Название | Einführung in die philosophische Ethik |
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Автор произведения | Dietmar Hübner |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846349915 |
In einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ist es daher nach Luhmann eine verfehlte Erwartung, dass Moral kontrolliert auf die einzelnen Teilsysteme einwirken und diese zu moralischen Funktionsvollzügen bewegen könnte. Moral kann nicht bestimmen, wie die Wertzuweisungen in den anderen Systemen erfolgen, da diese Systeme weitgehend autonom agieren, gemäß ihren je eigenen Aufgaben. Insbesondere ist es nach Luhmann ein irriger Gedanke, dass zunächst Moral die Politik bestimmen könnte, etwa über demokratische Wahlen oder geeignete Beratung, und anschließend die Politik die anderen Funktionssysteme kontrollieren sollte, etwa die Wirtschaft über das Recht. Erstens ist die Politik nicht moralisch zu programmieren, da sie alles externe Geschehen, mit dem sie konfrontiert wird, und insbesondere alle moralischen Forderungen, die an sie herangetragen werden, in ihre spezifische Sprache von Macht oder Ohnmacht, von Regierung oder Opposition übersetzt. Diese Übersetzung ist stets verlustbehaftet, so dass sich moralische Forderungen niemals in ihrer unverfälschten Gestalt in die Politik transferieren lassen. Zweitens ist die Politik ihrerseits nur ein Teilsystem, keineswegs die Spitze oder das Zentrum der Gesellschaft, und kann daher mit ihren Beschlüssen zwar sicherlich Effekte in anderen Systemen erzeugen, aber kaum gezielte Absichten verwirklichen oder konkrete Vorgaben umsetzen. Versuche etwa, mit rechtlichen Regelungen wie Steuergesetzen politische Ziele in der Wirtschaft durchzusetzen, misslingen regelmäßig, weil die Wirtschaft alle politischen bzw. rechtlichen Vorgaben in ihren Code, d.h. in die Frage von Haben oder Nichthaben, von Zahlen oder Nichtzahlen, überträgt und diese Übertragung immer unvollkommen bleibt. Der ganze Ansatz einer Moralisierung der Politik und einer Politisierung anderer Systeme ist damit nach Luhmann hinfällig [LUHMANN 2002, 7–14, 111–118].
Moral kann keinen kontrollierenden Einfluss auf die verschiedenen Teilsysteme nehmen und deren jeweilige Funktionen auf kein sinnvolles Ziel hinordnen. Eher schon erzeugt sie schädliche Irritationen in den anderen Systemen. Entsprechend hat sie auch keine Integrationskraft für die Gesamtgesellschaft. Stattdessen weist sie ein hohes Streitpotential auf, führt zu Abstoßung und Verfeindung, erschwert mögliche Lösungen und befeuert bestehende Konflikte. Sie mag eine allgemeine Alarmierfunktion ausüben, wenn es zu gesamtgesellschaftlichen Fehlentwicklungen kommt (etwa in Form von sozialen Ungleichheiten oder ökologischen Krisen). Auch hier bleibt ihre Wirkung aber beliebig und inflationär, weil sie keine eindeutigen Kriterien anzubieten hat und lediglich bestehende Empörung aufheizt. Sie mag gegebene Warnsignale verstärken, wenn bestimmte Funktionssysteme durch systemfremde Einflüsse unterlaufen werden (etwa in Gestalt von Korruption in Wirtschaft oder Politik). Selbst hier aber, wo sie ohnehin keine eigenständige Perspektive eröffnet und nur eine abhängige Bedeutung hat, bleibt ihr Vorgehen utopisch und aufgeladen, indem sie die Illusion einfacher Entscheidungen weckt und Entrüstung über medienwirksame Skandale schürt [LUHMANN 1987, 121f., 318, 325; LUHMANN 1998, 248, 403–405].
(3) Mit dieser Deutung von Moral wirkt Luhmanns Modell alles andere als normativ intendiert oder auch nur anschlussfähig: Moral erscheint als hilflos, sogar als abträglich für moderne Gesellschaften. Normative Überlegungen zur angemessenen Gestalt moralischer Überzeugungen wirken vor diesem Hintergrund naiv und verfehlt. Dennoch lässt sich fragen, ob dieser skeptischen Auffassung von Moral nicht womöglich eine verborgene normative Perspektive zugrunde liegt: Immerhin ist jene Ablehnung von Moral selbst ein Urteil. Die Frage ist, ob dieses Urteil nicht in letzter Konsequenz moralischer Art ist.
So scheint Luhmann zunächst die funktionale Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften, an der Moral angeblich scheitert, tendenziell positiv zu bewerten: Möglicherweise erkennt er in ihr einen Selbstzweck, dahingehend dass sie einen höheren historischen Entwicklungsstand anzeigt, möglicherweise betrachtet er sie als Mittel, um bestimmte wünschenswerte Effekte zu erzielen. In beiden Fällen lägen bestimmte moralische Stellungnahmen zugrunde, nämlich dass jene geschichtliche Entfaltung an sich selbst gut ist bzw. dass die erreichten Vorteile tatsächlich erstrebenswert sind. Auch sein Vorwurf, Moral heize gesellschaftliche Konflikte an, bringt einen normativen Maßstab ins Spiel: Dass derartige Konflikte zu vermeiden sind, mag eine verbreitete und nachvollziehbare Auffassung sein. Das ändert aber nichts daran, dass es sich um eine Bewertung moralischer Art handelt.
