Название | Das qualitative Interview |
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Автор произведения | Manfred Lueger |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846352809 |
Die Forschung schreibt den befragten Personen eine Expertise zu, die auf der ungleichen Verteilung von Wissen beruht und als Sedimentierung, Einlagerung und Verfügbarkeit von privilegierter Erfahrung gesehen wird. Dieses Wissen kann auch die Form eines abstrahierenden Wissens externer Spezialist*innen annehmen (etwa von Personen, die sich über Ausbildung, wissenschaftliche Betätigung, Literaturstudium oder distanzierende Betrachtung einen herausgehobenen Wissensstand über ein spezifisches Wissensgebiet – auch unabhängig von praktischen Erfahrungen – angeeignet haben). Dabei kann es sich um Spezialwissen oder um Reflexionswissen handeln.
Allerdings ist im Rahmen einer Studie zu entscheiden, welches Wissen man für das Verständnis des fokussierten sozialen Systems benötigt. Drei Typen von Expertisen, die sich durch eine zunehmend abstrahierende Distanzierung vom praktischen Handlungswissen im Untersuchungsfeld auszeichnen, lassen sich dabei unterscheiden (vgl. Froschauer/Lueger 2009a):
a)Die systeminterne Handlungsexpertise: Das Wissen dieser Gruppe ist vorrangig Erfahrungswissen, das aus der Teilnahme an Aktivitäten im untersuchten System entstammt (Primärerfahrung; z.B. alle Mitarbeiter*innen eines Unternehmens). In der Regel ist es als implizites Wissen in den Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen eingelagert. In der Ausformung darauf aufbauender sozialer Praktiken zeigt sich die soziale Differenzierung in verschiedene Handlungsfelder und deren Zusammenspiel, weshalb diese Expertise für das tiefere Verständnis der Logik des Untersuchungsgegenstandes und zur Produktion neuer Erkenntnis unverzichtbar ist. Das Wissen der feldinternen Expert*innen ist extrem heterogen, weil auf Subjektebene die Sedimentierung von Erfahrungen durch den jeweils spezifischen lebensweltlichen Hintergrund und durch subjektive Relevanzstrukturen bedingt ist (z. B. Sozialisation, Positionierung in einer Organisation, privates Umfeld). Diesen feldinternen Expert*innen der Praxis wird im Forschungszusammenhang deshalb kein Laienstatus zugewiesen, weil nicht deren Alltagswissen relevant ist, sondern ihr Sonderwissen, das für erfolgreiches Handeln in spezifischen Bereichen sozialer Systeme erforderlich ist.
b)Die feldinterne Reflexionsexpertise: Diese Expertise bezieht sich über das Handlungswissen hinaus auf größere Zusammenhänge (Primär- und Sekundärerfahrungen; z. B. Außendienstmitarbeiter*innen als Schnittstelle zwischen Unternehmen und wirtschaftlich relevantem Umfeld, Mitglieder des Betriebsrats als Vermittlungsinstanz, Akteur*innen im unternehmensrelevanten Umfeld). Dieses Wissen entwickelt sich in erster Linie dort, wo Akteur*innen auf die Berücksichtigung der Sichtweisen anderer Personen angewiesen sind und in ihren Interaktionen immer wieder systeminterne und -externe Grenzen überschreiten. Weil Personen mit Reflexionsexpertise an Schnittstellen sozialer Systeme [32]agieren, sind sie meist aufmerksame Beobachter*innen des systemspezifischen Kontextes, weil sie die verschiedenen (auch widersprüchlichen) Anforderungen und Teilperspektiven zu einem Ganzen zusammenfügen müssen. Dieses Wissen ist daher stärker relational geprägt, reflexiver und abstrakter als konkretes Handlungswissen. Explizierbar ist dieses Wissen vor allem, wenn die offizielle Sicht eines sozialen Systems angesprochen ist, es unterliegt aber vielfach Thematisierungsschranken, insbesondere wenn die Person mit widersprüchlichen Interessen oder Erwartungen zwischen den verschiedenen Bereichen konfrontiert ist.
