Название | Politische Ideengeschichte |
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Автор произведения | Ralph Weber |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846341742 |
Der kontextuelle Ansatz geht hingegen davon aus, dass Autoren nicht in ein überzeitliches Gespräch mit vergangenen und zukünftigen Generationen (und zuletzt uns) eintraten, sondern ihren politischen Zeitgenossen eine Mitteilung machten. Sie taten dies nicht so sehr, weil sie es wollten, sondern weil sie gar nicht anders konnten. Die Autoren ideengeschichtlicher Texte werden als Kinder ihrer Zeit begriffen, die in historisch und kulturell kontingenten sprachlichen Konventionen, intellektuellen Traditionen und politischen Kontroversen gefangen waren. Laut dem bekanntesten Vertreter eines kontextuellen Ansatzes, Quentin Skinner, stellen ideengeschichtliche Texte ideologische Interventionen in das politische Tagesgeschäft dar. Dementsprechend richten sich die von ihm empfohlenen Analysestrategien auf die in einem Text angelegten Anspielungen auf parteiische Positionen, Bewertungen und Akzentverschiebungen. Wer die politische Rhetorik des Entstehungskontexts von Daniel Defoes Schrift Der kürzeste Weg mit den Dissentern in die Interpretation miteinbezieht, so Skinner zum Beispiel, erkenne, dass Defoe seinen Zeitgenossen keineswegs empfahl, mit Andersgläubigen kurzen Prozess zu machen, sondern sie mithilfe der ironischen Überspitzung zu größerer Toleranz bewegen wollte.12
Leserzentrierte Ansätze: „ein Text ist von jemandem gelesen“
Ein weiterer Typ von Interpretationsansätzen versteht Texte als etwas, das vor allem von jemandem gelesen wird; die Leseerfahrung wird in den Vordergrund gerückt. Dabei kann auf die Leseerfahrung eines Einzelnen oder die Gesamtheit aller Leser fokussiert werden.
Beim hermeneutischen Ansatz dreht sich alles um die Fremdheit, mit der ein Interpret als Leser eines ideengeschichtlichen Texts konfrontiert ist. Problematisiert wird dabei die zeitliche, kulturelle, sprachliche, milieubezogene und politisch-soziale Differenz, die dem Bemühen nach Verständnis entgegensteht. Der Leser tritt notwendig mit Vorannahmen und Vorurteilen an einen Text heran. Ziel ist, sich dieser bewusst zu werden und sie produktiv zu wenden. Dabei wird nicht davon ausgegangen, dass es ein letztes Wort über einen historisch in den Text hineingelegten Sinn zu sprechen gälte. Vielmehr nimmt, wie Hans-Georg Gadamer es ausdrückte, die „Ausschöpfung des wahren Sinns“ kein Ende. Durch das Bemühen des Lesers ergeben sich neue Verständnisse und Sinnbezüge. Die Differenz zwischen Interpret und Text schließt sich letztlich nicht, sie ist in „ständiger Bewegung und Ausweitung“ begriffen.13
Der rezeptionstheoretische Ansatz sucht hingegen der unterschiedlichen Deutungen von Lesern gewahr zu werden, die von einem Text über die Zeit entstanden sind. Der Interpret setzt also an den Deutungen der Sekundärliteratur an und schlägt im Extremfall den interpretationsbedürftigen Text selbst gar nicht auf. Diese Vorgehensweise rechtfertigt sich entweder, weil die Bedeutung von Texten als uneindeutig und durch die Leserschaft mitkonstituiert gilt; oder weil die Auswertung der kaleidoskopischen Vielfalt von Rezeptionsdispositiven indirekt eine Interpretation des Texts ermöglicht, die weniger von den persönlichen Voreinstellungen des Interpreten belastet ist; oder einfach weil das Maßgebliche von Texten nicht in der Bedeutung erkannt wird, die sie vermitteln wollten, sondern in der Bedeutung, die sie faktisch vermittelten.
Ansätze, die über die Interpretation eines Einzeltexts hinausgehen
In der politischen Ideengeschichte gibt es über die bereits erwähnten Ansätze hinaus eine Reihe von Interpretationsansätzen, die nicht in erster Linie einen Einzeltext in den Blick nehmen, sondern sich von vornherein auf ein Kollektiv von Texten konzentrieren, dem das eigentliche Interesse gilt. So auch in der Begriffsgeschichte, die wir von diesem Typ von Ansätzen in diesem Band detailliert betrachten werden. Bei der Begriffsgeschichte spielen Texte gegenüber den Begriffen, die sie verhandeln, eine untergeordnete Rolle. Texte werden allenfalls als Sammelsurium von Bestimmungen und Deutungen bestimmter politischer und anderer Begriffe verstanden. Begriffsgeschichtler, wie ihr prominentester Vertreter Reinhart Koselleck, versuchen Entwicklungen von Begriffen über viele Texte hinweg nachzuzeichnen, um so letztlich sozialen und politischen Wandel historisch greifbar zu machen. Gerade bei der Begriffsgeschichte hat sich der Fokus über die letzten Jahrzehnte merklich weg von Höhenkammliteratur zu institutionellen Texten und Texten der Populärkultur geweitet.