Gelegentlich erklärt Luhmann auch, dass gerade das unkoordinierte Operieren der einzelnen Teilsysteme den Erfolg und sogar das Überleben der Gesamtgesellschaft gefährden könne: Die funktionale Ausdifferenzierung lasse zuweilen fehlerhafte Kommunikation, irrationale Effekte, zu wenig oder zu viel Resonanz zwischen den Systemen sowie unzureichende oder falsche Reaktionen auf die Umwelt entstehen. Auch in diesen Einschätzungen sind nicht allein deskriptive Darstellungen, sondern normative Wertungen am Werk, nämlich dass bestimmte Arten von Zusammenwirken und zumindest das Fortbestehen der Gesamtgesellschaft wünschenswert sind. Und möglicherweise könnte, anders als Luhmann meint, Moral doch hilfreich sein, um diesen Gefahren zu begegnen: Womöglich müsste es eine Moral sein, die durch die Ergebnisse von Luhmanns deskriptiver Ethik geeignet aufgeklärt über ihren begrenzten Einfluss und ihre potentielle Schädlichkeit ist. Dies ließe aber Raum für eine positive Rolle von Moral, deren Grundsätze und Kriterien eine geeignete normative Ethik im Anschluss an Luhmanns implizite Wertungen ausarbeiten könnte.
2.4Zum Zusammenhang von deskriptiver und normativer Ethik
Die drei vorangehenden Abschnitte haben keine vollständige Darstellung der deskriptiven Ethik gegeben, sondern nur einige prominente Beispiele in ihren wesentlichen Komponenten skizziert. Es gibt abweichende Ansätze in Moralphilosophie, Moralpsychologie und Moralsoziologie. Nicht zuletzt sind die spezifischen Befunde von Smith, Kohlberg und Luhmann gelegentlicher Kritik von anderer Seite ausgesetzt.
Bei Smith etwa wird nachgefragt, ob das menschliche Einfühlungsvermögen in der Tat bevorzugt auf fremde Freude mit eigener Freude, auf fremdes Leid mit eigenem Leid antwortet, statt dass vielleicht eher umgekehrt Neid bzw. Schadenfreude typische Gefühlreaktionen auf derartige Primärempfindungen sind. Mit Blick auf Kohlbergs Arbeiten wird sowohl die grundsätzliche Relevanz von Stufenmodellen als auch die behauptete Unabhängigkeit seines Entwurfs von Kultur und Geschlecht kontrovers diskutiert. Luhmanns Konzeption gibt Anlass zu Zweifeln, ob ein vergleichsweise starres Schema von weitgehend strukturgleichen Systemtypen die ganze Vielfalt der sozialen Wirklichkeit einzufangen vermag und ob die Einstufung der Moral als einerseits allumfassend, andererseits wirkungslos ihrer Rolle in der Gesellschaft vollständig gerecht wird.
Die jeweiligen Anklänge normativer Ethik, die in den drei Beispielen auftauchten, sind selbstverständlich ebenso wenig unumstritten: Der Utilitarismus, auf den Smiths Ansatz hinausläuft, wird nicht von jedem geteilt. Der Kantianismus, den Kohlbergs Modell favorisiert, ist nicht allgemein akzeptiert. Der Skeptizismus, der sich in Luhmanns Theorie ausdrückt, findet Befürworter wie Gegner. Entsprechend werden die Vorzüge und Nachteile dieser Positionen in späteren Kapiteln noch genauer erörtert. Wichtig zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist lediglich, dass die jeweiligen Übergänge von deskriptiver zu normativer Ethik in den drei Beispielen auf grundsätzlich korrekte Weise stattfinden – nämlich indem die normative Bewertung der deskriptiven Beschreibung hinzugefügt wird, als unabhängige Ergänzung eigenständiger Art.
Formal problematisch wäre demgegenüber, wenn das normative Urteil unmittelbar aus dem deskriptiven Befund folgen sollte: Smith mag feststellen, dass reale Menschen zumeist ›aufmerksame Zuschauer‹ sind, und er mag hervorheben, dass die ideale Position eines ›unparteiischen Zuschauers‹ demgegenüber moralisch überlegen wäre; aber er kann Letzteres nicht aus Ersterem schließen. Kohlberg mag bemerken, dass Individuen in ihrer Entwicklung eine bestimmte Abfolge des moralischen Urteils durchlaufen, und er mag behaupten, dass diese zeitliche Abfolge einen moralischen Fortschritt darstellt; aber er kann Letzteres nicht aus Ersterem