Название | Wörterbuch der Soziologie |
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Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846385661 |
Damit kommen wir zur Unterscheidung von prozess- und struktur-bedingter Anomie. Durkheim hatte zunächst vor allem jene Regulierungsund Orientierungsdefizite im Blick, die durch einen rapiden, tiefgreifenden sozialen Wandel ausgelöst werden – weitgehend unabhängig von dessen spezifischer Entwicklungsrichtung (s. Thome 2010). Später entdeckte er die Möglichkeit einer »chronischen« Anomie in Form einer regulativ nicht mehr aufhebbaren Dominanz der Ökonomie über alle anderen Lebensbereiche.
Merton greift Durkheims Überlegungen auf, abstrahiert und systematisiert sie. Ihm zufolge ist eine anomische Konstellation strukturell durch drei Komponenten gegeben: a) Kulturell sind Werte und Handlungsziele definiert, die allgemein akzeptiert[23] und angestrebt werden. b) Kulturell sind auch die Wege und Mittel festgelegt, die dabei legitimerweise eingesetzt werden dürfen. c) Die Sozialstruktur verteilt diese Mittel unter den Aspiranten in ungleichem Maße, so dass viele Akteure die legitimen Ziele nicht mit legitimen Mitteln erreichen können. Es entsteht also ein hoher Anreiz, sich illegitimer (auch gesetzwidriger) Mittel zu bedienen. Dieser Anreiz ist umso stärker, je dominanter ein einzelnes Ziel ist (insbesondere der eigene ökonomische Erfolg im Vergleich zum Erfolg Anderer). Zu beachten ist außerdem, dass auch die illegitimen Mittel sozial ungleich verteilt sind, was für diejenigen, die auch hierin benachteiligt sind, den Einsatz körperlicher Gewalt besonders attraktiv macht.
Literatur
Agnew, Robert; Kaufman, Joanne (Hg.), 2010: Anomie, Strain and Subcultural Theories of Crime, Surrey (GB). – Dahrendorf, Ralf, 1979: Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie, Frankfurt a. M. – Durkheim, Emile, 1983: Der Selbstmord, Frankfurt a. M. (1897). – Ders., 1992: Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt a. M. (1893). – Merton, Robert K., 1968: Social Theory and Social Structure, Glencoe, IL (Frühere Ausgaben 1957/1949). – Opp, Karl-Dieter, 1974: Abweichendes Verhalten und Gesellschaftsstruktur, Neuwied. – Thome, Helmut, 2010: Violent Crime (and Suicide) in Imperial Germany, 1883–1902: Quantitative Analyses and a Durkheimian Interpretation; in: International Criminal Justice Review 20, 5–34. – Waldmann, Peter (Hg.), 2003: Diktatur, Demokratisierung und soziale Anomie, München.
Helmut Thome
Anspruchsniveau
Das Anspruchsniveau (engl. level of aspiration) bezeichnet einen Maßstab, an dem ein Individuum seine eigene Leistung misst bzw. bewertet. Der Begriff stammt aus der psychologischen Entscheidungsforschung (Charakterdiagnostik; Leistungsmotivation) und wurde dort von Lewin und Mitarbeitern eingeführt (Lewin et al. 1944; Hoppe 1931). Untersucht wurden der Einfluss des individuellen Anspruchsniveaus auf Erfolgs- und Misserfolgserlebnisse und seine Bedeutung als motivbildender Faktor in leistungsorientierten Situationen. Dem Anspruchsniveau ist ein Zeitfaktor inhärent, der in den Wirtschaftswissenschaften als Zielausmaß (bzgl. Leistung, Besitz und Möglichkeiten) gekennzeichnet wird, das ein Individuum gegenwärtig oder in der Zukunft erreichen möchte. Im Marketing dient das Anspruchsniveau auch zur Reduktion möglicher Handlungsalternativen. Entspricht eine individuelle Leistung dem Anspruchsniveau oder liegt sie darüber, so erlebt das Individuum dies als Erfolg und erhöht in der Regel sein Anspruchsniveau. Liegt die Leistung darunter, so wird das Anspruchsniveau herabgesetzt. Liegt eine Leistung sehr weit über oder sehr weit unter dem Anspruchsniveau, so wird diese externen Faktoren zugeschrieben. Eine große Abweichung des Anspruchsniveaus vom tatsächlichen Leistungsniveau kann auf einen mangelnden Realitätssinn zurückgeführt werden oder aber auf eine neurotische Fehlhaltung im Leistungsbereich. Die Herausbildung eines »realistischen Sinns« (Lewin/ Lewin 1953) wird von den Sozialisationsbedingungen mitbestimmt. Damit spielen, neben im weitesten Sinne individuellen Variablen (Leistungsmotiv; Aufgabenhaltung; persönliche Standards) auch überindividuelle bzw. soziale Faktoren (Gruppendruck; Macht; geschlechtsspezifische bzw. ethnische Unterschiede) eine nicht unbedeutende Rolle im Hinblick auf die Genese des Anspruchsniveaus. Auf der Makroebene verändern sich gruppen- oder gemeinschaftsspezifische Anspruchsniveaus unter Deprivations- bzw. Wohlfahrtsbedingungen.
