Einführung in die philosophische Ethik. Dietmar Hübner

Читать онлайн.
Название Einführung in die philosophische Ethik
Автор произведения Dietmar Hübner
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783846349915



Скачать книгу

erkrankt war, im Sterben. Es gab eine Medizin, von der die Ärzte glaubten, sie könne die Frau retten. Es handelte sich um eine besondere Form von Radium, die ein Apotheker in der gleichen Stadt erst kürzlich entdeckt hatte. Die Herstellung war teuer, doch der Apotheker verlangte zehnmal mehr dafür, als ihn die Produktion gekostet hatte. Er hatte 200 Dollar für das Radium bezahlt und verlangte 2000 Dollar für eine kleine Dosis des Medikaments. Heinz, der Ehemann der kranken Frau, suchte alle seine Bekannten auf, um sich das Geld auszuleihen, und er bemühte sich auch um eine Unterstützung durch die Behörden. Doch er bekam nur 1000 Dollar zusammen, also die Hälfte des verlangten Preises. Er erzählte dem Apotheker, daß seine Frau im Sterben lag, und bat, ihm die Medizin billiger zu verkaufen bzw. ihn den Rest später bezahlen zu lassen. Doch der Apotheker sagte: ›Nein, ich habe das Mittel entdeckt, und ich will damit viel Geld verdienen.‹ – Heinz hat nun alle legalen Möglichkeiten erschöpft; er ist ganz verzweifelt und überlegt, ob er in die Apotheke einbrechen und das Medikament für seine Frau stehlen soll.« [KOHLBERG 1968–1984, 495]

      Kohlberg ließ seine Probanden Einschätzungen abgeben, wie man sich in Fällen der geschilderten Art verhalten solle. Vor allem fragte er eindringlich nach den Begründungen, die sie für ihre Entscheidungen angeben konnten. Das Hauptergebnis, das er aus diesen Studien ableitete, lautet wie folgt: Jeder Mensch, unabhängig von Kultur oder Geschlecht, durchläuft eine feste Stufenfolge von Typen moralischer Urteile. Die Reihenfolge der absolvierten Stufen ist stets dieselbe, insbesondere können keine Stufen während der Entwicklung übersprungen werden. Rückfälle kommen in der Regel nicht vor, allerdings werden die höchsten Stufen von den meisten Menschen nicht erreicht.

      (2) Genauer identifiziert Kohlberg drei Niveaus mit jeweils zwei Stufen der moralischen Entwicklung. Das Gesamtschema von insgesamt sechs Stufen hat er gelegentlich leicht modifiziert und ergänzt, in seinen wesentlichen Komponenten aber beibehalten [vgl. KOHLBERG 1968–1984, 26f., 51–53, 128–132].

      Auf dem präkonventionellen Niveau bewegen sich üblicherweise Kinder bis zum Alter von ca. neun Jahren, aber auch jugendliche oder erwachsene Straftäter. Diese Ebene zeichnet sich durch eine strikt egozentrische Moralität aus, deren Urteile sich allein an den direkten Konsequenzen für den Handelnden selbst orientieren. Die 1. Stufe ist auf die Vermeidung von Strafe ausgerichtet (how can I avoid punishment?). Moral wird hier als bloßer Gehorsam gegenüber bestehenden Autoritäten konzipiert. Als erlaubt gilt, was von Mächtigeren zugelassen wird, Verhaltensregeln werden als zu befolgen angesehen, um Sanktionen zu vermeiden. Auf der 2. Stufe kommen die bewusste Erkenntnis fremder Bedürfnisse und die gezielte Befriedigung eigener Bedürfnisse hinzu (what’s in it for me?). Dies umfasst die negative Strafvermeidung der vorangehenden Stufe, ergänzt sie aber um das positive Abzielen auf mögliche Belohnungen. Zudem werden nun fremde Wünsche wahrgenommen und befriedigt, damit die eigenen Wünsche beachtet und zufriedengestellt werden, so dass Moral insgesamt als ein Austausch von Gefälligkeiten verstanden und gelebt wird, gemäß dem Motto ›Wie du mir, so ich dir‹.

      Auf dem konventionellen Niveau befindet sich ein Großteil der Jugendlichen und Erwachsenen. Die ichbezogene Haltung der vorangehenden Ebene wird hier durch eine gemeinschaftsbasierte Moralität abgelöst, die auf einer ernsthaften Identifikation und aufrichtigen Loyalität mit den Vorstellungen und Strukturen des persönlichen Umfelds bzw. der Gesellschaft insgesamt beruht. Die 3. Stufe ist durch das Bewusstsein fremder Erwartungen und das Bestreben nach entsprechender Anerkennung geprägt (Mentalität des good boy/nice girl). Moralische Stellungnahmen rekurrieren nicht länger auf die materiellen Konsequenzen, die Handlungen in Form von Strafe oder Belohnung nach sich ziehen, sondern auf den sozialen Respekt, den man für das eigene Verhalten in seiner Umgebung findet. Die Rollenvorgaben des Beziehungsumfelds werden dabei unhinterfragt akzeptiert, Zustimmung oder Ablehnung anderer sind direkter Maßstab des Handelns und unmittelbare Quelle von Selbstwert- bzw. Schuldgefühlen. Auf der 4. Stufe dominiert die Auffassung, dass bestimmte Regelungen für das gemeinschaftliche Zusammenleben unentbehrlich und deshalb einzuhalten sind (Bedeutung von law and order). Im Vordergrund steht nicht mehr der Wunsch nach Billigung durch nahestehende Bezugspersonen, sondern das Bekenntnis zur Relevanz sozialer Normen. Moralische Bewertungen stützen sich wesentlich darauf, dass die Einhaltung von ›Gesetz und Ordnung‹ notwendig ist, um den Erhalt der bestehenden Gesellschaft zu sichern, deren Gefüge ohne kritische Distanz bejaht wird.

