Der Schoppenfetzer und der Henkerswein. Günter Huth

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Название Der Schoppenfetzer und der Henkerswein
Автор произведения Günter Huth
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783429064921



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Mann eine halbwegs glaubwürdige Erklärung für sein Verhalten geben musste. Er warf einen besorgten Blick in Richtung Brückenauffahrt. Hoffentlich bekam der Polizist im Streifenwagen nichts mit. Sonst wäre die Exklusivität seines Berichts dahin.

      Rottmann hatte seine Reaktion natürlich bemerkt und lehnte sich entspannt gegen den Sockel der mächtigen Heiligenfigur. »Also …? Ich höre!«

      Schöpf-Kelle entschloss sich, wenigstens einen Teil der Fakten preiszugeben. Ihm war klar, dass Rottmann, wenn er ihn anlog, durch seine Verbindungen zur Kripo sehr schnell die Wahrheit herausfinden würde. Mit mühsam kontrollierter Atmung weihte er sein Gegenüber in groben Zügen ein.

      Rottmann ließ den Journalisten zwar ausreden, blickte aber während dessen Ausführungen immer ungläubiger drein. Die Geschichte, die ihm der Journalist da auftischte, war schon mehr als abenteuerlich.

      »Sie werden es spätestens übermorgen in der Presse lesen können«, schloss Schöpf-Kelle seinen Bericht. »Sie werden sicher verstehen, dass ich jetzt mit diesem Exklusivmaterial schleunigst in die Redaktion muss, um die Bilder zu bearbeiten und meinen Artikel zu schreiben.«

      Er sah Rottmann bittend an.

      Der Ex-Kommissar trat einen Schritt zur Seite. »Verschwinden Sie schon. Wenn Sie mir allerdings einen Bären aufgebunden haben …« Er hob drohend seinen Finger. »Ich weiß ja, wo ich Sie finde!«

      Schöpf-Kelle bedankte sich rasch, dann verschwand er hastig in die Richtung, aus der er gekommen war.

      Erich Rottmann sah ihm einen Moment lang nach, dann stiefelte er ebenfalls weiter in Richtung Brückenbäck. Er wollte die Löwenbrücke überqueren und so den Rundgang beenden.

      Sein Zahn begann sich wieder bemerkbar zu machen. Es würde ihm wohl nichts anderes übrigbleiben, als endlich zum Zahnarzt zu gehen. Lange genug hatte er den Termin vor sich hergeschoben. Gleich morgen würde er in der Praxis anrufen und sich einen Termin geben lassen.

      Als Rottmann außer Sicht war, eilte Schöpf-Kelle zu seinem Auto. Von dort aus sah er Rottmann und Hund hinter der nächsten Ecke verschwinden. Jetzt griff er zum Handy, um Schorsch Entwarnung zu geben. Während er auf seinen Kumpel wartete, bemerkte er erst, dass sein T-Shirt von Schweiß durchnässt war. Er zog es hoch und wischte sich über das feuchte Gesicht. Wer konnte denn ahnen, dass sich der ehemalige Leiter der Mordkommission nachts auf der Alten Mainbrücke herumtreiben würde?

      Es dauerte nicht lange, bis Schorsch auftauchte. Während er einstieg, startete Schöpf-Kelle den Motor. Dabei hielt er nur triumphierend die Daumen in die Höhe.

      »Bei Dir alles klar? Gab es irgendwelche Schwierigkeiten?«

      »Nein«, entgegnete Schorsch und gähnte ausgiebig. »Da war nur so ein Alter mit Hund.Völlig harmlos. Der Polizist im Streifenwagen pennt noch immer. Wenn Du nichts dagegen hast, würde ich mich jetzt auch ganz gern in mein Bett verziehen.«

      Schöpf-Kelle gab wortlos Gas. Er verzichtete darauf, seinen Mitstreiter darüber aufzuklären, dass er gerade der schärfsten Schnüffelnase von Würzburg begegnet war. Von wegen harmlos!

      Nachdem Schöpf-Kelle seinen Spezi abgesetzt hatte, gab es für ihn nur noch ein Ziel: den Computer in der Redaktion. Er musste sehen, wie die Bilder geworden waren. Denn eine zweite Chance würde er nicht bekommen.

      In den verschwitzten Klamotten fuhr er zum Heuchelhof und betrat die Redaktion. Hastig startete er seinen Laptop und legte den Kamerachip in das Kartenlesegerät des Computers ein. Mit glänzenden Augen betrachtete er die Bilder, die er geschossen hatte. Die ersten waren zu dunkel und es war kaum etwas darauf zu erkennen. Offenbar hatte er die Spitze des Endoskops in die falsche Richtung gehalten.

      Doch dann verschlug es ihm fast den Atem. Bildschirmgroß starrten ihm die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels entgegen. Auf einem anderen Foto war unterhalb des Schädels das Skelett auszumachen. Es sah ganz so aus, als wäre der Tote vollständig erhalten.

