Название | Qualitative Medienforschung |
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Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846386477 |
Der schwedische Kommunikationswissenschaftler Karl Erik Rosengren (1996) hat das Konzept des Lebensstils modifiziert und darauf hingewiesen, dass alle Handlungen (und damit auch die Nutzung von Medienangeboten) durch strukturelle, positionelle und individuelle Merkmale und Bedingungen determiniert seien. Rosengren hat drei Typen von Handlungsmustern unterschieden:
Lebensformen sind dabei strukturell bestimmt – Handlungsmuster, die Menschen, die in Industriegesellschaften leben, von denen in Agrargesellschaften unterscheiden, Großstadt- von Dorfbewohnern und muslimische Länder von der westlichen Welt.
Der Begriff »Lebensweise« zielt auf die Position des Menschen, auf Geschlecht, Schicht, Alter und Bildung. Die Hochschullehrerin abonniert andere Zeitungen als der Fernfahrer (oder würde es zumindest gern, wenn sie denn Zeit zum Lesen hätte), und ein 17-Jähriger, der auf ganz verschiedenen Gebieten noch auf der Suche ist, hat andere Bedürfnisse als eine 80-Jährige, die kein Wissen mehr akkumulieren muss und die niemand mehr fragt, welche Bücher sie gerade liest.
Als Lebensstile bezeichnete Rosengren dagegen die Handlungsmuster, die individuell bestimmt sind und nicht von der gesellschaftlichen Struktur und von der Position, die der Mensch gerade besetzt – Handlungsmuster, die der Einzelne mehr oder weniger bewusst selbst gestaltet und bei denen er seinen Werten und Überzeugungen folgt.
Natürlich gibt es weder Lebensformen noch Lebensweisen oder Lebensstile in Reinkultur. Alltagshandeln ist vielmehr immer eine Mischung aus allen drei Arten von Handlungsmustern. Rosengren hat deshalb davor gewarnt, den hier definierten »Lebensstil« mit Lebensmustern einzelner Menschen zu verwechseln. Der persönliche Lebensstil sei etwas ganz anderes. Mit Rosengrens Modell lässt sich vor allem der Einfluss individueller Merkmale bestimmen und die Frage beantworten, welchen Spielraum der Mensch bei der Gestaltung seines Lebens hat. Wie wirkt sich beispielsweise der Wert »Sicherheit in der Familie« auf den Musikgeschmack aus – wie stark im Vergleich mit positionellen Merkmalen (Geschlecht, Schicht, Bildung), wie stark im Vergleich mit strukturellen Merkmalen (Leben in der Großstadt etwa)?
In der qualitativen Medienforschung eignet sich das Modell nicht nur für die Erklärung unterschiedlicher Muster im Umgang mit Medienangeboten, sondern auch für die Auswahl von Untersuchungsteilnehmern. Mit seinen Begriffen »Lebensform« und »Lebensweise« liefert Rosengren Hinweise auf Determinanten der Mediennutzung und damit mögliche Kriterien für Studien, die mit dem Verfahren der theoretischen Auswahl arbeiten (vgl. Meyen u.a. 2011, S. 67–73). Das Wort »Hinweise« ist dabei mit Bedacht gewählt. Es ist zwar einleuchtend, dass strukturelle und positionelle Merkmale und Bedingungen alle Handlungen mitbestimmen, die Skala der möglichen Faktoren aber scheint nach oben offen zu sein. Rosengren selbst hat die positionellen Merkmale Alter, Geschlecht, Bildung und Stellung im Beruf genannt. Wie sieht es mit dem Einkommen aus, wie mit Zahl und Alter der Kinder sowie mit der Familiengröße? Ist nicht der Begriff »Lebensphase« viel besser als »Alter«? In einem Vierpersonenhaushalt mit zwei Kleinkindern läuft der Alltag ganz anders als bei einem Single. Bei den strukturellen Determinanten ist Rosengren noch allgemeiner geblieben und hat nur drei Bereiche aufgezählt: den Grad der Industrialisierung, die Urbanisierung und die Religion. Deckt dies die gesamte Bandbreite ab? Welche Rolle spielen Traditionen (beim Thema Mediennutzung auch überlieferte Rezeptionsmuster), welche das politische System und das Medienangebot und welche das Klima, die Geografie und die Bevölkerungsdichte? Diese Fragen sollen zeigen, dass hinter dem Lebensstil-Modell von Rosengren ein ähnliches Problem steht wie hinter vielen Arbeiten aus der Uses-and-Gratifications-Tradition (vgl. Meyen 2004, S. 15–48): Es fehlt eine Sozialtheorie, die das Verhältnis von Handeln und Struktur konzeptualisiert und damit erlaubt, Untersuchungsdesign und Ergebnisse nachzuvollziehen.
