Название | Medizingeschichte |
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Автор произведения | Robert Jutte |
Жанр | Медицина |
Серия | |
Издательство | Медицина |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846339275 |
1.1.2 Neuere Arbeitsfelder
Zu den neueren Arbeitsfeldern der Medizingeschichte gehören besonders die Ideengeschichte (S. 165), die Sozialgeschichte (S. 173), die Professionalisierung (S. 364) und Medikalisierung (S. 357), die Patientengeschichte (S. 201) und Körpergeschichte (S. 229) sowie nicht zuletzt die Historische Demographie (S. 261).
Der Konzeptgeschichte im Sinne einer erweiterten Ideengeschichte (S. 165) hat sich besonders Karl Eduard Rothschuh (1908–1984) in seinem richtungweisenden Werk Konzepte der Medizin (1978) zugewandt. Unter einem medizinischen Konzept (nach lat. conceptus, im Sinne einer zusammenfassenden Idee) verstand der Münsteraner Medizinhistoriker den Versuch, alle „Denkbemühungen, das Erfahrungsgut im Umgang mit dem Kranken in eine Struktur allgemeiner Grundsätze und daraus ableitbarer Folgerungen einzubetten“ (Rothschuh, 1978, S. XIII). Im Einzelnen habe eine Konzeptgeschichte der Medizin im weitesten Sinn die Lehre vom Menschen (Anthropologie, Naturlehre, Physiologie), sodann die Lehre von der Krankheit (Ursachen, Ausbildung, Erscheinungen, Symptome, Verlauf und Krankheitsformenlehre) und schließlich die Lehre von der Heilung (heilende Kräfte, Heilungshilfen, Heilungswege, Indikationen und Voraussagen) zu behandeln. Rothschuh war sich bereits 1978 darüber im Klaren, [<<16] dass die Erfahrungsbildung und das Denken in solchen Konzepten nur im Kontext der jeweiligen historischen Situation sowie unter Berücksichtigung des „soziokulturellen Geistesklimas“ der jeweiligen Zeit möglich sein können. Unzulässig seien Rückschlüsse und Bewertungen solcher Konzepte ex post, entscheidend aber sei deren Schlüssigkeit in ihrem historischen Kontext, an der man ihre „Wissenschaftlichkeit, Folgerichtigkeit und Glaubwürdigkeit“ zu bemessen habe. Unter Wissenschaftlichkeit in der Perspektive einer unvoreingenommenen Konzeptgeschichte verstand Rothschuh den „Grad von Bestätigungsfähigkeit“, unter deren „Folgerichtigkeit“ könne man ihre „Bestätigungsfähigkeit“ und „Widerspruchsfreiheit“ in den Denk- und Handlungsgrenzen eines Konzeptes verstehen, und „Glaubwürdigkeit“ meine vor allem den Grad des „Vertrauens“, das von den Handlungsträgern eines medizinischen Konzepts, also von Heilkundigen im weitesten Sinne und von seinen Nutznießern, also den an Krankheit leidenden Heilsuchenden (Patienten), einem solchen Konzept entgegengebracht werde (Rothschuh, 1978, S. XIII).
