Grundlagen der Visuellen Kommunikation. Stephanie Geise

Читать онлайн.
Название Grundlagen der Visuellen Kommunikation
Автор произведения Stephanie Geise
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783846324141



Скачать книгу

18, S. 59), indem Sie die Motivgeschichte der Mitterrand-Ikonografie miteinbeziehen. Im Zentrum Ihrer Interpretation sollte die Bedeutung der politischen Gestik (vgl. Warnke/Fleckner/Ziegler 2011) stehen. Ziel dieser Übung ist es, auf eine erweiterte Interpretation hinzuzuarbeiten, bei der Bilder in ihrer Motivgeschichte analysiert und zugleich vor dem Hintergrund ihrer Produktionsgeschichte sowie des zeitgeschichtlichen Kontextes interpretiert werden. Entstehungszeitpunkt und Titel sind den Übungsbildern absichtlich beigefügt, um Ihnen Rechercheanreize und Orientierungshilfen zu bieten. Für diese Übung sollten Sie zwei Wochen Bearbeitungszeit kalkulieren.

      Abb. 20: Gemälde von Alexander Gerassimov, das den Revolutionär Lenin auf der Tribüne zeigt, 1930 (Detail)

      Abb. 21: Sowjetische Sonder briefmarke zum 29. Todestag von Lenin, erschienen am 26. Januar 1953

      Abb. 23: Plakat für Marschall Pétain, November 1943

       Im Anschluss an Ihre eigene Interpretation finden Sie unter www.utb-shop.deeine beispielhafte Kurzinterpretation. Die ausführlichere Analyse und Interpretation können Sie nachlesen in: Marion G. Müller (1998). La force tranquille … Die stille Macht der Bilder. In: A. Köstler & E. Seidl (Hrsg.): Bildnis und Image. Das Portrait zwischen Intention und Rezeption. Köln, S. 327–334. Zur Funktion von Pressefotografie allgemein werden als Einstiegslektüre die Texte von Grittmann (2001, 2007) sowie von Müller, Kappas und Olk (2012) empfohlen.

      Das obige Beispiel hat gezeigt, wie wichtig die Motivgeschichte für die erweiterte Interpretation ist. Darstellungstypen und Motivtraditionen helfen zudem dabei, den zeitgeschichtlichen Kontext zu rekonstruieren und Veränderungen und Übereinstimmungen festzustellen. Dabei kann, wie im gewählten Beispiel, die persönliche Ikonografie eines Politikers im Zentrum der Untersuchung stehen. Für ein Verständnis der Wirkungen von Wahlplakaten ist jedoch auch das Kontextwissen unerlässlich. Da der Wahlkampfkontext und die Bedeutung visueller Werbemittel abhängig von tagesaktuellen Ereignissen ist, wäre es eigentlich erforderlich, die untersuchten Wahlkampfmittel in ihrem Originalkontext zu erforschen. Dies setzt eine kosten- und zeitaufwendige Studie zu den Produktionsbedingungen und intendierten Botschaften voraus (vgl. Müller 1999, 2002) sowie parallel die Erforschung der tatsächlichen Wirkungen der politischen Werbemittel, etwa durch unabhängige Fokusgruppen, Befragungen sowie durch einen Test der Wahlwerbemittel und der ihnen zugeschriebenen Bedeutungen (vgl. Geise 2011a, b). Sowohl produktions- als auch rezeptionsorientierte Forschungsprojekte benötigen eine lange Vorbereitungszeit sowie ein Forschungsbudget. Dies bedeutet, dass die Projektplanung mindestens zwei bis drei Jahre vor dem Ereignis begonnen werden sollte, zumal es in der Gegenwart schwieriger geworden ist, während der heißen Wahlkampfphase wissenschaftliche Interviews mit Wahlkampfmanagern, Kandidaten und den Parteizentralen zu bekommen, da diese fürchten, jegliche Information, die sie geben, könnte ihrer Kampagne oder ihrem Kandidaten schaden. Projektanträge bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) oder anderen Institutionen der Forschungsförderung sind ebenfalls einem langwierigen und sehr kompetitiven Auswahlprozess unterworfen, dessen Ausgang ungewiss ist. Ist der Wahlkampf vorbei, dann können die meisten Daten nicht mehr nachträglich erhoben werden. Die nur zeitweise angestellten Wahlkampfmanager arbeiten an anderen Projekten, die Werbeagenturen dürfen keine Auskunft ohne Zustimmung ihres Auftraggebers geben, zumal das Projekt Wahlkampf für sie abgeschlossen ist und ihre Mitarbeiter bereits an den nächsten Kampagnen arbeiten. Frühzeitig Zugang zu den Wahlkampagnen, den beauftragten Agenturen und den politischen Entscheidungsträgern zu gewinnen, ist damit zentral, um in Zukunft die visuellen Produktions- und Rezeptionskontexte des wichtigsten demokratischen Legitimationsrituals besser zu erforschen.

