Völkerrecht. Oliver Diggelmann

Читать онлайн.
Название Völkerrecht
Автор произведения Oliver Diggelmann
Жанр Документальная литература
Серия KONTEXT / Reihe zu staatspolitischen Themen
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039199402



Скачать книгу

besitzen, es kann jedoch nach aussen nicht unabhängig handeln. Es ist kein völkerrechtlich anerkannter Staat.

      Das Konzept der Souveränität wurde nach der Formulierung durch Bodin rasch populär, da es die Stellung der Herrscher und den absolutistischen Staat stärkte. Es war wichtig für die Schaffung des modernen Staats als hochleistungsfähiger Organisationsform politischer Herrschaft, und es trug dazu bei, den Staat unabhängig von der Existenz des konkreten Monarchen als Einheit zu denken. Ob Staatsbildungsprozesse glückten, Gewaltmonopol und Souveränität erlangt wurden, entschied sich wesentlich daran, ob ein Herrscher die mit der Einlösung dieser Ambition verbundenen finanziellen Lasten – für Gesandtennetz, Kriegführung mit Söldnerheeren, Hof und Schuldendienst – zu tragen vermochte.16 Das moderne Völkerrecht ruht auf diesem Denken in Kategorien souveräner Staaten. Es schuf die Grundarchitektur der neuen Ordnung: Keine Macht, kein souveräner Staat sollte über den anderen Staaten stehen. Dass es bis heute etwa keine für alle Staaten obligatorische internationale Gerichtsbarkeit gibt, steht in direktem Zusammenhang mit der damaligen Entwicklung. Staaten sind internationalen Gerichten nur dann unterworfen, wenn sie sie vorher akzeptiert haben.

      Gewaltanwendung und «ius ad bellum»

      Das irritierendste Merkmal des Völkerrechts nach 1648 ist zweifellos das «ius ad bellum» – das Recht zum Krieg der Staaten. Wie war es möglich, fragt man sich aus heutiger Sicht, dass eine Rechtsordnung eigenmächtige Gewaltanwendung für legal erklärte? Heute kennt die UNO-Charta in Artikel 2 Ziffer 4 ein Verbot der Gewaltanwendung. Selbst die Gewaltandrohung ist verboten, also das, was man früher als «gunboat diplomacy» bezeichnete. Man liess Kriegsschiffe auflaufen oder Armeen aufmarschieren und verlangte den Abschluss eines Vertrags. Wie aber konnte es sein, dass das Völkerrecht vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg ein Recht zum Krieg kannte, das zur Idee eines zivilisierten Verkehrs zwischen Staaten doch offensichtlich quer steht? Man muss sehr genau hinsehen, um darin einen Sinn zu erkennen. So paradox es klingt: Unter den Umständen der damaligen Zeit konnte eine Entrechtlichung und Entmoralisierung der Gewaltanwendung zur Beruhigung der Situation beitragen. Um dies zu verstehen, muss man beim mittelalterlichen Rechtsdenken beginnen. Im christlichen Universalreich und noch im 16. Jahrhundert verletzte willkürliche Gewalt gegen christliche Gemeinwesen die göttliche Ordnung. Eigenmächtige Gewaltanwendung war verboten. Es gab eine Lehre vom gerechten und rechtmässigen Krieg, die «bellum iustum»-Doktrin, die genau festlegte, unter welchen Voraussetzungen Gewalt ausnahmsweise zulässig ist.17 Vor allem brauchte es eine «iusta causa», einen Rechtfertigungstitel. Infrage kamen im Wesentlichen Selbstverteidigung und Wiederherstellung des Friedens, nicht etwa aber Eroberung. In Europa setzte diese Doktrin Expansionsgelüsten und Gewaltanwendung bis ins frühe 16. Jahrhundert einigermassen erfolgreich Grenzen. Zumindest hemmte sie die Gewalt.

      Mit der Konfessionsspaltung veränderte sich die Grundkonstellation. Jede Konfession wähnte die religiöse Wahrheit auf ihrer Seite, die Bekämpfung der jeweils anderen war nun Kampf gegen Irrlehren verbreitende Häretiker. Die «bellum iustum»-Doktrin büsste unter solchen Vorzeichen ihre hemmende Rolle ein. Binnenchristliche Religions- und Bürgerkriege prägten in der Folge das 16. und 17. Jahrhundert bis 1648, und der Dreissigjährige Krieg, der wesentlich durch komplizierte Bündnisse und die Vorstellung der Unverhandelbarkeit religiöser Wahrheit verursacht wurde, war ein katastrophaler Gewaltexzess. Die «bellum iustum»-Doktrin war selbst zum Problem geworden. Jede Seite leitete aus ihr die Legitimation eigener Gewaltanwendung ab, weshalb Völkerrechtsgelehrte schon im 16. Jahrhundert versuchten, die «bellum iustum»-Doktrin zu lockern. Die Kompliziertheit der rechtlichen Verhältnisse war Teil des Gewaltproblems geworden. Der bedeutendste spanische Völkerrechtsgelehrte des 16. Jahrhunderts, Francisco de Vitoria (1483–1546), hatte die Frage aufgeworfen und teilweise auch bejaht, ob ein Krieg beiderseitig rechtmässig geführt werden könne. Jedenfalls gewann die Vorstellung immer mehr an Boden, dass der Krieg einem ritualisierten mittelalterlichen Duell ähnlich und bei Einhaltung bestimmter Formalien rechtlich beidseitig zulässig sei.