      Das postkonventionelle Niveau erreicht nach Kohlberg nur eine Minderheit von Erwachsenen. Hier emanzipiert sich Moralität von vorgegebenen Erwartungen und Ordnungen, um stattdessen auf unabhängige Standards mit übergeordneter Gültigkeit zu rekurrieren. Auf der 5. Stufe ist die Einhaltung freier Übereinkommen zum Vorteil der beteiligten Individuen der relevante Maßstab (von ca. 25% aller Erwachsenen erreicht). Es wird nicht länger jede Norm anerkannt, auf der die bestehende gesellschaftliche Struktur beruht, sondern es werden nur solche Normen gebilligt, die auf soziale Übereinkunft zurückgehen und dem allgemeinen Nutzen dienen. Zentraler Referenzpunkt moralischer Stellungnahmen ist das durch solche Vereinbarungen zu realisierende ›größte Glück der größten Zahl‹. Die 6. Stufe stellt universelle Prinzipien sehr abstrakter Natur in den Vordergrund (von unter 5% aller Erwachsenen erreicht). Moral wird nun nicht mehr als freie Verabredung zum größtmöglichen Vorteil verstanden, sondern als verbindliches Set von allgemeingültigen Grundsätzen, denen gesellschaftliche Übereinkünfte auch ungeachtet ihres etwaigen Nutzens zu entsprechen haben. Ihr Inhalt sind dabei fundamentale ethische Prinzipien wie die Anerkennung gleicher Menschenrechte oder die Achtung der unverletzlichen Menschenwürde.

Die sechs Stufen der moralischen Entwicklung nach Kohlberg
PräkonventionellesNiveau 1. Stufe: Strafvermeidung durch Gehorsam2. Stufe: Bedürfnisbefriedigung durch Austausch
KonventionellesNiveau 3. Stufe: Erwartung und Anerkennung4. Stufe: Gesetz und Ordnung
PostkonventionellesNiveau 5. Stufe: freie Übereinkunft zum allgemeinen Nutzen6. Stufe: universelle Prinzipien abstrakter Natur

      Bei der Einordnung, auf welcher dieser sechs Moralstufen sich eine bestimmte Person befindet, ist nicht so sehr entscheidend, für welche Handlungsalternative sie sich in einem gegebenen Fallbeispiel entscheidet, sondern vielmehr, welche Form der Begründung sie hierfür angibt. Dies lässt sich an dem oben zitierten ›Heinz-Dilemma‹ leicht verdeutlichen: Lehnt jemand den Diebstahl ab, weil der Ehemann sonst eine Haftstrafe riskiert, so befindet er sich auf der 1. Stufe. Lehnt er ihn hingegen ab, weil er das Eigentum anderer Personen für grundsätzlich unantastbar hält, so bewegt er sich auf Stufe 6. Man kann auf dieser 6. Stufe den Diebstahl freilich auch befürworten, indem man erklärt, dass das Lebensrecht der Frau die Besitzansprüche des Apothekers prinzipiell überwiegt. Ebenso gut kann man ihn indessen auf Stufe 1 befürworten, indem man anführt, dass der Ehemann andernfalls Sanktionen seitens seiner Frau zu befürchten hat.

      (3) Auf den ersten Blick scheint Kohlbergs Stufenmodell ›normativ neutral‹ zu sein: Keine der möglichen Antworten auf seine Fallbeispiele wird von ihm als moralisch richtig oder falsch vorausgesetzt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass sein vermeintlich ›rein deskriptives‹ Schema sehr wohl mit normativen Wertungen einhergeht: Ganz offensichtlich zeigen die verschiedenen Begründungsformen auf den einzelnen Stufen einen zunehmenden Fortschritt in der moralischen Entwicklung an, ein Verharren auf niederen Stufen hat als Symptom eines moralischen Defizits zu gelten. Kohlberg mag sich daher zwar enthalten, bestimmte Lösungen seiner Fallbeispiele als korrekt oder verfehlt auszuweisen. Aber ohne Zweifel schätzt er bestimmte Argumentationsmuster als höherstufig oder niederrangig ein.

      Man könnte hierauf entgegnen, dass Kohlberg nichts weiter als eine faktische Abfolge wiedergebe, auf die er in den moralischen Argumentationen seiner Probanden gestoßen sei. Solch ein Resultat zu präsentieren und durch entsprechende Klassifikationen aufzuarbeiten, sei ein rein deskriptives Vorgehen ohne jegliche normative Einlassungen. Tatsächlich aber spricht Kohlberg eben nicht nur von einem Nacheinander, das in den Moralurteilen von Menschen zu beobachten ist (d.h. von einem bloßen ›Früher‹ oder ›Später‹); dann wäre auch denkbar, dass man die späteren Stadien als niederrangig gegenüber den früheren erachtete, also die vorgefundene zeitliche Entwicklung,