Название | Zwischen Aufbruch und Randale |
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Автор произведения | Geralf Pochop |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783947380718 |
Zu unserem Erstaunen grenzte Frankreich direkt an die BRD. Wir schnappten unsere Schlafsäcke und stellten uns an die Autobahn. Den Daumen hoch und schon saßen wir in einem teuren Westgefährt. Der Fahrer stellte seinen Tempomat auf 220 km/h. Ununterbrochen bremste das Fahrzeug ab. Nur den Anschnallgurten war es zu verdanken, dass wir nicht durch das Auto flogen. Er schimpfte wie ein Rohrspatz auf die Autofahrer, die es wagten, nur 120–180 km/h auf der Überholspur zu fahren. „Dich zeige ich an, du Arschloch! Wer hat dir denn das Autofahren beigebracht?“ Währenddessen schrieb er sich einhändig die Nummernschilder besagter Wagen auf. Uns wurde angst und bange! An einer Raststätte irgendwo im tiefsten Westen ließ er uns schließlich raus. Uns war kotzübel. Während wir nach Luft schnappten, kam ein bunter Kleinbus auf die Raststätte gefahren. Aus ihm stiegen einige Punks. Wir gingen sofort auf einen zu und fragten, ob sie uns mitnehmen könnten. Der nette ältere Punk antwortete irgendwas auf Englisch. Diese Sprache war für Ostdeutsche genauso fremd wie Chinesisch. In der DDR war Russisch das Sprach-Pflichtfach. Der Punk nuschelte irgendetwas und wir filterten die Namen Sham 69 und Jimmy Pursey aus dem Kauderwelsch heraus. „Ah, ihr fahrt zum Sham-69-Konzert. Könnt ihr uns mitnehmen?“, fragten wir. „No, we are Sham 69. I’m Jimmy Pursey“, antwortete er. Wir verstanden nichts, waren uns aber sicher, dass diese Punks mit ihrem Kleinbus zu einem Sham-69-Konzert fahren würden. Wir erklärten, dass wir frisch aus der DDR kamen. Das verstand einer der englischen Punks und horchte interessiert auf. Nach weiteren zehn Minuten des Erklärungsversuchs bezüglich ihrer Identität ging der ältere Punk zum Kleinbus. Er kam mit zwei Sham-69-T-Shirts in der Hand zurück. Dann drückte er uns lächelnd die Kleidungsstücke in die Hand und zeigte auf sich: „I’m Jimmy Pursey.“ Dann wies er auf die restlichen Punks aus dem Kleinbus. „We are Sham 69.“ Nun verstanden wir es. Wir standen vor der Kultband Sham 69 aus England. Wahnsinn! Anfang der 80er hatte ich die ersten Songs von Sham 69 bei der John-Peel-Session im britischen Radio mitgeschnitten. Nun standen wir vor dieser Band. Der Kleinbus war voll. Aber Jimmy Pursey lud uns nach England ein. Zu einem Festival, auf dem sie spielten. Er schrieb eine Adresse auf. Wir könnten bei ihm wohnen. Der Bus fuhr weiter und wir blieben zurück mit unseren Sham-69-T-Shirts in der Hand und neuen Plänen im Kopf. Wir fahren nach Großbritannien! Zu unserem ersten britischen Punkfestival und zu Jimmy Pursey. Wahnsinn! Wo liegt denn eigentlich England? Wir fanden heraus, dass es gleich an Frankreich grenzt. Na klar. Der französische Freibeuter Robert Surcouf, der „Tiger der sieben Meere“, hatte in meiner Kindheit in der Fernsehserie Das Wappen von Saint Malo ja immer auf hoher See mit den Engländern gekämpft.
Frankreich 1989
Am Strand in Calais
Geralf 1989 mit Jimmy Purseys Sham-69-T-Shirt
Wir trampten nach Calais. Dort gab es eine neue Hürde. Das Meer versperrte den direkten Weg nach Großbritannien. Aber von hier fuhr eine Fähre. Wir waren unserem Ziel verdammt nah. Doch die Fährtickets waren für uns unerschwinglich. Unser Geld reichte einfach nicht. Wir schliefen mehrere Nächte in Calais am Strand und hofften auf irgendeine glückliche Fügung. Doch es fügte sich nichts. Unser Geld reichte nicht. Traurig gaben wir auf und trampten irgendwann zurück nach Braunschweig. Aber wenigstens hatten wir Frankreich gesehen. Und wir hatten Schätze im Gepäck. Zwei Sham-69-T-Shirts und die Adresse von Jimmy Pursey.