      Schöpf-Kelle lehnte sich im Bürostuhl zurück. Für ihn bestand kein Zweifel, dass man hier in Würzburg auf einen sensationellen Fund gestoßen war. In Gedanken formulierte er bereits eine Schlagzeile, die in den nächsten Tagen und Wochen mit seinen Exklusivbildern durch die Presseagenturen gehen würde: »Würzi, der rätselhafte Tote im Brückenpfeiler!«

      Der Mann beugte sich über das Formular, setzte den Kugelschreiber auf und schrieb etwas steif seinen Namen auf die gestrichelte Linie: Rüdiger Maybaum. Zehn Jahre lang hatte er kaum Gelegenheit gehabt, seine Unterschrift unter ein Dokument zu setzen. Da musste der Kopf den ungelenken Fingern erst die richtigen Befehle geben, um die Bewegungen richtig zu koordinieren.

      Er richtete sich wieder auf. Heute war der Tag, den er schon lange herbeigesehnt hatte. Der Tag, der ihm die Freiheit schenken sollte. Der Tag seiner Entlassung. Der Tag, vor dem er sich gefürchtet hatte.

      Der Verwaltungsleiter der Justizvollzugsanstalt St. Georgen, in der Nähe von Bayreuth gelegen, zog den unterschriebenen Vordrucksatz zu sich heran und riss das unterste Blatt ab.

      »So, Herr Maybaum, jetzt gehen Sie bitte noch rüber ins Zimmer 135 und holen sich Ihre persönlichen Sachen, dann nebenan an die Kasse. Dort bekommen Sie Ihren Arbeitslohn ausbezahlt, den wir für Sie in den ganzen Jahren angespart haben. Anschließend sind Sie ein freier Mann. Versäumen Sie nicht, sich möglichst schnell bei der Agentur für Arbeit zu melden, damit Sie auf die Warteliste kommen.«

      Der Verwaltungsleiter warf einen Blick in die Papiere, dann sah er den vor ihm sitzenden Mann an. »Sie haben als künftigen Wohnsitz Würzburg in Unterfranken angegeben. Haben Sie dort persönliche Bindungen?«

      Der Strafgefangene, besser gesagt: der ehemalige Strafgefangene nickte knapp. »Ich habe vor meiner Verurteilung in einem Dorf in der Nähe von Würzburg gelebt … in Obereisenheim, wenn Sie schon einmal davon gehört haben. Wie Sie aus meinen Akten ersehen können, bin ich gelernter Winzer. Ich hoffe, dass ich bei einem der Weingüter Arbeit bekomme. Im Weinberg werden immer fleißige Hände benötigt.«

      »Vielleicht haben Sie auch die Möglichkeit, bei einer der Rettungsorganisationen unterzukommen«, stellte der Verwaltungsleiter fest. »Sie haben ja ihre Haftzeit genutzt und die Ausbildung zum Rettungssanitäter durchlaufen. Melden Sie sich auf jeden Fall umgehend bei Ihrem Bewährungshelfer, der wird Sie entsprechend unterstützen.« Er erhob sich.

      Auch der ehemalige Strafgefangene stand auf. Das Hemd, die Jeans und die Lederjacke, die er trug, stammten aus dem Kleiderfundus der Justizvollzugsanstalt. Es handelte sich um getragene, aber noch guterhaltene Kleider, die aus Spenden stammten. Seine eigenen Kleidungsstücke, die er bei seinem Haftantritt vor zehn Jahren getragen hatte, waren schon vor langer Zeit im Müll gelandet. Sie hätten ihm auch mit Sicherheit nicht mehr gepasst.

      Maybaum hatte sich im Knast nicht hängen lassen. Regelmäßig hatte er Krafttraining betrieben und in der Volleyballmannschaft gespielt. So war er über die Jahre drahtiger und schlanker geworden. Obwohl er sich schon im sechsten Jahrzehnt seines Lebens befand, war er topfit und konnte es an Körperkraft leicht mit wesentlich jüngeren Männern aufnehmen. Nur sein grauer Vollbart zeugte von seinem fortgeschrittenen Alter.

      Der Verwaltungsleiter gab dem ehemaligen Häftling die Hand und begleitete ihn zur Tür. »Viel Glück, Herr Maybaum! Ich gehe mal in Ihrem Interesse davon aus, dass wir uns nicht wiedersehen werden.«

      Sein Gegenüber nickte wortlos.

      Die übrigen Formalitäten waren schnell erledigt. Zwanzig Minuten später öffnete sich mit einem Knarren die kleine unscheinbare Pforte, durch die der entlassene Häftling hinaus in die Freiheit schritt.

      Als hätte er eine Schleuse zwischen zwei Welten durchschritten, strömte unvermittelt das pulsierende Leben der Stadt auf ihn ein. Es war ein Schock. Wie betäubt blieb er stehen.

      Verkehrslärm, Kindergeschrei, das Geräusch eines Hubschrauberrotors drangen auf ihn ein. Die Vollzugsanstalt lag inmitten eines Wohngebiets.

      Langsam entfernte er sich vom Tor, drehte sich um und betrachtete das Schild mit der Aufschrift Markgrafenallee 49. Eine Adresse, die sich in