Völkerrecht. Oliver Diggelmann

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Название Völkerrecht
Автор произведения Oliver Diggelmann
Жанр Документальная литература
Серия KONTEXT / Reihe zu staatspolitischen Themen
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039199402



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und Entwicklung des Völkerrechts. Viele heutige Institutionen sind nur verständlich, wenn man um die Hintergründe ihrer Entstehung weiss. Im zweiten Teil geht es um den «Charakter» des Völkerrechts als Rechtsordnung, der doch zuweilen prekär erscheint, und das Zusammenspiel mit dem innerstaatlichen Recht. Tragend ist die Idee, dass die paradoxen Ungleichzeitigkeiten des Völkerrechts – das Nebeneinander von «archaischen» Mustern und Hochentwickeltem – eine Annäherung aus einer historischen Perspektive verlangen.

      Natürlich spiegeln Abhandlungen zum Völkerrecht immer die Weltsicht des Verfassers. Selbstverständlich nicht in dem Sinne, dass alles «bloss Ansichtssache» wäre – da sind harte Fakten, an denen es kein Vorbeikommen gibt: etwa die tiefen Spuren, die der Aufstieg der Menschenrechte im Völkerrecht hinterlassen hat. Dennoch entscheidet jeder Völkerrechtsautor über die Tonalität, in der er über sein Gebiet schreibt, und darüber, wie er Entwicklungen und Ereignisse deutet. Weglassen ist dabei Teil des Deutens. Die Spielräume sind, man muss es deutlich sagen, gross. Jede Völkerrechtlerin und jeder Völkerrechtler hat eine bestimmte Vorstellung davon, wie die Beziehungen zwischen den Gemeinwesen «funktionieren», ob und wie weit echte Kooperation möglich ist und welche Rolle das Recht spielt oder spielen soll.

      Wer über das Völkerrecht schreibt, orientiert sich ex- oder implizit an Kernideen zweier Grundmodelle internationaler Weltbilder. Einem sogenannt «realistischen» Grundmodell steht ein «idealistisches» gegenüber, das teilweise auch als «liberales» bezeichnet wird. Ich werde die Begriffe in Anführungszeichen benutzen, da ihre umgangssprachliche Bedeutung zu falschen Vorstellungen verführt – eine «realistische» Theorie etwa kann durchaus weltfremd sein, eine «idealistische» nahe am tatsächlichen Geschehen. In ihrem Kern wurden die beiden Konzeptionen bereits in der Antike vom griechischen Geschichtsschreiber Thukydides (454–396 v. Chr.) formuliert. Der Chronist des Peloponnesischen Kriegs zwischen Sparta und Athen benannte sie in einer berühmten Passage seines «Melierdialogs». «Realisten» sehen in den Beziehungen zwischen Gemeinwesen objektive Machtgesetze am Werk. Gemeinsames Recht hat nur so weit einen Platz, als Interessen übereinstimmen. «Idealisten» dagegen betonen die Möglichkeiten einer Verbesserung der Weltordnung durch Kooperation und gemeinsame Institutionen. Sie setzen auf die Vernunftbegabung des Menschen, Solidarität, Entwicklungsfähigkeit und Fortschritt. Sie weisen dem Recht einen bedeutenderen Platz zu als «Realisten». Bekannte «Realisten» sind etwa die Politikwissenschaftler Hans Morgenthau (1904–1980) und Henry Kissinger (geb. 1923), Aussenminister der USA von 1973 bis 1977. Immanuel Kant (1724–1804), der die Schaffung eines Völkerbundes bereits andachte, gilt als Vertreter des «idealistischen» Grundmodells. Seine Ideen haben etwa die amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson (1856–1924) und Franklin D. Roosevelt (1882–1945) beeinflusst, die bei der Schaffung von Völkerbund und UNO Schlüsselrollen spielten. Es versteht sich, dass sich die meisten Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtler an einer der zahlreichen Varianten des «idealistischen» internationalen Weltbilds orientieren. Das Recht spielt in dieser Theorierichtung eine bedeutendere, stabilere Rolle als bei den «Realisten». Es gibt aber auch Völkerrechtsautoren, die sich an «realistischen» Grundideen orientieren. Von ihnen wird ebenfalls zu reden sein.

      Dieses Buch ist für interessierte Laien und für Studierende geschrieben. Es enthält viele Beispiele und rekapituliert wichtige Fälle, die man kennen sollte. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auch darauf, was zu einem Thema aus schweizerischer Sicht zu sagen ist. Das Buch will dazu beitragen, die Hintergründe der in der Schweiz heftig geführten Debatte um das Völkerrecht besser auszuleuchten. Es will zu einer Versachlichung dieser Diskussion beitragen, die in beiden Lagern zu sehr in den Kategorien «gut» gegen «böse» geführt wird. Diese Versachlichung kann meiner Meinung nach nur erreicht werden, wenn das Völkerrecht in seinen Besonderheiten und seiner Bedeutung für die Zukunft besser verstanden wird. Der Weg dorthin führt über die Vergangenheit. Die Geschichte des Völkerrechts erzählt uns, weshalb es heute ist, wie es ist. Um der Lesbarkeit willen habe ich auf ausführliches Bibliografieren verzichtet und mich auf ausgewählte Literaturhinweise beschränkt.

