Heimweg. Ernst Geiger

Читать онлайн.
Название Heimweg
Автор произведения Ernst Geiger
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783990015414



Скачать книгу

      

      Ernst Geiger:

      Heimweg

      Alle Rechte vorbehalten

      © 2021 edition a, Wien

       www.edition-a.at

      Lektorat: Maximilian Hauptmann

      Cover: Isabella Hofbauer

      Satz: Sophia Stemshorn

      Gesetzt in der Premiera

      Gedruckt in Deutschland

      1 2 3 4 5 — 24 23 22 21

      ISBN 978-3-99001-540-7

      eISBN 978-3-99001-541-4

       Ein Ernst-Geiger-Fall

       HEIM WEG

      Die Geschichte der Favoritner Mädchenmorde

image image

      Inhalt

       1988

       2000

       1988

       2000

       1989

       2000

       1990

       2000

       EPILOG

       1988

       Dienstag, 25. Oktober Disco Azzurro, Wien-Favoriten

      Das Erste, was ihm auffiel, war der bordeauxrote Rollkragenpullover. Er schätzte sie auf Anfang zwanzig, aber so genau konnte er es im aggressiven Stroboskoplicht der Tanzfläche nicht erkennen. Sie bewegte sich zwischen zwei Mädchen, vermutlich ihren Freundinnen, langsam zu Always on my mind der Pet Shop Boys, die Hände immer eng am Körper, die Finger fuhren die Seiten des Pullovers hinauf und hinunter, als würde sie über die Saiten einer Violine streichen, sie glitten über den langen Hals, berührten die blonden Locken.

      Maybe I didn’t treat you / Quite as good as I should have drang es aus den dröhnenden Boxen, die in den Ecken der Disco hingen und die Wände zum Vibrieren brachten. Es war eine ruhige Nummer, Musik für verliebte Pärchen, die einander bei langsamen Bewegungen tief in die Augen blickten. Sie tanzte umgeben von unzähligen Leuten, doch sie tanzte für sich allein. Sie hatte die Augen geschlossen und bemerkte ihn nicht. Niemand bemerkte ihn.

      Er stand an den Tresen gelehnt, nippte vorsichtig an seinem Bier und lauschte aufmerksam der Musik. Leichtes Unwohlsein machte sich in seiner Magengegend breit. Die Situation war ungewöhnlich für ihn. Er ging nicht oft aus, die laute Musik tat ihm in den Ohren weh, und unter Menschen fühlte er sich einsamer als sonst, wenn er allein war.

      Doch es war der 25. Oktober, und alle, die alt genug waren oder unaufmerksame Eltern hatten, trafen sich in einem der unzähligen Wiener Tanzlokale. Morgen würden sie ausschlafen, ihren Kater auskurieren, Aspirin schlucken und gar nicht bemerken, wie der Nationalfeiertag langsam an ihnen vorbeizog. Doch das alles war jetzt noch unendlich weit weg. Jetzt ging es um schwitzende Körper, um zuckende Arme und stampfende Beine, um lautes Gelächter und verunsicherten Blickkontakt und eine lange, unbeschwerte, sorgenfreie Nacht. Er versuchte, diese Empfindungen zu teilen. Und zum ersten Mal verstand er fast, was das bedeutete: dazugehören.

      Schon oft hatte er die Kollegen in der Bank über diese für ihn so unbekannten Erlebnisse sprechen hören. Auch heute Vormittag, versteckt hinter dem Schalter, an dem er Sparbücher für kleine Kinder in Begleitung ihrer Mütter eröffnete oder älteren Damen erklärte, wie sie Geld aus einem Automaten bekommen konnten, der wie durch Zauberhand Geldscheine ausspuckte. Mit halbem Ohr hörte er Pläne von wilden Discobesuchen mit Freundinnen und von einer Männerrunde, die Wien unsicher machen würde.

