Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie. Ingo Pies

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Название Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie
Автор произведения Ingo Pies
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783846345757



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S. 107–135.

      |99|Popper, Karl R. (1967, 1995): Das Rationalitätsprinzip, in: ders.: Lesebuch: ausgewählte Texte zu Erkenntnistheorie, Philosophie der Naturwissenschaften, Metaphysik, Sozialphilosophie, hrsg. von David Miller, Tübingen, S. 350–359.

      Rosen, Sherwin (1993): Risks and Rewards: Gary Becker’s Contributions to Economics, in: Scandinavian Journal of Economics 95, S. 25–36.

      Royal Swedish Academy of Siences (1993): The Nobel Memorial Prize in Economics 1992, in: Scandinavian Journal of Economics 95, S. 1–5.

      Sandmo, Agnar (1993): Gary Becker’s Contributions to Economics, in: Scandinavian Journal of Economics 95, S. 7–23.

      Schramm, Michael (1996): Ist Gary S. Beckers ‚ökonomischer Ansatz‘ ein Taschenspielertrick? Sozialethische Überlegungen zum ökonomischen Imperialismus, in: Hans G. Nutzinger (Hrsg.), Wirtschaftsethische Perspektiven III, Berlin, S. 231–258.

      Spencer, Roger W. und David A. Macpherson (Hrsg) (1986, 2014): Lives of the Laureates: Twenty-Three Nobel Economists, 6. Auflage, Cambridge, Mass.

      Stigler, George J. und Gary S. Becker (1977, 1996): De Gustibus Non Est Disputandum, in: Gary S. Becker: Familie, Gesellschaft und Politik – die ökonomische Perspektive, übersetzt von Monika Streissler, hrsg. von Ingo Pies, Tübingen, S. 50–76.

      Suchanek, Andreas (1994): Ökonomischer Ansatz und theoretische Integration, Tübingen.

      Tamura, Robert F. (1995): Human capital, Fertility, and Economic Growth, in: Mariano Tommasi und Kathryn Ierulli (Hrsg.), The New Economics of Human Behavior, Cambridge, S. 77–91.

      Weber, Max (1922, 1988): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, 7. Aufl., Tübingen.

       [Zum Inhalt]

      |100|Karl Popper (1902–1994)

      „Die ‚Welt‘ ist nicht rational. Es ist aber die Aufgabe der Wissenschaft, sie zu rationalisieren. ‚Die Gesellschaft‘ ist nicht rational, aber es ist die Aufgabe des Sozialtechnikers, sie zu rationalisieren.“ Karl Popper (1945, 1992b; Anm. 279:19, S. 442)

      Karl Poppers kritischer Rationalismus

      Das Werk Karl Poppers enthält explizite und implizite Antworten auf die Frage, welchen Beitrag die Wissenschaft zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme zu leisten vermag, sofern sie sich eine geeignete Vorgehensweise zu eigen macht. Aber wer hält diese Antworten, dieses Insistieren auf Methode, heute noch für zeitgemäß? Gerade unter Wissenschaftlern nimmt offenbar die Zahl derer eher zu, für die Popper nicht länger ein Stein des Anstoßes ist, geschweige denn gar eine Quelle der Inspiration. Ein untrügliches Indiz hierfür besteht darin, dass sich nun (vornehmlich) die ‚Fachphilosophen‘ seines Werkes annehmen und es in Einführungen für den Seminarbetrieb und für interessierte Laien kleinarbeiten. Auf diese Weise wird Popper zugleich popularisiert und ent-aktualisiert. Die destillierte ‚Essenz‘ seines Werkes wird gleichsam auf Flaschen gezogen. Heraus kommt ein Vademecum: Popper für den Hausgebrauch.

      Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Poppers Werk der heutigen Forschung noch etwas zu sagen hat, ob also jenseits einer rein vergangenheitsorientierten auch eine zukunftsweisende Lesart möglich wäre. Im Folgenden wird versucht, eine solche Lesart zu entwickeln. Es geht um eine kritische Popper-Interpretation, die sein Werk re-aktualisiert. Untersucht wird, welche gesellschaftspolitischen und gesellschaftstheoretischen Inspirationen sich den Arbeiten Karl Poppers auch heute noch abgewinnen lassen, sobald man – im Wege einer |101|weitgehend werkimmanenten Argumentation – seinen kritischen Rationalismus einer konstruktiven Kritik unterzieht. Die Leitfrage der Abschnitte 1 bis 4 und 5 bis 9 lautet: Was muss man über dieses Werk wissen, um von diesem Werk – teils mit, teils gegen Popper – lernen zu können?