      Wie wichtig der Kontext zur Analyse der Bedeutungs- und Wirkungspotenziale eines Wahlplakats ist, illustriert das Plakat für den damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Stefan Mappus (vgl. Abb. 25). Die Fotografie, die das Plakat in seinem Kontext, neben einem weiteren, ebenfalls querformatigen Werbeplakat zeigt, stammt aus einem privaten Aufnahmekontext. Ein anonymer Blogger stellte das Bild als visuellen Kommentar ins Internet. Von seiner intendierten Wirkung als Wahlwerbung kann vermutet werden, dass, ähnlich der Bildstrategie Sarkozys auf Abb. 24, S. 67, der Politiker Stefan Mappus mit dem Land Baden-Württemberg gleichgesetzt werden sollte. Mappus füllt beinahe die gesamte Plakatfläche aus. Lediglich der rechte Hintergrund ist diffus Blau und davor der Name des Abgebildeten, in kleineren weißen Lettern der Vorname »Stefan« und leicht versetzt in größeren Buchstaben und in Gelb »Mappus«, dann das ebenfalls gelb unterlegte Logo der CDU Baden-Württemberg. Mappus hat seine linke Hand zur Faust geballt und legt seine rechte Hand darüber. Beide Arme sind gleichmäßig auf die Ellenbogen gestützt. Seinen Kopf legt Mappus auf beide Hände und blickt die Betrachter direkt mit einem breiten Lächeln an. Diese frontale Haltung soll vermutlich einen sympathischen, bürgerzugewandten Eindruck des regierenden Ministerpräsidenten vermitteln. Seine Haltung könnte als selbstbewusst lässig bezeichnet werden, ein Strahlemann, der auf seinen Amtsvorteil und seine Bekanntheit setzt und zuversichtlich davon ausgeht, dass ihm seine Wiederwahl sicher ist.

      Ohne jegliches Kontextwissen wäre dies eine Interpretation auf der Form- bzw. Gestaltebene (vgl. Abb. 1, S. 25), die Rückschlüsse auf die intendierten Bildbedeutungen zulässt. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war Mappus jedoch aufgrund seiner

      Entscheidung, hart gegen die Demonstranten vorzugehen, die das Prestigeprojekt »Stuttgart 21« – den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs – verhindern wollten, bereits einer der umstrittensten Politiker Deutschlands. Im September 2010 kam es zum Einsatz von Pfefferspray gegen Demonstranten, um die Besetzung des Bahnhofs aufzulösen. Zahlreiche friedliche Demonstranten wurden bei der Aktion verletzt und das harte Vorgehen der Polizei und die Unnachgiebigkeit der Landesregierung führten zu einer großen Solidaritäts- und Protestwelle in dem konservativen Bundesland, das seit 1972 von der CDU regiert wurde. Mappus hatte vor dem Hintergrund der konservativen Grundeinstellung der Baden-Württemberger also allen Grund zuversichtlich in die Wahl zu gehen. Andererseits unterschätzte er den Bürgerprotest und im Endeffekt führten sein Führungsstil und seine unnachgiebige Haltung dazu, dass sein Image als gütiger Landesvater, das er auch auf dem Wahlplakat verkörpert, offenbar nicht mehr als passend zu seinen tatsächlichen Äußerungen und Handlungen wahrgenommen wurde. Für die Grünen, die sich mit dem Bürgerprotest solidarisierten, führte die Wahl 2011 zu einem spektakulären Zugewinn als stärkste Partei, die dann in einer grün-roten Koalition den ersten grünen Ministerpräsidenten