Im Rahmen der ideengeleiteten Konzeptgeschichte blieb freilich der methodische Ansatz einer an den gesellschaftlichen Bedingungen von Krankheit und Heilung orientierten Darstellung noch weitgehend unberücksichtigt (Labisch, 1992). Diesen Fragen wendet sich die Sozialgeschichte (S. 173) zu. Ist unter Sozialgeschichte im weitesten Sinne die Erforschung und Beschreibung sozialer Strukturen nach Gruppen, Ständen, Schichten oder Klassen in vergangenen Gesellschaften zu verstehen, die sich mit der Größe, Lage und Bedeutung dieser Gruppen sowie mit der Geschichte sozialer Prozesse beschäftigt, so bedeutet dies für die Medizingeschichte die Einbeziehung solcher erkenntnisleitender Prinzipien in die Erforschung ihrer Gegenstände. Damit wird Medizingeschichte durchaus zu einer Teildisziplin der Politik- und Gesellschaftsgeschichte. Die Sozialgeschichte der Medizin stellt sich die Aufgabe, Medizin als gesellschaftlich bedingtes Phänomen zu erfassen. Sie nähert sich ihren Gegenständen unter Berücksichtigung der jeweiligen kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen und bezieht die Gruppe der am heilkundlichen Geschehen Beteiligten (Patienten, Heilkundige, Ärzte, Familien, soziale Gruppen, Obrigkeiten etc.) möglichst umfassend ein. Im weiteren Sinne hat sich Sozialgeschichte der Medizin mit den elementaren biologischen Ereignissen im Leben eines Menschen (Vorgeburtlichkeit, Geburt, Gesundheit, Krankheit, Heilung, Sterben und Tod) und deren Rahmenbedingungen auseinanderzusetzen. Sie erforscht weiterhin Erwartungen einer Gesellschaft an das Verhalten von gesunden und kranken Menschen, Strukturen, in denen sich ‚Heilkunde‘ vollzieht (Gesundheitswesen, Rolle von Kranken in der Gesellschaft, Gesundheitserziehung/-vorsorge etc.), sowie den individuellen Umgang mit dem menschlichen Körper. Erforscht und beschrieben werden auch Erfahrungen [<<17] von Heilkundigen mit dem Körper des gesunden, kranken und toten Menschen. Die Heilkunde wird in der Sozialgeschichte der Medizin als Gesamtheit aller ‚heilkundlichen Handlungen‘ aufgefasst, wobei Theoriebildung und Praxis ebenso einbezogen werden wie die Frage nach den kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hintergründen für Therapieansätze und Praktiken.
Ein besonderes Themenfeld der sozial- und politikhistorisch orientierten Medizinhistoriographie in Deutschland stellt die Medizin im Nationalsozialismus mit ihren Voraussetzungen, ihren Folgen und ihrer historischen Aufarbeitung nach 1945 dar. Der historische Umgang mit den medizinischen Verbrechen unter der nationalsozialistischen Diktatur begann bald nach 1945 mit dem amerikanischen Militärgerichtsprozess (US Military Tribunal I) gegen Wehrmachts- und SS-Ärzte 1946/47 (sog. „Nürnberger Ärzteprozess“), über den die Heidelberger Alexander Mitscherlich (1908–1982) und Fred Mielke (1922–1959) für die westdeutschen Ärztekammern berichteten (Peter, 1994), dieser Umgang jedoch kam in den Jahren bis zur Studentenbewegung der späten 1960er Jahre in der Bundesrepublik (anders als in der DDR) weitgehend zum Stillstand und wurde erst in den 1970er Jahren wieder aufgegriffen. Versuche wissenschaftlicher Gesamtannäherungen an die Medizin im Nationalsozialismus erfolgten in der Bundesrepublik erst 1985 (Kudlien, 1985), in der DDR 1989 (Thom/Caregorodcev, 1989). Ihnen schlossen sich differenzierte wissenschaftliche Detailuntersuchungen zu den zentralen Aspekten der NS-Medizin (z. B. Rassenhygiene, Sterilisation, Krankenmord, „Euthanasie“, Leistungs- und Arbeitsmedizin, verbrecherische Experimentalforschung, Vertreibung rassisch und politisch diffamierter Ärztinnen und Ärzte, Militärmedizin und Militärforschung) in schneller Folge an. Eine zusammenfassende Darstellung der Medizin unter der NS-Diktatur wurde jüngst vorgelegt (Eckart, 2012). Zur NS-Medizin vor Gericht und ihrer Bedeutung für die medizinische Ethik der Nachkriegszeit ist inzwischen das Standardwerk von Paul Weindling über den Nürnberger Ärzteprozeß (Weindling, 2004) verfügbar. Die Medizin im Nationalsozialismus stellt bis