Название | Heimweg |
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Автор произведения | Ernst Geiger |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990015414 |
Das Mädchen musterte ihn. »Welche Freundin meinst du denn?«
»Mit den blonden Locken und dem bordeauxroten Pullover.«
Kurz blickte ihn das Mädchen verdutzt an. Vermutlich war ihr selbst noch gar nicht aufgefallen, dass der Pullover bordeauxrot war. Wer achtete schon auf so ein Detail an einem Ort wie diesem?
Dann lachte sie auf. »Du meinst die Xandi. Na, ich weiß nicht. Warum stellst du dich nicht einfach selbst vor? Da kommt sie.«
Mit Entsetzen drehte er sich um und sah, wie sich das blonde Mädchen langsam auf sie zubewegte, in jeder Hand ein Glas Bier. Alle Worte, die er sich zurechtgelegt hatte, waren verschwunden. Alle Informationen, die er jemals über die sozialen Gepflogenheiten der Konversation zusammengetragen hatte, waren innerhalb eines Atemzugs ausgelöscht worden.
Ohne sich zu verabschieden, wich er zurück. Er stolperte Richtung Tanzfläche, prallte gegen einen Rücken und kam ins Straucheln. Er stammelte Entschuldigungen, die im Lärm unmöglich zu hören waren. Er schaffte es zurück zu seiner Ecke, wo das Bier genauso auf dem Tresen stand, wie er es zurückgelassen hatte.
Jetzt erst bemerkte er, wie stark sein Herz pochte. Seine Hände zitterten. Hatte er seine Chance vertan? Vermutlich würde die Brünette ihrer blonden Freundin erzählen, wie seltsam er sich verhalten hatte. Er fühlte sich wie der größte Idiot. In einem schnellen Zug trank er das Bier aus und bestellte mit wenigen Handzeichen noch eines. Die kühle Flüssigkeit beruhigte seine Nerven. Vermutlich hatte das Mädchen ihn gar nicht gesehen. Und wahrscheinlich hatte ihre Freundin ihn ebenfalls schon vergessen. Mit jedem Schluck gewann er ein Stück Sicherheit zurück.
Er beschwor noch einmal das Bild herauf, wie sie sich lächelnd auf der Tanzfläche bewegte. Alleine müsste er sie treffen, dann würde sie ihn bestimmt nicht ablehnen. Wenn sie alleine wären und er ihr erklären könnte, wie schön sie war, dann würde sie verstehen.
Als er mit seinen Gedanken wieder in den muffigen Innenraum des Azzurro zurückkehrte, mittlerweile spielte es eine Nummer von Michael Jackson, und seine Augen dorthin richtete, wo sie gerade noch gesessen war, war sie verschwunden. Er konnte ihre beiden Freundinnen sehen, darunter die Brünette, doch nicht sie. Er blickte zur Tanzfläche. War sie dort? Er konnte sie unter den flackernden Silhouetten nicht ausmachen. Hatte sie die Diskothek vielleicht verlassen? War das seine Chance?
Ohne recht darüber nachzudenken, stolperte er vorwärts. Sein Bier, das sechste oder siebente, ließ er achtlos auf der Theke zurück. Bereits nach wenigen Schritten spürte er die Wirkung des Alkohols, der Raum wirkte seltsam eng und verschwommen, sein Gehirn sendete Signale, die auf dem Weg zu seinen Beinen verlorengingen. Es war ein Wunder, dass er ohne Zusammenprall den Weg zur Garderobe fand.
Als er vor den Eingang trat, legte sich die Kälte um ihn wie ein Mantel aus Dornen. Es kam ihm nicht wie Oktober, sondern wie Mitte Dezember vor. Er blickte auf die Uhr und benötigte einige Momente, um die Position der Zeiger unter dem fahlen Licht einer Straßenlaterne richtig zu deuten. Fast halb drei Uhr früh.
Die breite Himberger Straße war beinahe menschenleer. Ein paar betrunkene Gäste der Disco taumelten noch darauf herum, in der Ferne waren vereinzelt Motorengeräusche und Lachen zu hören. Er blickte sich um. Wo konnte sie sein?
Ziellos begann er, die Himberger Straße stadteinwärts, in Richtung Favoritner Zentrum, zu gehen. Nur wenige Meter von der Disco entfernt lag die Straße verlassen vor ihm. Wie eine Oase des Lichts ragte linker Hand eine Tankstelle aus der Dunkelheit. Das Licht zog ihn magnetisch an.
Er fokussierte seinen Blick, und dann sah er sie: Ein paar Meter neben der Tankstelle war eine Telefonzelle. Und in dieser Telefonzelle stand sie. Die junge Frau mit den blonden Locken und dem bordeauxroten Rollkragenpullover, mittlerweile unter einer Lederjacke versteckt. Xandi. Alexandra?