      Es war nicht die Absicht der Kollegen gewesen, ihn neidisch zu machen oder bloßzustellen. In Wirklichkeit sprachen sie gar nicht mit ihm. Er hörte nur zu. Das genügte.

      Als er heute von der Bankfiliale im vierten Wiener Gemeindebezirk mit der Straßenbahnlinie 65 zu seiner kalten, dunklen Zweizimmerwohnung im zehnten Bezirk, Favoriten, unterwegs gewesen war, hatte er sich unweigerlich fragen müssen, wie das wohl war: Pläne zu haben, zu einer Gruppe zu gehören, neue Menschen und Dinge kennenzulernen.

      Lange hatte er mit sich gerungen. Das Abendessen, lustlos zubereitete Spaghetti mit Bolognesesauce aus der Dose, war kalt geworden, während er nachdachte. Er schaltete den Fernseher ein und wieder aus. Schließlich zog er sich eine frische Jeans an, ein weites Kragenhemd mit Hawaii-Muster und sein einziges Sportsakko, braun, mit Schulterpolstern und Ellbogenflicken.

      Mit dieser mutigen Kombination hatte er die nächste Disco angesteuert, das Azzurro. Und jetzt stand er hier, einen Arm an die Theke gelehnt, den anderen gegen die Wand. In einem Winkel eingeklemmt, in dem er unmöglich zu entdecken war. Von dort aus starrte er auf die Tanzfläche, die Augen angestrengt gegen das flackernde Licht geöffnet, und ließ seine Gedanken an Orte abschweifen, die sein Körper nie erreichen würde.

      Girl, I’m sorry I was blind / but you were always on my mind.

      Der Song ging langsam zu Ende. Sollte er sie ansprechen? Er sah sie mit den beiden Mädchen von der Tanzfläche gehen. Sie steuerten einen der Tische an, wo sie in einer Sitznische die Köpfe zusammensteckten und aufgeregt tuschelten. Er müsste einmal quer über die Tanzfläche, vorbei an den zuckenden und pulsierenden Körpern, vorbei am Geruch von Schweiß und Haarspray. Würde er es überhaupt so weit schaffen? Die Distanz schien ihm unüberwindbar. Doch hätte er sie erst einmal überwunden, dann stünde das Schwierigste noch bevor: das Gespräch. Darf ich mit dir tanzen? Willst du mit mir tanzen? Hättest du Lust zu tanzen? Was war die richtige Art, sie anzusprechen? Egal wie er es anstellen würde, es würde nicht gut genug sein.

      Wie konnte er ihr begreiflich machen, dass er nicht einfach tanzen wollte, sondern dass er von allen Frauen hier nur mit ihr und mit ihr alleine tanzen wollte? Er hatte den ganzen Abend über die Tanzfläche beobachtet, doch nur von ihr hatte er den Blick nicht lassen können. Wenn eine Nummer zu Ende ging und er sie lachen sah, dann war er sich sicher, dass sie ein wunderbarer Mensch sein musste. Jetzt, wo er darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass er eigentlich gar nicht mit ihr tanzen wollte. Er wollte mit ihr reden, sie zum Lachen bringen, er wollte, dass sie sich in ihn verliebte. Er wollte ein ganzes Leben an einem Abend.

      Er nahm einen großen Schluck von seinem Bier, stellte es etwas zu kräftig am Tresen ab und stieß sich von der Wand ab, in Richtung des tumultartigen Gedränges. Er kämpfte sich durch Hände, Schultern, aneinandergepresste Münder. Die Tanzfläche war aus einem Meer aus wogenden Menschen zu einem Morast aus schwerfälligen Körpern geworden.

      Endlich hatte er es geschafft. Orientierungslos torkelte er zu der Nische, in der sie sitzen musste. Er blieb vor dem Tisch stehen, an dem er sie vermutete. Doch als er den Blick hob, konnte er sie nicht sehen. Stattdessen lächelte ihm ein brünettes Mädchen mit haselnussbraunen Augen und zu viel Rouge entgegen.

      »Na«,