Habitus I: Theoretische Grundlagen
Ein Beispiel für eine solche Sozialtheorie ist die Soziologie Bourdieus, die den Anspruch hat, alle Spielarten menschlichen Handelns und unterschiedlichste Strukturen erklären zu können und sich deshalb nicht nur in der Mediennutzungsforschung anwenden lässt, sondern in nahezu allen Feldern der Kommunikationswissenschaft (vgl. Wiedemann/Meyen 2013; Park 2014). Bei Bourdieu werden wir von dem Wunsch angetrieben, uns von anderen Menschen abzuheben. »Ein Punkt, ein Individuum in einem Raum sein« und damit »etwas bedeuten«, heiße nichts anderes als »sich unterscheiden« (Bourdieu 1998, S. 22). Real ist für Bourdieu die Beziehung zu den anderen, der Abstand zum Gegenüber. Dieser Abstand wird immer wieder aufs Neue markiert, meist ohne die entsprechenden strategischen Absichten und ohne dass uns dieses Ziel überhaupt klar sein muss. Arenen für solche Kämpfe zwischen Menschen sind soziale Felder, die bei Bourdieu aus Akteuren bestehen (und zwar aus allen, die z. B. Politik betreiben oder Kunst und Literatur erzeugen und verbreiten) sowie aus »den objektiven Beziehungen« zwischen diesen Akteuren (ebd., S. 20). Um das Gewicht des einzelnen Akteurs und damit seinen Handlungsspielraum messen zu können, arbeitet Bourdieu mit dem Kapital-Konzept und unterscheidet vier Kapitalformen (ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital, vgl. Wiedemann 2014, S. 89). Die Begriffe »Feld« und »Kapital« gehören zusammen, weil in jedem sozialen Feld eine andere Kapitalmischung Erfolg verspricht und weil in den einzelnen Feldern jeweils spezifische Formen von Kapital entstehen.
Die beiden anderen zentralen Denkwerkzeuge Bourdieus werden hier erwähnt, weil der Habitus untrennbar mit der Kapitalausstattung verbunden ist sowie mit den sozialen Feldern, in denen sich Menschen bewegen. Unsere Erfahrungen, die sich in den Habitus einschreiben, hängen von der Position ab (in sozialen Feldern, im sozialen Raum) sowie von den verfügbaren Kapitalien. Bei Bourdieu (1987a, S. 277) ist der Habitus der Rahmen für Handlungen, Einstellungen zu Handlungen und Ursachen von Handlungen – das »Erklärungsprinzip«, auf dem alles basiert und von dem alles abhängt. Das Konzept zielt zwar auf dauerhafte Dispositionen und betont, dass frühe Erfahrungen (etwa in der Kindheit) spätere formen, der Habitus ist aber nichts Starres und Unveränderliches, sondern wird immer wieder modifiziert. Obwohl der Habitus durch die Gesellschaft und durch die Stellung im sozialen Raum geprägt ist und obwohl die jeweils verfügbaren Ressourcen Handlungsgrenzen markieren, gesteht Bourdieu dem Menschen innerhalb dieser Grenzen sehr wohl Freiheit, Individualität und die Chance auf Innovationen zu. Der Habitus legt noch nicht »die Praktiken an sich« fest, sondern lediglich den »Spielraum«, in dem sich ein Akteur bewegt (Schwingel 2005, S. 69): Was ist möglich und was nicht? Welche Dinge schockieren uns, was ist undenkbar und was würden wir garantiert nie tun? Dieser Spielraum ist allerdings deutlich kleiner als in den extremen Varianten des Lebensstil-Konzepts.
Um konkrete Praxisformen (wie etwa die Nutzung einer Onlinezeitung, die Arbeit eines Nachrichtenredakteurs oder die Verwendung bestimmter Methoden in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung) beschreiben und untersuchen zu können, hat Bourdieu vorgeschlagen, den Habitus analytisch zu teilen – in ein Opus operatum und einen Modus Operandi. Der Modus Operandi (wie und warum handelt man?) wird dabei durch das Opus operatum definiert, durch die persönliche Lebensgeschichte, die sich an äußerlichen Merkmalen festmachen lässt (Alter, Geschlecht, Aussehen, Körpergröße), an der Sozialisation (Herkunft, Ausbildung, Berufsstationen) und an der aktuellen Lebenssituation (Familie, Kinder, Kapitalausstattung, Aktivitäten außerhalb des Berufs, Zukunftsperspektiven). Anders ausgedrückt: Im Opus operatum (im »Ursprung« des Habitus) wird die soziale Position sichtbar. Der Kapitalbesitz einer Person wird inkorporiert und so in dauerhaften Dispositionen Teil des Habitus – Bildung beispielsweise als kulturelles Kapital. Das System dieser Dispositionen ist nicht starr, sondern wird immer wieder modifiziert