Название | Jahrhundertwende |
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Автор произведения | Wolfgang Fritz Haug |
Жанр | Историческая литература |
Серия | |
Издательство | Историческая литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867548625 |
Der Wahlausgang ein Schock. Für mich kam das Ausscheiden der Grünen aus dem Parlament völlig unerwartet. Großflächige Pechsträhne alles Linken. Die PDS wird nun die einzige Opposition links von der SPD sein. Nachdem sie bis zur letzten Minute mit Skandalkampagnen überzogen worden ist, ist es erstaunlich, dass die meisten ihrer Wähler, wenigstens in Ostberlin, an ihr festgehalten haben.
In England musste jetzt gerichtlich geklärt werden, dass dem Ausdruck Arbeiterklasse etwas Wirkliches entspricht. Es ging um einen Wohnblock, der 1937 zu einem symbolischen Zins dem londoner Gemeinderat verpachtet worden war unter der Bedingung, dass die Wohnungen Angehörigen der Arbeiterklasse zu vermieten seien. Die Politiker wollten die Wohnungen meistbietend verkaufen und vertraten die Meinung, der Ausdruck Klasse sei »widerwärtig«, und jene Bindungsklausel sei »verbraucht« und »wirkungslos«. Und war nicht im Wohnungsgesetz von 1925 festgelegt worden, zur Arbeiterklasse gehöre, wer wöchentlich nicht mehr als 3 Pfund verdient? Der Richter ließ sich vom Oxford Dictionary überzeugen, dass eine »Arbeiterklasse« existiert, solange es Menschen gibt, »die gegen Lohn in manuellen oder industriellen Berufen tätig sind«.
6. Dezember 1990
Zu untersuchen, wie das Streben nach Vergesellschaftung zu Verstaatlichung geführt hat.
7. Dezember 1990
Vor einem Jahr formulierte es der Vorsitzende ›meiner‹ Gewerkschaft (GEW), Dieter Wunder (in den Gewerkschaftlichen Monatsheften 12/1989): »Für die Gewerkschaften gibt es keinen Grund mehr, ihren Beschlüssen die Vorstellung einer alternativen Gesellschaftsordnung zugrunde zu legen – es gibt derzeit keine realistische Vorstellung einer wünschenswerten Alternative.« Als wäre in Gestalt der DDR eine solche wünschenswerte Alternative untergegangen! Das ist blanker Opportunismus. Dass es keine realistische Vorstellung gibt, stimmt, galt aber schon zuvor.
Die Rechtskonservativen machten ihr Dezemberheft von 1989 mit einer Grabinschrift auf: »Karl Marx – geboren 1818 – gestorben 1989«. Ich hatte immer geglaubt, er sei 1883 gestorben. Auch sie denken auf Staatsmacht hin.
Wie anders Georges Labica, der in der Zeitschrift »M« vom März/ April 1990 die Frage stellt: »Le communisme enfin possible?« Freilich tappen wir im Dunkeln, sehr weit weg von weitergehenden Hoffnungen auf Umgestaltung. Auch wenn im Kontext unserer Landesgeschichte, wie Ulrich Sonnemann Anfang des Jahres gesagt hat, »eine Volksrevolution, die eine Staatsmacht stürzt, nichts Geringeres als ein Novum von abenteuerlich befreiender Heiterkeit und Brisanz ist« (Diskus 1/90, 9). Jetzt scheint Bier- & Bananenernst an die Stelle getreten.
Auf solcherlei Gedanken komme ich, weil ich auf- und wegräume: das zur Verwendung im Perestrojka-Journal bestimmte Material, das liegen blieb und von immer neuem Material überschichtet wurde. »Eine Zeit des Umbruchs und der Erneuerung des Sozialismus in der DDR« – das waren die ersten Worte des Leitartikels von Gretchen Binus im Januarheft der IPW-Berichte. Blicke zurück, und du wirst zur Salzsäule.
8. Dezember 1990
Niederlage des Denkens überhaupt, wenn die Vorstellung einer Gedachten Gestaltung des Stoffwechsels der Menschen mit der Natur (Produktion) und untereinander (Distribution) eine Niederlage erleidet.
9. Dezember 1990
Gorbatschow ist vorgestern im Kreml mit 3000 Direktoren sowjetischer Staatsbetriebe zusammengetroffen. Diese Leute anscheinend außer sich vor Zorn über die Perestrojka, die planlos begonnen worden sei und einen zerstörerischen Kurs eingeschlagen habe. Ryschkow bei diesen Personen offenbar anerkannt, Abalkin nicht. Gorbatschow wird vorgeworfen, zwischen den Fronten zu pendeln, statt »wirklich zu regieren«. Von immer mehr Seiten wird der Ausnahmezustand gefordert. Es sieht so aus, als sei die vormalige SU nun in der Hand von Warlords. Laut FAZ rückt Gorbatschow näher an KGB und Armee.
