Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie. Ingo Pies

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Название Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie
Автор произведения Ingo Pies
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783846345757



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so Popper, ihren Galilei bis heute nicht gefunden, d.h. sie verfügen (noch?) nicht über eine hinreichend robuste Erkenntnistradition.[158] Auf diese Problemsituation reagieren Versuche, die naturwissenschaftliche Erkenntnistradition in den Sozialwissenschaften zu kopieren. Diese Versuche sind umstritten, und zu diesem Streit nimmt Poppers Methodologie der Sozialwissenschaften Stellung.

      In seinem Buch über das „Elend des Historizismus“[159] – das Elend einer Auffassung, die die Sozialwissenschaften auf historische Voraussagen festlegen will –, unterscheidet Popper zwei historizistische Varianten. Die eine nennt er pro-, die andere anti-naturalistisch. Erstere befürwortet „die Anwendung physikalischer Methoden in den Sozialwissenschaften“[160], letztere lehnt eine solche Anwendung ab. Popper wirft beiden Varianten im Prinzip denselben Fehler vor: nämlich ein grundlegendes Missverständnis der physikalischen Methode.

      Hinsichtlich der anti-naturalistischen Variante des Historizismus diagnostiziert Popper, dass sie zu holistischen Sozialexperimenten neige, bei denen das gesellschaftliche Ganze aufs Spiel gesetzt wird, und dass sie mithin die Bedeutung kontrollierter Experimente in der Physik verkenne. In Anlehnung an solche kontrollierten Experimente formuliert Popper den Gegenentwurf einer „Stückwerks-Sozialtechnologie“, derzufolge institutionelle Reformen inkrementalistisch, Schritt für Schritt zu erfolgen haben, weil sich nur so das Zurechnungsproblem lösen lässt, welche Institutionen für welche Missstände überhaupt verantwortlich sind. Popper macht geltend, dass sein Konzept über eine überlegene |110|Lernfähigkeit verfüge. Es ist also ein lerntheoretisches und in diesem Sinne kritisch-rationales Argument, das für inkrementalistische und gegen holistische Reformversuche spricht. Popper (1944–45, 1987; S. 70): „[E]s ist sehr schwer, aus sehr großen Fehlern zu lernen.“

      Hinsichtlich der pro-naturalistischen Variante des Historizismus diagnostiziert Popper, dass die Annahme historischer Entwicklungsgesetze auf einem Missverständnis der Verwendung von Naturgesetzen in der Physik beruhe. Die logische Struktur wissenschaftlicher Erklärungen und Prognosen werde grundlegend verkannt, mit der Folge, dass der sozialwissenschaftliche Erkenntisfortschritt nachhaltig behindert werde. Wiederum ist es ein letztlich lerntheoretisches Argument, dessen sich Popper hier bedient. Dieses Argument lässt sich in drei Schritten rekonstruieren, die in eine vernichtende Kritik des Pro-Naturalismus münden.

      Der erste Schritt besteht in einer aussagenlogischen Erläuterung des (natur-) wissenschaftlichen Erklärungskonzepts: Erklärung heißt, ein Explikandum aus einem Explikans herzuleiten. Das Explikandum besteht aus Sätzen, die einen empirischen Sachverhalt beschreiben. Das Explikans hingegen besteht aus zwei Arten von Prämissen. Zum einen handelt es sich um universale Sätze, zum anderen um singuläre Sätze. Die universalen Sätze formulieren hypothetische Naturgesetze, d.h. sie beanspruchen allgemeine Gültigkeit. Die singulären Sätze jedoch beziehen sich auf den jeweiligen Einzelfall; sie spezifizieren die konkreten Bedingungen und beanspruchen als Hypothesen daher lediglich situative Gültigkeit. Eine Erklärung besteht nun in dem Versuch, den beschriebenen Sachverhalt aus singulären und universalen Sätzen folgen zu lassen.

      Im zweiten Schritt erfolgt eine aussagenlogische Erläuterung des wissenschaftlichen Prognosekonzepts. Während eine Erklärung bei einem bereits vorliegenden Explikandum ansetzt und dieses auf ein allererst zu entwickelndes Explikans zurückführt, geht eine wissenschaftliche, d.h. bedingte Prognose genau anders herum vor. Sie setzt beim Explikans an und schließt auf ein Explikandum, d.h. auf einen Sachverhalt, der erst in der Zukunft eintreten wird. Wissenschaftliche Erklärungen und Prognosen weisen eine gleichartige aussagenlogische Struktur auf; ihre Argumentationsrichtung ist jedoch diametral entgegengesetzt.

      Der dritte Schritt besteht in einer aussagenlogischen Erläuterung des wissenschaftlichen Fortschrittskonzepts: Fortschritt heißt, Erklärungen und Prognosen zu verbessern, d.h. aus Fehlern zu lernen. Scheitert die deduktive Verknüpfung von Explikans und Explikandum, so kann dies unter bestimmten Umständen – nämlich dann, wenn die situative Gültigkeit der singulären Sätze ebenso wie die Beschreibung des Explikandums vergleichsweise unproblematisch ist – als eine Prüfung des universalen Satzes aufgefasst werden und als erfolgreiche Anwendung des ‚modus tollens‘ einen Anstoß zu theoretischen Weiterentwicklungen geben, d.h. zu Verbesserungen der universalen Sätze.

