezialisierung zu entgehen. Das Arbeitsteilungsparadigma bleibt sehr stark an die Rollenebene gebunden und erfasst weniger die Differenzierung auf weiteren Aggregatebenen von Ordnungen oder Systemen; c) Schließlich gibt es eine kulturwissenschaftliche Traditionslinie, in der die ideelle Differenzierung verschiedener Kultursphären im Mittelpunkt steht: Religion, Kunst, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft. Diese und andere Bereiche verdanken sich unterschiedlichen sinnspezifischen Orientierungen, die sich nicht mehr ohne Weiteres, wie in den beiden anderen sogenannten »Dekompositionsparadigmen«, miteinander vereinbaren lassen. Es geht hier nicht um die biologische oder ökonomische Teilung eines Ganzen, sondern die einzelnen Kultursphären und die ihnen korrespondierenden Gebilde und Strukturen beruhen auf ideellen Eigengesetzlichkeiten (Max Weber) oder Codes (Niklas Luhmann), die nicht mehr im Sinne der Teil-Ganzes-Vorstellung integrierbar sind.
Diese drei Quellen und Traditionslinien differenzierungstheoretischen Denkens, biologisch, ökonomisch und kulturwissenschaftlich, werden schwerpunktmäßig von unterschiedlichen Autoren entwickelt. Bei Herbert Spencer, Emile Durkheim und noch bei Georg Simmel dominiert die biologische Ganzheits- und die ökonomische Arbeitsteilungsvorstellung. Auch bei Talcott Parsons steht das Ganzes-Teil-Modell noch im Vordergrund, allerdings erweitert um eine ideelle Dimension. Niklas Luhmanns konsequent systemtheoretisch entwickeltes Differenzierungsverständnis betont vor allem die Sinn- oder Codedimension, die freilich bei ihm in einer gewissen Spannung zur nach wie vor vorhandenen dekompositionstheoretischen Denkfigur steht. Von Durkheim über Parsons bis hin zu Luhmann wird die Thematik mittels des methodologischen Kollektivismus entfaltet. Max Weber folgt dagegen dem methodologischen Individualismus. Gemäß seiner verstehenden Soziologie interessiert er sich dafür, wie aus der sinnhaften Orientierung der Akteure soziale Ordnungen entstehen, die einer je spezifischen kulturellen Eigendynamik folgen.
An diese Klassiker der Differenzierungstheorie wird auf verschiedene Weise in der neueren Diskussion angeknüpft. In den 1980er Jahren gab es in den USA den Versuch der sogenannten Neofunktionalisten um Jeffrey Alexander (Alexander/Colomy 1990), Parsons kritisch in Richtung einer handlungstheoretischen und historischen Soziologie weiterzuentwickeln. Dieser Ansatz ist jedoch zum Erliegen gekommen und hat keine nachhaltige Theorieentwicklung angestoßen. In Deutschland ist dagegen die differenzierungstheoretische Diskussion bis heute virulent geblieben (Schwinn et al. 2011). Nicht Parsons, sondern Luhmann liefert hier die zentrale Bezugstheorie.[78] Eine Reihe seiner Schüler betreibt hierbei eine orthodoxe Interpretation, weniger die Weiterentwicklung seines Werkes. In Absetzung davon sind aus der Gründung des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung einige Versuche entstanden, das Luhmann’sche Differenzierungsverständnis handlungstheoretisch zu korrigieren und zu erweitern (Mayntz et al. 1988; Schimank 2007). In Anknüpfung an Max Weber werden schließlich Anstrengungen unternommen, das Differenzierungsthema handlungstheoretisch und historisch detaillierter zu entwickeln (Schwinn 2001).
Differenzierungsprozesse in modernen Gesellschaften
Das Differenzierungsmodell wird vor allem für die moderne Gesellschaft entwickelt. Als Prozesskonzept beansprucht es, auch alle vormodernen Strukturmuster und ihre evolutionäre Abfolge zu erfassen; dies geschieht aber mehr im Hinblick auf eine Rekonstruktion des historischen Ablaufs auf die moderne Struktur hin. Die evolutionären Vorläufer, etwa die segmentäre und stratifikatorische Differenzierung, dienen als historische Kontrastfolien. Entsprechend hat das Konzept in der Geschichtswissenschaft nur eine spärliche Rezeption gefunden. Differenzierung meint die Entflechtung traditioneller Strukturen, in denen heterogene Aufgaben fusioniert und zusammengebunden sind. Durkheim und Parsons verstehen diesen Vorgang als eine Arbeitsteilung, in der eine funktionale, diffuse Einheit in Teile dekomponiert und im Austausch zwischen ihnen integriert wird. Ist es bei Durkheim die voranschreitende Spezialisierung auf der Rollenebene von Berufen, so ist es bei Parsons die funktionale Differenzierung auf der Systemebene, die als zentral herausgestellt wird. Nach Parsons müssen vier funktionale Erfordernisse gesellschaftlicher Reproduktion erfüllt werden (AGIL-Schema), die im Laufe der sozialen Evolution hin zur modernen Struktur immer stärker entflochten werden. Funktionale Spezialisierung betont die Vorteile der Leistungssteigerung, die als ein wesentlicher Motor der Differenzierungsdynamik angenommen wird.
Dieses Dekompositions- und Arbeitsteilungsmodell, wie generell der Ausdruck »funktionale Differenzierung«, findet sich im Werk von Max Weber nicht. Hier läuft die Differenzierungsthematik unter dem Rationalitätsbegriff. Anders als bei Parsons, ist dies kein universeller evolutionärer Prozess, sondern charakteristisch für die Sondergestalt der okzidentalen Entwicklung, die durch eine spezifische Rationalisierung aller Lebensbereiche gekennzeichnet ist. Rationalisierung als Differenzierung bedeutet die Entwicklung von immer schärfer auseinandertretenden Sphären des Lebens, die von ihren eigenen Sinnund Sachlogiken geleitet werden. Dieser Prozess vollzieht sich auf den beiden Ebenen der Wert- und der Institutionendifferenzierung. Die verschiedenen institutionalisierten Sinn- und Leitkriterien stehen untereinander in spannungs- und konfliktreichen Beziehungen. Aus solchen Konfigurationen bestimmt sich die Dynamik einer Sozial- und Kulturordnung. Weber identifiziert die differenzierten Bereiche nicht über die Frage nach den Bestandsbedingungen sozialer Systeme, sondern durch seine historischen, insbesondere religionssoziologischen Untersuchungen stößt er auf unterschiedliche Möglichkeiten, dem Handeln einen differierenden Sinn zu geben und soziale Beziehungen und Ordnungen danach auszurichten.
Trotz der grundlagentheoretischen Differenz (Handlungs- versus Systemtheorie) weist Luhmann in Bezug auf verschiedene Aspekte eine größere Nähe zu Weber als zu seinem Vorgänger Parsons auf. Die Funktionen lassen sich nicht nach einem abstrakten Schema allgemein, sondern nur historisch bestimmen, und der Durchbruch zum modernen Ordnungsmuster vollzieht sich nicht nach einer evolutionären Zwangsläufigkeit, sondern ist historisch eher unwahrscheinlich und einmalig. Schließlich begreift Luhmann Differenzierung nicht nach dem Modell der Arbeitsteilung, sondern das Auseinandertreten von Sinnperspektiven ist primär. Während Parsons aus der privilegierten Stellung übergreifender Werte und aus dem einheitsverbürgenden AGIL-Schema jedem Teilsystem seinen angemessenen Platz im Ganzen anweisen konnte, ist es nach Luhmann nicht