DAS IST UNSER HAUS – WOHNRAUMBESCHAFFUNG IN WESTBERLIN
Da wir das Leben in Braunschweig nach kürzester Zeit satthatten, planten wir nach Westberlin zu ziehen. Dort lebten inzwischen Hunderte Ex-DDR-Punks. Eine riesige Ostsubkultur-Gemeinde. Als minderjährige, 17-jährige Republikflüchtige und deren Fluchthelfer durften wir nicht die Transitstrecke durch die DDR benutzen. Wir wären sofort verhaftet worden. Somit gab es nur eine Möglichkeit, die Mauerstadt zu erreichen. Wir mussten fliegen. Als wir in Westberlin aus dem Flugzeug stiegen, hatten wir keinen blassen Schimmer, wo wir wohnen könnten. Aber auch hier halfen sich die vielen Exil-DDR-Punks untereinander. Anmelden konnten wir uns beim AG-Mauerstein-Akteur Igor und seiner Frau Jeanette, die dort inzwischen eine Wohnung besaßen. Laut Einwohnermeldeamt wohnten dort inzwischen Unmengen von ausgereisten DDR-Bürgern. Susi B. aus Halle (Saale) bezog gerade eine winzige Wohnung in Moabit. Dort konnten wir für kurze Zeit zwischen Farbdosen und sonstigen Malerutensilien unterkommen. Doch wo wollten wir danach wohnen? Da sahen wir in den Nachrichten einen Bericht über eine gerade vollzogene Hausbesetzung in Westberlin. Die Hochhäuser des Schwesternwohnheims des Rudolf-Virchow-Universitätsklinikums in der Sylter Straße. Die Besetzer sagten in der Sendung, es wäre noch viel Platz für weitere Besetzer. Mucksmäuschenstill hörten wir ihnen zu und dann war uns sofort klar: Das ist es!
Das besetzte Haus in der Sylter Straße
Am nächsten Tag nahmen wir unser spärliches Hab und Gut, das in zwei kleine Rucksäcke passte, und suchten diese Gebäude auf. Es kribbelte im Bauch. Sieben Jahre nach meiner stillen Besetzung in Halle (Saale) stand ich nun kurz davor, Hausbesetzer in Westberlin zu werden. Und das nicht still und heimlich wie im Osten üblich, um nicht aufzufallen, sondern laut. Mit Transparenten und viel Tamtam. Alle Balkons waren zu Spruchbändern umfunktioniert worden. Auf ihnen wurde mehr bezahlbarer Wohnraum gefordert. Auch alle möglichen politischen Ziele waren dort zu lesen. Das interessierte uns damals nicht. Wir suchten einfach nur einen Platz zum Wohnen. Und das mit viel Kontakt zur Subkultur. Hier waren wir richtig. Es traf noch ein weiterer Ex-DDR-Punk aus Eisenach ein. Etliche Wohnungen im Hochhaus standen noch leer. Wir besetzten eine ganze Etage. Ich glaube, es war die fünfte. Das war nun die Etage der Ostler.
Wir bleiben drin!
Während wir nur wohnen und Spaß haben wollten, hatten die Westberliner Besetzer etwas Größeres vor Augen. Sie hatten vielerlei politische Ziele und hielten ununterbrochen Versammlungen ab. Diese nannten sie Plenum. So was kannten wir aus der DDR-Subkultur überhaupt nicht. Es wurde diskutiert und diskutiert und diskutiert. Ab und zu wurde über etwas abgestimmt und dann wieder diskutiert. Wir verstanden kaum ein Wort. Wir verstanden auch nicht, dass sich alle hier vom Staat so extrem eingeengt fühlten. Für uns war es, im Gegensatz zum Leben in der DDR, die totale Freiheit. Ein Hochhaus zu besetzen, Transparente mit Sprüchen drauf, für jeden lesbar, anzubringen. Das alles hätte in der DDR unweigerlich zu langjährigen Haftstrafen für alle Beteiligten geführt. Wir Ostler versuchten, auf den Plena immer wieder unsere, ganz andere, Sichtweise rüberzubringen. Aber keiner verstand uns. Wir waren für die Westberliner Hausbesetzer irgendwie Ost-Exoten, die keine Ahnung von der Welt hatten. Ostdeutsch und Westdeutsch waren hier zwei total verschiedene Sprachen. Nach und nach zogen wir uns von den zahlreichen Plenumstreffen zurück und genossen unsere neu gewonnene Freiheit. Massig Wohnraum in einem besetzten Hochhaus in Westberlin. Was wollten wir mehr?!
Nach der Räumung
Doch das neue Wohnraumglück währte nicht lange. Mitten in der Nacht wurden wir von unseren Mitbewohnern unsanft geweckt. „Die Bullen kommen! Sie räumen! Wir müssen uns wehren! Wir müssen das Haus bis zuletzt verteidigen!“ Wir schauten schlaftrunken aus dem Fenster. Unzählige Polizisten in voller Montur mit Helm, Gummiknüppel und Schutzkleidung hatten das Haus umstellt. Wasserwerfer und sogar ein Räumpanzer standen bereit. Ein Stechen durchzuckte meinen