10. Dezember 1990
Große Ereignisse, wenn endlich eingetroffen, verschwinden in Banalität. Wahrnehmungsschwierigkeiten angesichts der Abrüstung Europas. Unbefangene Wahrnehmung unmöglich, weil die Veränderung von unseren Herrschenden als Landnahme nach einem Sieg praktiziert. Alles mit Zweideutigkeit geschlagen. Der latente Krieg gegen den Irak könnte die Form sein, in der die Vereinten Nationen das Zivilisationsmuster der Staatenbeziehung durchsetzen – oder die Form, in der die USA sich weiterhin (zu verschwendendes) billiges Erdöl verschaffen. Führende Leute der USA haben jedenfalls angekündigt, die Truppen würden auch nach einem Abzug des Irak aus Kuweit in der Region bleiben.
In der FAZ die Ansprache von Herbert Gottwald zur Wiedereröffnung des Historischen Instituts der Jenaer Universität. Der Untertitel definiert die Schuldigen: »Plebejer des Geistes degradierten die Geschichtswissenschaft in der ehemaligen DDR«. G. nutzt Jaspers Nachkriegsvorträge zur Schuldfrage als Matrix. Die »erzählende und orientierende« Funktion von Geschichte sei zu restituieren, »erzählend in dem Sinne, dass sie die Entzauberung der modernen Welt mit narrativen Mitteln zu kompensieren versucht«. Marxisten seien zu dulden unter der von Golo Mann 1972 formulierten Bedingung, »dass sie auch die Gegenargumente darlegen, als ob es im Augenblick ihre eigenen wären, und dass sie zum Widerspruch auffordern«. (Ich will gerne so verfahren, tue es längst, wüsste aber nicht, dass man mir gegenüber so verfährt.) Gottwalds sonderbar weichgefederte eigene Stellungnahme: »Man mag die sogenannte doppelte Glaubenskrise des Marxismus, wonach einmal der Glaube an den gesetzmäßigen Fortschritt der Geschichte zerbrochen sei und sich zugleich auf der anderen Seite der Glaube an die revolutionären Potenzen der Arbeiterklasse verabschiedet habe, durchaus akzeptieren. All dies ändert aber wenig an dem Tatbestand, dass von den Marxschen Gedanken und Methoden tiefgreifende Impulse für das 20. Jahrhundert im allgemeinen, für die Theorie und Empirie historischer Sozialforschung und insbesondere für die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft ausgegangen sind.«
14. Dezember 1990
Traf mich mit Alexander Filippow, er aus Bielefeld, ich aus Solingen kommend, in Bochum im Café Ferdinand, hinterm Bahnhof. Er ist Friedrich-Ebert-Stipendiat, arbeitet sonst in Moskau unter Juri Dawydow, dessen Entfremdungsbuch ich kenne, und hat sich auf die westdeutschen Konservativen spezialisiert. 1980 habe er als junger Assistent (wie wir sagen würden) einen Bericht über unser »Projekt Ideologie-Theorie« geschrieben. Der Bericht sei indes nicht veröffentlicht worden, weil zu marxistisch. Die zuständige Frau Galzowa, die heute entscheidenden Einfluss bei Nowy Mir ausübe, habe damals ausgerufen: »Armes Russland! Nach 70 Jahren gibt es noch immer Leute, die an Marx glauben!« An jenem Institut für Wissenschaftlichen Kommunismus habe man sich für alles außer für Kommunismus interessiert, sagt F., er selber habe hauptsächlich Weber, Popper und anderes dergleichen übersetzt. 1984 Referat über Orwells Neusprech. Als Habermas im April 1989 in Moskau am Institut für Philosophie auftrat, seien viele, oft gerade die Jüngeren, mit ihm unzufrieden gewesen, weil er zu sehr an Marx angeknüpft habe.
Im Gegensatz zu berühmten »Radikalreformern« stellt F. sich als Opfer des alten Regimes vor: Als Jude, Parteiloser und Unverheirateter habe er drei negative Karrieremerkmale gehabt. Jakowlew sei exemplarisch für Karriere im Zentrum des alten Regimes, sich allenfalls durch Englischkenntnisse von anderen unterscheidend; 1972 habe er die Kollektivierung der Landwirtschaft gefeiert. Ligatschow gehöre dagegen zu den Organisatoren vor Ort. Die Karrieren bedingen anscheinend rivalisierende Gruppen innerhalb der Elite. I. Frolow lese selber und habe »Sinn für Qualität«. Er sei der wichtigste Gate-Keeper zu Gorbatschow gewesen, der Denkimpulse weitergeben oder blockieren konnte.
Die neuen ›demokratischen‹ Politiker schildert Filippow als gute Redner ohne praktische Fähigkeiten. Die städtische Verwaltung Moskaus sei unter Popow und seinem Stellvertreter Stankijewitsch schlimmer daran als zuvor. Nostalgisch spricht er von den alten »kommunistischen« Verwaltern. In Leningrad sei es nicht anders. Andernorts, wo die alten Chefs in den neuen Strukturen sich haben behaupten können, herrsche zwar weniger Demokratie, sei aber die Versorgung mit Lebensmitteln »normal«, gleiche dem gewohnten Sozialismus mit seinen Mängeln,