Название | Empirische Sozialforschung |
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Автор произведения | Günter Endruweit |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846344606 |
1.1.2 | Forschung |
Der Forschung hatten wir in unserer Wissenschaftsdefinition die Aufgabe der Wissensproduktion zugewiesen. Was in der Theorie systematisiert werden soll, hat die Forschung vorab zu liefern, nämlich Wissen. Deshalb muss die Forschung nach den Gesichtspunkten arbeiten, die wir im Kapitel 1.1.1 als maßgeblich für das Wissen beschrieben haben. Wir erhalten damit als genaueren Forschungsbegriff:
Definition »Forschung«
Forschung ist eine Tätigkeit, die darauf zielt, neues Wissen zu erarbeiten, indem der Forschungsgegenstand mit Methoden untersucht wird, die das Ergebnis sachlich begründet und intersubjektiv begründbar machen.
Damit soll nicht behauptet werden, dass nur die Forschung neues Wissen produzieren könne. Das ist vielmehr auch durch das möglich, was man im Deutschen einen Einfall, im Italienischen trovato und im Englischen inspiration nennt, und was genau eine zufällige Eingabe von außen bedeutet. Im Französischen heißt es »ça me vient à l’esprit«; dazu passt die Erzählung über den Chemiker August Kekulé, ihm sei die Ringstruktur des Benzols im Traum erschienen. Ebenso kann man »Neues« durch eine Entdeckung (discovery/découverte) hervorbringen, indem man Vorhandenes, aber Verstecktes ans Licht zieht. Nur reichen zufällig Neues und wiedergefundenes Altes nicht aus, um die Bedürfnisse einer modernen Gesellschaft nach Neuem zu befriedigen. Um das systematisch erledigen zu können, haben wir die Forschung und sonst gar nichts.
Allerdings sind es nicht Überlegungen zur sozialen Kosten-Nutzen-Rechnung, die uns in erster Linie zur strengen Methodik beim Forschen zwingen. Wären genügend Personal, Zeit, Geld und Material vorhanden, könnte man Bereiche, Themen, Gegenstände, Instrumentarien und Ansätze der Forschung mit rein aleatorischen, d. h. zufälligen Verfahren festlegen. Das würde dem Forscher vielleicht endlich die von mancher Seite stereotyp gebrachten Vorwürfe der Auftraggeberhörigkeit oder des Eigeninteresses ersparen.
Aber auch in diesem utopischen Forscherparadies müsste der Zufall durch Systematik abgelöst werden, sobald es um die eigentliche Wissensproduktion geht. Denn wenn das Ergebnis aus dem Gegenstand heraus begründet und gegenüber anderen Forschern begründbar sein soll, muss es mit solchen Methoden gewonnen worden sein, die jeder andere Forscher anwenden kann. Nur so lässt sich feststellen, ob die Ergebnisse dann gleich sind. Auf einzelne Aspekte werden wir später eingehen, an dieser Stelle bleibt es bei dem Hinweis, der anregen soll, über einzelne Konsequenzen für die Forschungspraxis nachzudenken, etwa über den Mindestumfang der Mitteilungen über die Untersuchungsanordnung oder über die Zeitgebundenheit von Untersuchungsgegenständen. Diese ist ein Problem für die Sozialwissenschaften, das die Naturwissenschaften nicht im Entferntesten so zu lösen haben.
1.1.3 | Theorie |
In unserer Wissenschaftsdefinition in Kapitel 1.1 hatten wir für die Theorie die Funktion vorgesehen, Wissen zu systematisieren. Wissen in seiner einfachsten Form kann in einem Satz gespeichert werden, der nichts anderes enthält als die Grundelemente eines Aussagesatzes. Damit können wir uns aber nicht begnügen. Komplexere Wissenszusammenhänge werden daher in einer Theorie formuliert, unter der verstanden werden soll:
Definition »Theorie«
Eine Theorie ist ein System von Sätzen mit Seinsaussagen über Wirklichkeit, das durch die sprachliche Zuordnung sachliche Zusammenhänge wiedergibt.