      In diesen drei gedanklichen Schritten wird die Aussagenlogik als Darstellungsmittel einer – nicht aussagenlogischen, sondern – methodologischen Argumentation verwendet. Diese Argumentation mündet in Poppers Kritik, dass die in der pro-naturalistischen Historizismusvariante verwendeten Gesetzesaussagen nicht universale, sondern singuläre Sätze sind, die sich auf historische Einzelereignisse oder Folgen solcher Einzelereignisse beziehen, z.B. auf das historische ‚Gesetz‘ |111|einer Stufenfolge gesellschaftlicher Entwicklungsstadien. Dieses durch eine Äquivokation des Gesetzesbegriffs – wenn nicht hervorgerufene, so doch – verstärkte Selbstmissverständnis der eigenen Methode sei vor allem deshalb so bedeutsam, weil es das Auffinden wirklicher Gesetze durch die Sozialwissenschaften erschwere oder sogar verhindere. Popper argumentiert, dass eine (Rück-)Übertragung dieser sozialwissenschaftlichen Praxis auf die Naturwissenschaften theoretischen Fortschritt zunichte machen würde: „Wir können … nicht hoffen, eine universale Hypothese prüfen und ein für die Wissenschaft annehmbares Naturgesetz finden zu können, wenn wir dauernd auf die Beobachtung eines einzigartigen Prozesses beschränkt sind.“[161] Wieder ist es also ein lerntheoretisches und in diesem Sinne kritisch-rationales Argument, auf das er sich stützt: Auch in den Sozialwissenschaften erfolge Erkenntnisfortschritt durch Kritik, und ebendieser Kritik werde durch historizistische Methodendefizite der Boden entzogen, mit der Konsequenz eines vergleichsweise geringeren Erfolgs der Sozialwissenschaften. Für Popper steht der Historizismus der Falsifizierbarkeit im Wege und führt zur Pseudo-Wissenschaft.

      (3) Poppers zweibändiges Buch über die „offene Gesellschaft“[162] ist ein Zwillingsprodukt seines Buches über den Historizismus. Beide sind nahezu zeitgleich entstanden. An ihnen wurde simultan gearbeitet. In seiner methodologischen Studie geht es Popper um den pseudo-wissenschaftlichen Charakter des Historizismus. In seiner Streitschrift für die offene Gesellschaft geht es ihm um die politischen Konsequenzen historizistischer Denkfehler. Hier wird die wissenschaftstheoretische Kritik des Historizismus durch eine gesellschaftspolitische Kritik ergänzt. Auch diese Ergänzung steht ganz im Zeichen des kritischen Rationalismus, d.h. einer Theorie sozialen Lernens.

      Popper reagiert auf die totalitären Politikentwicklungen seiner Zeit mit einer Interpretation, die es ihm erlaubt, als Philosoph – d.h. als Methodologe: als Spezialist für Methodenreflexion – gegen den Totalitarismus dezidiert Stellung zu beziehen. Er interpretiert den Totalitarismus als eine Begleiterscheinung der Zivilisation, als (untauglichen) Versuch, sich der „Last der Zivilisation“[163] zu entledigen. Popper unterstellt dem Totalitarismus hehre Motive. Er sieht in ihm einen Ausdruck des politischen Willens, das Los der Mitmenschen zu verbessern – genauer: einen Ausdruck extremer Fehler, die einer durchaus wohlmeinenden Politik unterlaufen können. In diesem Sinne interpretiert Popper die Ergebnisse totalitärer Politik als nicht-intendierte Folgen intentionaler – soziale Verbesserungen intendierender – Handlungen. Für Popper besteht der Kardinalfehler totalitärer Politik darin, gesellschaftliche Lernprozesse abzuwürgen, durch zentrale Planung zum Stillstand zu bringen. Deshalb zielt sein demokratischer Gegenentwurf darauf ab, gesellschaftliche Lernprozesse institutionell zu unterstützen. Popper geht es um das Verfahren – d.h. die Methode – sozialer Reformen, und hier vertritt er die Auffassung, dass „die Demokratie – und sie allein – einen institutionellen Rahmen darstellt, innerhalb dessen eine Reform ohne Gewaltanwendung |112|und damit die Anwendung der Vernunft auf die Fragen der Politik möglich ist“[164]. Insofern ist Poppers Plädoyer für die offene Gesellschaft – genauer: für die demokratische Verfassung der offenen Gesellschaft – zugleich ein Plädoyer für gesellschaftliches Lernen, für sozialen Fortschritt durch Kritik, insbesondere durch kritische Diskussion, ein Plädoyer für soziale Verbesserungen durch schrittweise Reformen.

      (4) Poppers Aufsatzsammlung mit dem Titel „Objektive Erkenntnis“[165] liegt – so der Untertitel – ein „evolutionärer Entwurf“ zugrunde. Dieser Entwurf mündet in die sog. ‚Drei-Welten-Theorie‘ und lässt sich in drei Schritten rekonstruieren.

      Erstens bedient sich Popper zur Darstellung seiner Lerntheorie