In diesem Band nicht behandelt, aber gleichermaßen erwähnenswert sind eine Reihe anderer Ansätze, die in ähnlicher Weise über die Interpretation eines Einzeltexts hinausgehen und die ebenfalls in der Disziplin verfolgt werden. Wie die Begriffsgeschichte beziehen sie die Interpretation des einen Texts auf ein Kollektiv von Texten, dem das eigentliche Interesse gilt. Stichwortartig seien hier die Problemgeschichte, die Mentalitätengeschichte sowie diskurs- und systemtheoretische Ansätze erwähnt. Diese Ansätze sind nicht zuletzt durch ihr, über einen Einzeltext weit hinausreichendes Interesse überaus komplex konzipiert; sie kommen aber allesamt nicht umhin, sich mit Einzeltexten zu beschäftigen, so dass ein Verständnis der in diesem Band vorgestellten Interpretationsansätze gleichsam als Vorbereitung für diese weiterführenden Ansätze verstanden werden darf.
Damit sind abschließend zwei wichtige Punkte angesprochen. Erstens ist es durchaus ein Aspekt der Diskussion um Ansätze in der politischen Ideengeschichte, was denn nun als eigenständiger Ansatz gelten kann. Es scheint zumindest so zu sein, dass die eben erwähnten Ansätze, die auf ein Kollektiv von Texten abheben, je schon ein Textverständnis bei der Lektüre des Einzeltexts ansetzen. Wenn man zum Beispiel Problemgeschichte betreibt und sich dem Problem der sich durch Macht einstellenden Korrumpierbarkeit widmet, dann kann man die Texte und den darin enthaltenen Beitrag zur Problembehandlung noch immer als von jemandem geschrieben oder als für jemanden geschrieben oder einfach auch nur als vorliegenden Text lesen. Damit ist letztlich auch verständlich, warum es strittig ist, ob etwa der Feminismus einen eigenständigen Ansatz bereitstellt. Er könnte sich durchaus mit manchen der in diesem Lehrbuch versammelten Ansätze kombinieren oder aber als unabhängiges Set von Analysestrategien ausdifferenzieren lassen.
Zweitens sind natürlich im Grunde auch die von uns ausgewählten, grundlegenden Interpretationsansätze in ihrer Ausgestaltung durch eine anhaltende Fortschreibung auf theoretischer Ebene sowie durch konkurrierende Anwendungen in der Praxis gekennzeichnet. Im Rahmen dieses Bands kann auf diese vielfältigen Entwicklungen nur punktuell eingegangen werden. Größeres Gewicht wird dagegen darauf gelegt, die ausgewählten, grundlegenden Interpretationsansätze in Modellform zu präsentieren. Denn durch die modellhafte Darstellung und Illustration werden Vorzüge und Nachteile der einzelnen Ansätze deutlicher sichtbar, so dass gehofft werden darf, das Bewusstsein für die jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen zu fördern und zu einem (selbst-)kritischen Umgang mit dem methodischen Handwerkszeug der politischen Ideengeschichte zu motivieren.
Im vorliegenden Lehrbuch werden die Analysestrategien der ausgewählten Interpretationsansätze erläutert und durch Anwendung auf je einen Text illustriert. Die Auswahl der Texte berücksichtigt die Kriterien unterschiedlicher Textformate sowie soziokultureller Herkunft. Dabei beschreiten wir einen Mittelweg zwischen „Klassikern“ (Platons Staatsmann, Machiavellis Der Fürst, Strauss’ Verfolgung und die Kunst des Schreibens und Madisons Federalist Paper Nr. 10) und eher vernachlässigten Texten (De Gouges’ Drei Urnen, Riveras Die Geschichte Mexikos, Huangs Mingyi daifang lu und dem hethitischen Text Die Würdenträgereide des Arnuwanda). Was die Autorschaft der Texte anbelangt, so wird ebenso einerseits auf Familiarität gesetzt, und andererseits auf noch nicht oder nur namentlich bekannte Autoren zurückgegriffen. Schließlich, auch wenn die Auswahl nur exemplarisch und ohne Anspruch auf Repräsentativität erfolgen konnte, wurden nicht nur Texte von männlichen, weißen Europäern miteinbezogen.
Männliche, weiße Europäer? Reden wir damit nicht einer politischen Korrektheit das Wort, die wir in unserer eigenen Schreibpraxis gar nicht einlösen? Haben wir nicht durchgängig von Autoren in der männlichen Form gesprochen? Darüber wollen wir in Form einer Reflexionsbox kurz nachdenken.