Zaghaft ging er auf die Telefonzelle zu. Sein Kopf fühlte sich taub an. Er dachte nicht daran, wie das Bild auf sie wirken würde: ein nach Alkohol riechender Fremder, der mitten in der Nacht an eine Telefonzelle klopfte. In seinen Gedanken überwog die Gewissheit, dass sie ihn verstehen würde, dass sie ihn erkennen würde. Er war völlig fasziniert von ihr. Wie konnte ihr das nicht gefallen?
Er war nur noch wenige Meter von der Telefonzelle entfernt, sie hatte ihren Blick auf das schwarze Telefon gerichtet und bemerkte ihn nicht. Er war nun so nah, dass er sie hören konnte.
»Es ist so lieb von dir, dass du mich so spät noch abholen kommst. Sicher, dass es keine Umstände macht?«, sagte sie, und ihre Stimme war so, wie er sie sich vorgestellt hatte: weich, warm, verständnisvoll. »Du bist der Beste. Ich freu mich auch schon sehr, dich zu sehen. Ja, die Tankstelle beim Azzurro. Bis gleich«, sagte sie und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Ja, ich dich auch. Bussi, Georg.«
Sie hängte den Hörer auf die Gabel und drehte sich um. Instinktiv sprang er zur Seite, hinter eine Plakatwand. Er hörte, wie ihre Absätze über den Asphalt klapperten und ihre Schritte sich langsam entfernten.
Er fühlte sich mit einem Mal ausgenüchtert. Als hätte ihm jemand einen Faustschlag versetzt und seinen Kopf danach in Eiswasser getaucht. Wer war dieser Georg? War das etwa ihr Freund? Doch wenn er ihr Freund war, wenn er sie liebte, wieso ließ er sie dann allein in eine Diskothek gehen? Wo doch jeder wusste, dass junge Frauen, besonders so schöne wie sie, unzähligen Gefahren ausgesetzt waren. Sie konnten angegriffen, ausgeraubt, verletzt oder, am schlimmsten, verführt werden. Hätte er so eine wunderschöne Freundin – wäre sie seine Freundin – er würde sie sicherlich nicht alleine ausgehen lassen. Er würde sie vor anderen Männern beschützen. Diesem Kerl war offenbar völlig egal, was sein Mädel spätnachts trieb. Das war für ihn Beweis genug, dass sie ihm nicht wichtig sein konnte. Sie hatte etwas Besseres verdient. Jemanden, der ständig auf sie aufpasste, der nicht von ihrer Seite wich, der sie keine Sekunde vergessen ließ, wie schön und schützenswert sie war. Jemanden wie ihn. Jemand, der sie nicht ausnützte, dem sie nicht egal war.
Langsam trat er hinter der Plakatwand hervor und in den Halbschatten, den die Tankstelle auf den Asphalt warf. Sie war etwa zwanzig Meter vor ihm. Sollte er sie vor diesem Typen warnen, der es offensichtlich nicht gut mit ihr meinte? Sollte er ihr beweisen, dass er viel mehr für sie tun würde? Dass er sie nicht so ungeschützt mitten in der Nacht eine leere Straße hinabspazieren lassen würde? Dass sie die Frau seiner Träume war?
Er musste sich schnell entscheiden. Nur noch wenige Augenblicke, und die Dunkelheit, die hinter den Kastanienbäumen begann und die Straße genauso wie die parkenden Autos in ein Reich jenseits seiner Kontrolle zog, würde sie verschlucken. Schon jetzt waren ihre blonden Locken, ihr wippender Gang, fast nicht mehr als ein flüchtiger Traum.
Er musste sich schnell entscheiden, sonst würde sie für immer fort sein.
PULLOVER
2000
Donnerstag, 14. September Berggasse, Wien-Alsergrund
Das Hemd klebte an meiner Brust. Ich warf einen Blick zum Fenster, um sicherzugehen, dass es auch wirklich geöffnet war. Was kurzfristig Erleichterung versprochen hatte, war mittlerweile der Grund, dass sich mein Büro in einen spätsommerlichen Hochofen verwandelte.
Es war Donnerstagnachmittag, und ich war den ganzen Tag mit dem Lesen, Korrigieren und Genehmigen von Akten beschäftigt gewesen. Nicht gerade die spannendste Arbeit für einen Polizisten. Und dennoch sah meine Hauptbeschäftigung genau so aus.
Als stellvertretender Vorstand des Sicherheitsbüros, der Zentralstelle der Wiener Kriminalpolizei, zuständig für schwere Straftaten, wurde ich von allen Referaten über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten und überwachte, ob auch keine Ermittlungsfehler begangen wurden. Seit fast zehn Jahren hatte ich diesen Posten jetzt schon inne, und mit jedem Jahr hatte ich mich etwas weiter von der Ermittlungsarbeit des Kriminalbeamten entfernt und zur Verwaltungsarbeit bewegt. Eine ausgesprochen wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe, doch wie gut ich sie auch ausführte, sie