Die Zusammenhänge, die in einer Theorie zwischen den Sätzen hergestellt werden, können sehr verschieden sein. Es kann um die Parallelisierung von Ereignissen, die Angabe von Phasen oder Stufen eines Prozesses, um Bedingungen oder Konsequenzen gehen, um nur einiges zu nennen. Das höchste Ziel wohl jeder wissenschaftlichen Theorie ist die Darstellung von Kausalzusammenhängen. Erst die Kenntnis dieser Kausalzusammenhänge macht den Forschungsgegenstand manipulierbar im Sinne einer zielbewussten Veränderung.
Sozialwissenschaftler wie Naturwissenschaftler setzen sich daher die Erforschung von Kausalverbindungen als höchstes, wenn auch keineswegs einziges Ziel. Diese Art von Forschung ist damit größte Chance, aber auch größte Gefahr jeder Wissenschaft. Derartige Zusammenhänge zwischen Einzelerkenntnissen lassen sich nicht anders darstellen als eben in einer Theorie. Und nur eine Theorie kann den wissenschaftlichen Beitrag zu einer Praxisveränderung liefern.
Damit sind wir beim Verhältnis von Theorie und Praxis. In der öffentlichen Diskussion wird dieses Verhältnis meistens so gesehen, wie es Kant in seiner berühmten Streitschrift zitiert: »Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.«8 Nach dem hier vorgestellten Theoriebegriff für die empirischen Sozialwissenschaften muss man eher den Satz des Psychologen Kurt Lewin für richtig halten: »Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie.«9
1.2 | Empirische Sozialwissenschaft |
Was im Kapitel 1.1 zum Wissenschaftsbegriff gesagt wurde, muss uneingeschränkt auch für die empirischen Sozialwissenschaften zutreffen, wenn sie im beschriebenen Sinn als Wissenschaften gelten wollen. »Wissenschaft« ist der Oberbegriff, so dass alle seine Merkmale in jeder Sozialwissenschaft anwendbar sein müssen. Von anderen Wissenschaften, also ebenfalls konkreten Unterbegriffen von »Wissenschaft«, können und/oder müssen Sozialwissenschaften sich aber in zweierlei Hinsicht unterscheiden.
Eine erste Besonderheit könnte aus dem Gegenstand der Sozialwissenschaften kommen, also aus der Tatsache, dass die Sozialwissenschaften die Gesellschaft erforschen. Ein häufiger Ansatz zur Unterscheidung von Wissenschaften geht davon aus, dass jede Wissenschaft eigene Gegenstände und/oder Methoden habe. Daraus leiten wir die Überlegung ab, dass bestimmte Gegenstände auch bestimmte Methoden verlangen bzw. ausschließen. So brauchen die Sozialwissenschaften Methoden, mit denen sie die Selbstdeutungen ihres Gegenstandes ermitteln können; die Geologen können darauf besten Gewissens verzichten. Andererseits können Sozialwissenschaftler keine Methoden benutzen, durch die ihr Gegenstand vernichtet oder auch nur wesentlich verändert wird. Müssten sich die Ingenieurwissenschaften damit begnügen, was sie zerstörungsfreie Prüfverfahren nennen, hätten sie sicherlich noch viel engere Grenzen ihres Wissens. Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik haben hier wieder einen Berührungspunkt. Wer sich zu verdeckter, teilnehmender Beobachtung in eine Selbsthilfegruppe jugendlicher Drogenabhängiger einschleicht und die Ursache der Therapieerfolge im missionarisch-religiösen Eifer eines Meinungsführers genau herauspräpariert, hat sich damit einen viel beachteten Aufsatz und der Wissenschaft vielleicht eine wichtige Erkenntnis verschafft; ob diese aber sozial – und wir hatten Wissenschaft von ihrer sozialen Aufgabe her definiert! – gerechtfertigt ist, wenn wegen dieser Erkenntnis die Gruppe zerbricht, ist eine andere Frage. Schließlich ist in der Gesellschaft vieles auch bei schonendsten Forschungsmethoden auf natürliche Weise vergänglich und nicht unveränderlich, beliebig reproduzierbar oder nach Wunsch herstellbar wie bei vielen Objekten der Physik oder Chemie. Unter den Naturwissenschaften leiden bisher vor allem die Biologie und zunehmend die Geowissenschaften unter ähnlichen Erkenntnisgrenzen wie die Sozialwissenschaften.
Eine