Название | Jahrhundertwende |
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Автор произведения | Wolfgang Fritz Haug |
Жанр | Историческая литература |
Серия | |
Издательство | Историческая литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867548625 |
Gorbatschow habe sich ohne jedes Szenario in die Perestrojka gestürzt. Jetzt keine Zeit mehr für neue Ideen, daher der Präsidialrat abgeschafft. Angesichts des Schicksals der ungarischen Reformpolitiker, die alle von der Entwicklung verschlungen worden sind, werde Gorbatschow die Reformen keinesfalls weiterbringen, sondern auf der jetzigen Stufe stehenbleiben und sie zu stabilisieren versuchen. – Hier spricht Filippow BRDSprache, schillert vom Neostalinismus zum Neoliberalismus hinüber. Als Meinung anderer referiert er: Es gehe Gorbatschow um Zeitgewinn, damit die alte Elite die neuen Positionen zu besetzen vermöge, um dann eine Diktatur nach chilenischem Muster einzurichten, auf dem Bündnis von Konzernen und Militär beruhend, dem Land Liberalismus aufzwingend.
F. sagt, er habe meine Gorbatschow-Studie zu einem Drittel gelesen. Ohne sie direkt zu kritisieren, widerspricht er in der Sache, diskreditiert nach Kräften meine Zeugen und unterläuft meine theoretischen Konzepte, zumal das der Zivilgesellschaft. Die SU sei kein Staat im eigentlichen Sinn, sondern ein Imperium, an dessen Bestand die Möglichkeit eines sowjetischen Universalismus (er nimmt meinen Term) gebunden sei.
Wenn das Imperium zerfällt, tritt nicht Zivilgesellschaft hervor, sondern entstehen Staaten, die mit Menschen- und Bürgerrechten wenig anfangen können. Bei F. scheint durch, dass er das Imperium mit Gewalt zusammengehalten haben will. Gleiches schreibt er Gorbatschow zu, der wisse, dass er anders gestürzt würde. Wenn die Union auf dem Spiele stünde, würde Gorbatschow nicht davor zurückscheuen, Blut zu vergießen. In den sezessionistischen Republiken seien jetzt selbst große Teile der russischen Minderheit für die Abspaltung. Der antirussische Nationalismus der dortigen Mehrheit werde sie allerdings binnen kurzem eines bessern belehren. F. anscheinend für neue Diktatur, sieht jedenfalls keinen andern Weg für Russland als den des Zwangs, repressive Daseinssicherung als mögliches Legitimationsmuster. Deutschland und Japan gelten ihm als Beispiele dafür, dass »Liberalismus aufgezwungen werden kann«.
Niemand kommt bei Filippow schlechter weg als die »liberalen Elitären«. Tatjana Saslawskaja etwa, die für Preiserhöhung bzw. für Freigabe der Preise spreche und dies durch Sozialpolitik ausgleichen zu können glaube, obwohl es doch hierfür vorerst weder Ressourcen noch Institutionen gebe, habe sich von der alten Administration benutzen lassen und sei jetzt bei breiten Schichten zu recht in Misskredit.
Nebenbei erfahre ich von F., einer seiner Freunde habe in der Prawda gelesen, Mamardaschwili sei gestorben. Ich glaube nicht daran.
15. Dezember 1990
Immer wieder sehe ich Merab, wie er genießerisch am Strand sitzt, seinen Leib der Sonne entgegenhält, ab und an provozierend Metaphysisches von sich gebend. Er muss leben! Er lebt in meiner Erinnerung, und wie!
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Die gestrige Lesung im Alten Bahnhof Bochums ging gut. In der Diskussion sprach einer davon, dass in den vormals »sozialistischen« Ländern heute zum ersten Mal in der Geschichte der Kapitalismus zu einer Utopie geworden ist, also an die Stelle gerückt ist, an der bisher unsere Visionen von Sozialismus standen. Die Entwertung der »Trabis« als Bewusstseinstatsache. Wie schon in Solingen werde ich nach dem »neuen Grund« gefragt, von dem im Titel die Rede ist. Viele verstehen nicht, dass das Ausloten der Katastrophe, die Verständigung über den Konstruktionsfehler des befehlsadministrativen Systems und die Arbeit an einem neuen Common Sense der Linken derzeit das Wichtigste.
Einer scheint es unanständig zu finden, ein »Tagebuch« zu veröffentlichen. So was erscheint nach dem Tod. In Solingen ein blutjunger Praktikant der lokalen Zeitung; er schien es egoistisch zu finden, andern die Lektüre eigner Eindrücke anzudienen. Im Publikum versprengte Veteranen von ’68, alten zerschlissenen Sofas gleichend, die von mir zuletzt die Kritik der Warenästhetik (1971) gelesen haben.