c)Die externe Expertise: Diese Gruppe verfügt über fundiertes theoretisches Wissen über den Gegenstandsbereich, den sie von verschiedenen Seiten und in verschiedensten (intra- und interdisziplinären) Facetten beleuchten kann (z. B. Volkswirt*innen als Expert*innen über die Entwicklung des Arbeitsmarkts in einem Wirtschaftssektor, Organisationssoziolog*innen). Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, dieses Reflexions- und Sonderwissen in die Forschungsarbeit zu integrieren. Im Forschungsprozess kann es zur Planung beitragen, bei der Ausarbeitung spezifischer Kontextannahmen helfen und im Nachhinein als Kontrastmaterial für die Ergebnisse dienen. Externen Expert*innen mit wissenschaftlich abstrahiertem und systematisch produziertem Sonderwissen kommt in interpretativen Analysen sozialer Systeme eine eher randständige Bedeutung zu, weil ihnen vielfach praktisches Erfahrungs- bzw. Handlungswissen abgeht. Eine solche Expertise reproduziert primär das bereits verfügbare Wissen, kann aber das Augenmerk auf interessante und ungeklärte Aspekte richten oder eventuelle blinde Flecken bewusst machen.
Mit Forschungsgesprächen lassen sich zwei wichtige Erkenntnisbereiche abdecken: Vordergründig wird der kommunikative Zugang zum Feld gesucht, wobei Beschreibungen und Begründungen als Ausdrucksgestalt für die zugrundeliegenden Selektionsmechanismen des untersuchten Systems dienen. Darüber hinaus werden Mitglieder eines sozialen Systems als feldinterne Expert*innen mit spezifischen Forschungssettings konfrontiert: In diesen müssen sie selbst initiativ werden (z. B. angeregt durch offene Fragen) und demonstrieren ihre spezifischen Handlungskompetenzen als Sonderform der Expertise, indem sie zumindest partiell die Organisierung des Forschungsprozesses übernehmen (siehe das Beispiel in Abschnitt 2.4).
Das in sozialen Systemen gehandhabte Erfahrungswissen ist ein sozial angeeignetes Wissen, das die internen Differenzen zwischen Personengruppen spiegelt. Die Aussagen in Gesprächen repräsentieren folglich die systemspezifische Wissensverteilung, die zugleich Grund und Folge systeminterner Kooperationsbeziehungen und Grenzziehungen ist.
Die bisherigen Ausführungen strichen jene Anforderungen heraus, die bei der Durchführung und Analyse von Expert*innengesprächen in einem interpretativ orientierten Forschungsdesign zur Analyse sozialer Systeme von zentraler Bedeu-[33]tung sind. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass die Aktualisierung der jeweiligen Expertise spezifische verfahrenstechnische Vorkehrungen der Erhebung (z. B. Fokussierung auf spezifische Expertisen) und Interpretation erfordert. Darüber hinaus entfaltet sich die Leistungsfähigkeit von Forschungsgesprächen erst im Kontext einer adäquaten Forschungsorganisierung.
Gespräche nehmen (neben der teilnehmenden Beobachtung) als unmittelbare Kommunikation zwischen Forscher*innen und Personen aus der interessierenden Lebenswelt eine Schlüsselstellung in qualitativen Studien ein. Grundsätzlich kann dieses Gesprächsmaterial drei Funktionen erfüllen:
a)Genaue Deskription eines bestimmten Phänomens (auch im Vorfeld oder in der Folge quantitativer Analysen):
Dies ist wichtig, um ein Phänomen genau abgrenzen und in seiner Vielfalt darstellen zu können. Zudem eignen sich deskriptive Interviews zur Analyse der Vielfalt der Perspektiven bezüglich eines sozialen Phänomens und zur Analyse der spezifischen Arten von Beschreibungen. Insbesondere in der explorativen Forschungsphase sollte dieser Funktion besondere Beachtung geschenkt werden.
b)Die Inspektion eines sozialen Phänomens in seinem Kontext bzw. im Zusammenhang mit anderen Phänomenen, seine Entwicklung, Stabilisierung und Veränderung im Verlauf der Zeit:
Über die Deskription hinaus können hier Faktoren herausgefiltert werden, die zum Verständnis der Struktur und des Prozesses des Phänomens beitragen. Dabei werden die Erklärungsmodelle von Mitgliedern der untersuchten Systeme erkundet und mit den tatsächlichen Operationsweisen des Systems verglichen. Im Zuge dessen lässt sich ergründen, wie bestimmte Ordnungsmuster zustande kommen, sodass die darin auftretenden Phänomene als sinnvoll gelten können, und welche Gründe das System veranlassen, sich so zu organisieren, dass es bleibt, wie es ist. Dieser Materialtyp wird in der vorliegenden Arbeit besonders berücksichtigt und spielt in der Hauptforschungsphase eines Forschungsprozesses eine wichtige Rolle.