Literatur
Hoppe, Ferdinand, 1930: Erfolg und Misserfolg; in: Psychologische Forschung 40, 1–62. – Lewin, Kurt; Lewin, Gertrud W., 1953: Die Lösung sozialer Konflikte, Bad Nauheim. – Lewin, Kurt et al., 1944: Level of aspiration; in: Hunt, J. McV (ed.): Personality and the behaviour disorders, New York, 333–378.
Birgit Blättel-Mink
Arbeiterbewegung
Die Arbeiterbewegung (engl. labour movement) ist die dominante soziale Bewegung des 19. und frühen 20. Jh.s. Sie ist Produkt der kapitalistischen Industrialisierung (Industrielle Revolution) und ihrer sozialen Begleit- und Folgeerscheinungen (»Entfremdung«, »soziale Frage«, »Arbeiterfrage«). Die freie Lohnarbeit als dauerhaftes, »vererbbares« Schicksal wurde den besitzlosen, depossedierten, von zünftigen [24]Privilegien entbundenen Schichten (Proletariat) zum gemeinsamen Ausgangspunkt solidarischer Selbsthilfe (Hilfskassen, Genossenschaften), kollektiver Gegenwehr (Streiks, Kampfkoalitionen, Gewerkschaften) und politischer Organisierung (Arbeiterparteien); daneben formierten sich – als »vierte Säule« der Arbeiterbewegung – Arbeiterbildungsvereine und proletarische Freizeitorganisationen. Aus den zunächst spontanen Rebellionen (Maschinensturm) und vielfältigen kollektiven Aktionen zur Verbesserung der sozialen Lage, Erkämpfung politischer Rechte und Hebung des Bildungsniveaus entwickelte sich eine mächtige Bewegung, die den von abhängiger Arbeit lebenden und gesellschaftlich benachteiligten Unterschichten das Selbstbewusstsein vermittelte, die eigentlich produktive und »werteschaffende« Klasse zu sein (Klassenbewusstsein).
Hervorgegangen ist die Arbeiterbewegung nicht aus den verelendeten Schichten des Industrieproletariats; ihre ersten Trägergruppen kamen vielmehr aus der »Arbeiteraristokratie«, waren Handwerkerund Facharbeitergruppen, die sich gegen die Proletarisierung ihrer Arbeits- und Lebenssituation zur Wehr setzten. So gehörten die Buchdrucker zu den frühesten Gewerkschaftsgründern. Aus den bürgerlichen Schichten zur Arbeiterbewegung stoßende Intellektuelle wurden zu ihren wichtigsten Theoretikern (Marx, Engels, Lassalle, Lenin, Trotzki, Luxemburg).
Bei allen Unterschieden der politischen Strömungen war das generelle Ziel der Arbeiterbewegung die soziale und politische Emanzipation der arbeitenden Klasse, die Aufhebung ihrer gesellschaftlichen Unterprivilegierung und Schaffung einer neuen, gerechten Gesellschaftsordnung. Der Marxismus, der sich als theoretischer Ausdruck der Arbeiterbewegung verstand, gewann auf die sozialistische Arbeiterbewegung Europas erheblichen Einfluss. Als Mitglied des Zentralrats der 1864 in London gegründeten »Internationalen Arbeiterassoziation« (IAA, später »Erste Internationale« genannt) formulierte Marx programmatische Aussagen (z. B. Inauguraladresse und Statuten der IAA). Sie postulierten als historische Aufgabe der Arbeiterbewegung die »Selbstbefreiung« des Proletariats durch Klassenkampf und revolutionäre Eroberung der politischen Macht zwecks Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft. Syndikalistische Richtungen der Arbeiterbewegung fanden vornehmlich in den romanischen Ländern Rückhalt; sie verwarfen – unter dem Einfluss des Anarchismus und ihrer Theoretiker (Proudhon, Bakunin) – Parlamentarismus, Wahlbeteiligung und politischen Kampf; stattdessen propagierten sie die »direkte Aktion«, letztlich den Generalstreik als »Revolution der gekreuzten Arme«. Sozialreformerische bzw. labouristische