Die Jüngeren beginnen sich zu spalten (vorerst ohne es zu merken) in solche, die vom Neoliberalismus überzeugt werden und solche, bei denen der Diskurs der neuen radikalen Linken greift. Zwischen diesen Fronten habe ich es schwer.
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Der Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Bank, Wilfried Guth: »Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs […] ist auch die vom Westen losgelöste Existenz Osteuropas beendet.« Feiert die neuen Nationalismen im Osten als »eine entscheidende Triebkraft für den fundamentalen Umschwung«. Treibt einen Keil zwischen die europäischen und die außer-europäischen Republiken der SU, indem er den ersteren die Assoziierung an die EG anbietet. Weiß aber, was er an G hat, und bietet folglich den Sezessionisten nur Vages. »Es wäre daher allzu spekulativ, heute darüber nachzudenken, ob zum Beispiel die baltischen Republiken in Zukunft ein so hohes Maß an politischer Souveränität bekommen werden, dass ihr Einschluss in die EG ernsthaft erwogen werden könnte.« Rückblick: »Während der letzten zwölf Monate waren wir vorrangig Beobachter, Zeugen einer kaum fassbaren Bewegung politischer Befreiung«. Diese Zeit sei vorbei, und Banker sowie Unternehmer sollen nun anpacken. Natürlich geht es ihnen um eitel Gemeinwohl.
16. Dezember 1990
Eine Gleitlandung von Ideen auf dem Boden von Tatsachen –
Wie Botschaften aus dem Jenseits gelangen jetzt Besprechungen aus der vormaligen DDR an mich, in denen meine Arbeiten zum ersten Mal ernst genommen werden. So über das Gorbatschow-Buch im »Referateblatt Philosophie« 26 (1990) 2: »Angesichts der notwendigen revolutionären Erneuerung des Sozialismus in unserem Land ist die Lektüre der haugschen Arbeit dringend zu empfehlen.« Als das gedruckt wurde, war das bereits vergangen, abgetriebene Zukunft in der Vergangenheit.
17. Dezember 1990
Die USA auf dem Weg in die Wirtschaftskrise. Beschweren sich, dass ihre Verbündeten zu wenig für die Kriegsvorbereitung spendieren. Kosten weit über 35 Mrd USD.
18. Dezember 1990
Über 60 Prozent der Bevölkerung in der ehemaligen BRD halten die Wirtschaftslage für gut, 3 Prozent für schlecht. In der ehemaligen DDR halten über 60 Prozent sie für schlecht, 2 für gut. Das ist schlagend komplementär. Die Lage ist indes stabil, weil in der vormaligen DDR 60 Prozent daran glauben, dass es besser wird.
Gewinner des Umbruchs ist zumal die Automobilindustrie (bzw. das Finanzkapital, soweit es jene kontrolliert). 1990 sind schon jetzt 1 Mio PKWs in die DDR verkauft worden, davon 1/5 Neuwagen; ich schätze, dass dadurch mindestens 12 Mrd DM in den Westen abgeflossen sind. Nun will VW 5 Mrd investieren bei Zwickau, während Mercedes mit 1 Mrd das Ifa-Werk in Ludwigsfelde bei Berlin zu »einer der größten und modernsten« Stätte für Lastwagenproduktion ausbauen will; BMW baut Karosserieteile in Eisenach; ebenda hat Opel die Produktion von 16 000 »Vectra« pro Jahr aufgenommen, investiert zusätzlich eine Mrd in ein neues Werk, das (mit 2600 Arbeitsplätzen) jährlich 150 000 PKW bauen soll, vorwiegend »Corsa« und »Kadett«. Schon jetzt unterhält Opel 350 Verkaufsstellen mit 9000 Angestellten in der DDR.
Frontberichte in einer zügigen und enormen Eroberung: Die Deutsche Bank hat das Filialsystem der ehemaligen Staatsbank übernommen, wie die Großkaufhäuser die »Centrum-Warenhäuser«, BASF die Synthesewerke Schwarzheide. Unilever lässt in 7 Werken zu Lohnverhältnissen fertigen und möchte die Margarinewerke Pratau und Chemnitz übernehmen. Coca-Cola hat die Weimarer Getränke übernommen, Binding die Radeberger Brauerei sowie die Brauerei Krostitz bei Leipzig und über die Binding-Tochter Berliner Kindl die Potsdamer Brauerei und die Bürgerbrauerei in Berlin. Reemtsma übernahm VEV Tabak Nordhausen, Philipp Morris und Reynolds die andern beiden Zigarettenfabriken.
Das Stasi-Stigma wirkt im Sinne der Übernahme. Man muss seine Wirkungsbedingungen und Effekte studieren.
In England Stagflation: über