      Entstehung und Entwicklung Teil 1

      Das Völkerrecht – verstanden als Recht zwischen relativ unabhängigen politischen Einheiten – hat viele Anfänge. Im Süden Mesopotamiens etwa gab es Mitte des 3. Jahrtausends vor Christus rechtlich geprägte Beziehungen zwischen verschiedenen Stadtstaaten, die man als früheres Völkerrecht bezeichnen kann. Sumerische Städte kooperierten, um sich gemeinsam gegen das Volk Akkad im Norden Mesopotamiens zu verteidigen, schlossen etwa Schiedsverträge und Nichtangriffspakte.1 Auch im chinesischen Kulturraum gab es weit vor der christlichen Zeitrechnung völkerrechtliche Beziehungen in diesem weit verstandenen Sinn, das heisst als rechtlich bindend empfundene Abmachungen zwischen relativ unabhängigen Reichen.

      Wenn man den Begriff des Völkerrechts genügend weit fasst, kennt fast jeder Kulturraum ein frühes Völkerrecht. Der in diesem Buch verwendete Begriff ist enger. Als Völkerrecht wird hier das in der frühen Neuzeit ab dem 15. Jahrhundert in Europa entstandene Recht zwischen, vor allem, modernen Territorialstaaten verstanden, von dem das heutige Völkerrecht direkt abstammt.2 Zwischen dem damals entstandenen und dem heutigen Völkerrecht besteht trotz aller Brüche im Prinzip Kontinuität. Im 16. Jahrhundert – genauer: 1576 – wurde das Konzept der Souveränität erfunden. Es wird in der UNO-Charta, mit allen Relativierungen zwar, im ersten ihrer Grundsätze erwähnt. Sie spricht in Artikel 2 Ziffer 1 vom Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten. Der Staatstheoretiker Jean Bodin erfand das Konzept als Antwort auf die Konfessionskriege seiner Zeit, verheerende Kriege, und es veränderte in der Folge das politische und rechtliche Denken grundlegend. Ein vertieftes Verständnis der Hintergründe, Leistungen und Schwächen des Souveränitätsbegriffs ist für das Verständnis des heutigen Völkerrechts fundamental. Natürlich bedeutet der Begriff heute etwas anderes als damals. Er hat in den Ohren vieler etwas Antiquiertes und Rückständiges, und das nicht ohne Grund. Dennoch verdient Hervorhebung, dass man viele Institutionen des heutigen Völkerrechts nur einordnen, ihre Leistungen und Schwächen erst verstehen kann, wenn man sie vor dem Hintergrund ihrer Verwobenheit mit der frühneuzeitlich-europäischen Politikgeschichte betrachtet.

      Wer die Geschichte des heutigen Völkerrechts in Europa beginnen lässt, muss mit Fragen oder gar Vorwürfen rechnen. Wäre es nicht wichtig und richtig, würden die höflichen unter den kritischen Stimmen fragen, die vielen Anfänge in den Blick zu nehmen, eine multikulturelle Perspektive zu wählen, da das heutige Völkerrecht doch ein Recht aller Kulturen und Erdteile ist?3 Ist die hier gewählte Perspektive nicht – einmal mehr – Ausdruck der Selbstbezogen- und Borniertheit europäischer Autoren, die die anderen Erdteile mit Ausnahme des nordamerikanischen als Mitläufer betrachten? Die in solchen Fragen formulierte Kritik wäre gerechtfertigt, wenn ich behaupten würde, es habe nur in Europa so etwas wie ein frühes Völkerrecht gegeben und die anderen Anfänge seien völkerrechtshistorisch unbedeutend oder uninteressant. Das liegt mir fern. Ich beginne in der europäischen frühen Neuzeit, weil sowohl die Leistungsfähigkeit als auch die Defizite vieler Institutionen des heutigen Völkerrechts erst hervortreten, wenn man die ihnen zugrunde liegenden politischen Ideen und ihre Hintergründe kennt.4 Der Grundsatz gegenseitiger Nichteinmischung der Staaten in innere Angelegenheiten, der in Artikel 2 Ziffer 7 der UNO-Charta aufgeführt ist und als «Interventionsverbot» bezeichnet wird, steht genealogisch in direktem Zusammenhang mit den konfessionellen Bürgerkriegen des 16. und 17. Jahrhunderts. Ein wesentlicher Treiber dieser Bürgerkriege waren Interventionen zugunsten der eigenen Konfessionsangehörigen. Man stand ihnen bei, etwa wenn sie Minderheiten in anderen Staaten waren. Das aus der Souveränitätsidee abgeleitete Interventionsverbot trug unter solchen Vorzeichen zum Frieden bei, weil es Einmischungen Grenzen setzte. Es wird heute oft kritisiert, durchaus mit vielen guten Gründen. Dies geschieht vor allem, weil es etwa von Diktatoren und Autokraten zur Abwehr von Kritik an Menschenrechtsverletzungen verwendet wird. Das Wissen um die Herkunft des Prinzips lässt uns aber wichtige Fragen stellen, etwa die sehr heikle, wann Einmischungen im Ergebnis mehr Schaden anrichten als helfen. Wie weit sind Erfahrungen, die zur Entstehung des Interventionsverbots geführt haben, für die Gegenwart von Belang? Ist in dem Prinzip mehr historische Erfahrung eingelagert, als sein heute schlechter Klang vermuten