      Der Dreissigjährige Krieg mit seinem Patt zwischen den Konfessionen verstärkte das Bedürfnis nach Vereinfachung der rechtlichen Verhältnisse. An seinem Ende ging man davon aus, dass alle selbstständigen Herrschaftsträger über das «ius belli ac pacis» verfügen, das Recht zur Kriegserklärung, zum Bündnis und Friedensschluss.18 Der Krieg wurde der Idee nach zu einer Angelegenheit lediglich zwischen den betroffenen Parteien. Carl von Clausewitz’ berühmte, allerdings erst später geprägte Formulierung vom Krieg als der «Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln» überzeichnete zwar, besass aber fraglos einen wahren Kern. Der Krieg wurde damit begrenzt und eingehegt. Gewalt unter anderen ging einen nicht mehr automatisch etwas an. Das wirkte neuen Flächenbränden entgegen. Im 18. Jahrhundert setzte sich schliesslich die Vorstellung durch, dass das Recht zur Kriegführung Ausfluss der Souveränität sei. Auch wenn es auf den ersten Blick schwer verständlich klingt: Die Entstehung des «ius ad bellum» war Folge des Bedürfnisses nach Eindämmung der Gewalt. Die Bedingungen seiner Entstehung allerdings sollten sich später überleben.

      Mächtegleichgewicht

      Wenn das Recht selbst nicht für Frieden sorgt, was dann? Man setzte auf das Gleichgewicht der Mächte. Das Denken in den Kategorien eines Machtgleichgewichts drang ab dem späten 15. Jahrhundert vom Städtesystem Oberitaliens immer mehr in die Beziehungen der europäischen Mächte ein. Grundidee war, dass kein Staat stärker werden durfte als die anderen Staaten zusammen.19 Dem Prinzip lag die Idee einer Koalitionsdrohung der übrigen zugrunde, des Zusammenschlusses gegen den Mächtigsten. Die Gleichgewichtsidee bedeutete eine fundamentale Abkehr vom Universalreichsdenken. Die Existenz eines Gleichgewichts war zudem ein wichtiger Grund, das Völkerrecht zu beachten. Es wirkte imperialen Ambitionen innerhalb Europas entgegen. Das Gleichgewichtsdenken stützte damit die Geltung des Völkerrechts. Die Bedeutung des Prinzips war zeitweise so gross, dass es selbst konfessionelle Loyalitäten zurückzudrängen vermochte. Frankreich etwa kämpfte im Dreissigjährigen Krieg nicht aufseiten der Katholischen Liga, sondern der Protestantischen Union; ein katholischer Triumph hätte dem ebenfalls katholischen Rivalen Habsburg eine zu dominierende Stellung in Europa verschafft. Das Gleichgewichtsprinzip fand im Frieden von Utrecht, der den Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) beendete, explizit Erwähnung. Ob es lediglich politischer Natur war oder ob ihm zeitweise ein rechtlicher oder rechtsähnlicher Charakter zukam, ist umstritten.20

      Im 16. Jahrhundert richtete sich das Prinzip vor allem gegen Spaniens Dominanzansprüche. Dieses versuchte, mittels Kolonialhandelsmonopolen eine Weltherrschaft zu errichten, gegen die sich die anderen europäischen Mächte wehrten, vor allem Frankreich, die Niederlande und England. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts begann Spaniens Stellung nach dem Verlust der Niederlande 1609 sowie Portugals 1641 immer mehr zu erodieren. Das Prinzip richtete sich nun vornehmlich gegen das mächtiger gewordene Frankreich, das aus dem Dreissigjährigen Krieg gestärkt hervorgegangen war.21 Bis Mitte des 18. Jahrhunderts war Frankreichs Stellung als neue Vormacht kaum angefochten. Mit dem Verlust der amerikanischen Kolonien an Grossbritannien im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) aber änderte sich dies. Es setzte ein allmählicher Zerfall der französischen Stellung ein, wobei die letzte und folgenreiche Allianz gegen Frankreich jene in den Napoleonischen Kriegen (1792–1815) war. Der Aufstieg Grossbritanniens zur dominierenden Macht begann im 18. Jahrhundert und erreichte im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt. Das Gleichgewichtsprinzip sollte bis zum Ersten oder, je nach Lesart, gar bis zum Zweiten Weltkrieg eine zentrale Rahmenbedingung des Völkerrechts bleiben. Man kann über die Leistungsfähigkeit des Völkerrechts bei der Friedenswahrung im Grunde nur informiert sprechen, wenn man das Zusammenspiel von Völkerrecht und Gleichgewichtsdenken vor Augen hat.

      Kolonisierung

      Das europäische Völkerrecht war, wie euphemistisch oft formuliert wird, von Anbeginn an «kolonisierungsfreundlich». Deutlicher: Es war bereits seit seinen Anfängen und für lange Zeit ein wichtiges Rechtfertigungsinstrument für koloniale Unterdrückung. Das spätmittelalterlich-christliche Recht hatte diese Rolle vorgespurt. Die «bellum iustum»-Lehre hielt Kriege gegen Ungläubige grundsätzlich für gerechtfertigt. Legitimiert wurde die Gewaltanwendung oft mit der Missionierungspflicht