      1. Zugangsschwierigkeiten

      Karl Poppers Schriften sind vermeintlich leicht zu lesen. Stets bemüht sich der Autor um eine einfache und klare Ausdrucksweise. Redundanzen erleichtern das Verständnis. Fremdwörter werden vermieden oder umschrieben, zentrale Formulierungen vielfach variiert und erläutert. Als Autor ist Karl Popper auf eine geradezu prätentiöse Weise unprätentiös.[140]

      Doch stehen einem Verständnis seines Werkes gewisse (zusätzliche) Schwierigkeiten entgegen. Das wohl wichtigste Rezeptionshindernis dürfte darin liegen, dass Popper seine Argumente im Wege einer Kritik der Argumente anderer entwickelt. Sein Werk lebt aus der Kontroverse, so dass man den historischen Hintergrund berücksichtigen muss, wenn man es heute verstehen will. Formelhaft zugespitzt könnte man sagen: Poppers Texte sind Kon-Texte, nicht Setzungen, sondern Auseinander-Setzungen. In ihnen dominiert nicht das Pro, sondern das Contra. Sie sprechen nicht für sich allein; sie widersprechen. Deshalb müssen sie im Horizont der jeweiligen Gegenpositionen gedeutet werden. Dies macht eine angemessene Rezeption oft voraussetzungsvoller und damit schwieriger, als es auf den Blick scheinen mag. Weitere Verständnisschwierigkeiten kommen hinzu.

      Erstens behandelt Popper eine extreme Spannweite scheinbar disparater Themen. Abgesehen von seinen Schriften zur Evolution, zur Physik und Statistik sowie zum Leib-Seele-Problem, erstreckt sich das Spektrum der für sein Werk zentralen Arbeiten von Fragen der Wissenschaftstheorie im allgemeinen über Fragen der sozialwissenschaftlichen Methodologie im besonderen bis hin zu politischen Stellungnahmen gegen totalitäre Gefährdungen der Demokratie (Abb. 1).

      Abbildung 1:

      Die thematische Spannweite

      |102|Zweitens wird Popper nicht müde zu betonen, dass all diese Beiträge systematisch zusammenhängen, dass es sich um Anwendungen ein und desselben Denkansatzes handelt, um Anwendungen des kritischen Rationalismus.

      Drittens bleibt die Genese dieses Denkansatzes weitgehend im Dunkeln. Schon gar nicht wird sie durch die Reihenfolge der Schriften wiedergegeben: Zum einen klaffen Verfertigung und Veröffentlichung der Schriften zeitlich z.T. weit auseinander. Zum anderen scheinen die grundlegenden politischen und methodologischen Überzeugungen Poppers geraume Zeit vor der ersten (wissenschaftstheoretischen) Buchpublikation – und zudem koevolutiv – entstanden zu sein.

      Hinzu kommt eine vierte Zugangsschwierigkeit. Nicht nur setzt das Werk ein, nachdem die Entstehung des Denkansatzes bereits (weitgehend) vollzogen ist; darüber hinaus sind die Schriften von Popper so angesetzt, dass sie auch die weitere Entwicklung seines Denkens eher im Dunkeln lassen, denn auf (vermeintliche) Gegenargumente, die er der Sache nach anerkennt, reagiert Popper regelmäßig mit dem Hinweis – und oft sogar mit dem Nachweis –, dies immer schon, d.h. bereits in seinen Frühschriften, so gesehen zu haben. Poppers Standardantwort auf Kritik besteht darin, missverstanden worden zu sein, und Neuerungen erfolgen bei ihm – von wenigen Ausnahmen abgesehen – stets im Stil einer Ausarbeitung alter Ideen, die sich bis in seine frühe Jugend zurückverfolgen lassen.

      In der Tat ist Poppers Werk in einem ungewöhnlichen Ausmaß Primärliteratur und Sekundärliteratur zugleich. Es ist durchzogen von autobiographischen Schilderungen, Eigenzitaten und Selbstkommentaren. Manche Leser werden hiervon abgestoßen und empfinden die Form einer solchen Argumentation als – je nachdem – manieriert, arrogant, selbstverliebt, monologisierend oder gar dogmatisch. Doch sollte man hier nicht allzu empfindlich sein. Neben dem Versuch, gravierende Missverständnisse seiner Position zurückzuweisen und den systematischen Zusammenhang seiner Auffassungen zu verdeutlichen, bilden Poppers autobiographische Selbstinterpretationen nämlich geeignete „Ausgangspunkte“[141] für eine kritische Rekonstruktion des zugrunde liegenden Denkansatzes.

      2. Popper über Popper: Die autobiographische Selbstinterpretation

      Poppers eigener Auskunft zufolge sind es zwei Ereignisse, die ihn – als Siebzehnjährigen