Название | Hightech-Kapitalismus in der großen Krise |
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Автор произведения | Wolfgang Fritz Haug |
Жанр | Зарубежная публицистика |
Серия | |
Издательство | Зарубежная публицистика |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867549301 |
Ungeachtet dieser Abfolge geht es uns gerade um den Zusammenhang der Geschehensebenen. Da hierfür jenes Zusammenhangsdenken benötigt wird, das Theorie genannt wird, beschäftigen uns auf dem Weg durch die Ereignisfolgen immer auch die im Umlauf befindlichen und auf diese Realebene sich beziehenden Analysen und ihre theoretischen Konzepte. Wenn im ersten Teil geläufige Diagnosen wie »Finanzialisierung« oder »finanz(markt)getriebener Kapitalismus« auf den Prüfstand rücken, so im zweiten Teil der gramscianische Hegemoniebegriff in seinem Verhältnis zu Theorien imperialistischer vs. imperialer Herrschaft, wobei die Konkretisierung und Weiterbildung der damit zusammenhängenden Begrifflichkeit am Material eine der durchgängigen Linien bildet.
2. Was hat sich seit dem ersten Buch verändert?
Wenn in Zeiten weltgeschichtlicher Umwälzungen zu einem Gegenwartsthema im Abstand von einem knappen Jahrzehnt ein zweiter Band erscheint, ist ein Blick auf seither eingetretene Veränderungen fällig. Die Verschiebungen in den politisch-ökonomischen Weltverhältnissen im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sind kaum weniger dramatisch als die 1989 vom Fall der Berliner Mauer besiegelten. Dieser Einschnitt schloss die erste Phase des aufsteigenden Hightech-Kapitalismus ab und leitete die Epoche der beschleunigten kapitalistischen Globalisierung ein, deren virtuelle Infrastruktur in den 1990er Jahren erdumspannend zusammenschoss. In Gestalt des Internet dient sie seither nicht nur der Wirtschaft und den Staaten, sondern begleitet den Alltag von Milliarden von Menschen.
Indem das Ausscheiden des staatssozialistischen Systemkonkurrenten die USA als einzige Supermacht übrig ließ, schuf es die Voraussetzung des Projekts eines »American Century«, für dessen militärisch akute Phase die Terrorakte vom 11. September 2001 das Signal gaben. Inzwischen ist die daraus hervorgegangene Politik des Griffs nach »Herrschaft ohne Hegemonie« unter George W. Bush gescheitert und hat einer Rückkehr zu einer Politik multilateraler Aushandlung Platz gemacht. Der Zusammenbruch des Finanzmarkts, der das militärische Fiasko der USA im Irak und in Afghanistan überlagerte, trieb die Verschiebungen unerbittlich voran. Der »Konsument letzter Instanz« laborierte am Rande zur Zahlungsunfähigkeit, und das noch immer mit großem Abstand mächtigste Land der Welt, dessen Präsidenten seit dem Zusammenbruch des Systemantagonisten immer zugleich eine informelle Weltpräsidentschaft zufällt, rang kraft der Obstruktionspolitik des republikanischen Extremismus mit innenpolitischer Lähmung. Auch die europäische Gemeinschaft taumelte in die von der Rezession unterlegte Hegemoniekrise. Der Widerspruch zwischen transnationaler Vereinheitlichung von Markt und Geld bei nationaler Zersplitterung von Wirtschafts- und Finanzpolitik stellte sie vor die Notwendigkeit eines nachholenden politischen Integrationsschubs bei Strafe des ökonomischen und politischen Auseinanderbrechens. Kaum beeindruckt von der Wirtschaftskrise, entwickelte sich der ostasiatische Wirtschaftsraum zum neuen Gravitationsfeld des Weltkapitalismus, mit China als dem »hauptsächlichen neuen Wachstumszentrum der Weltwirtschaft als solcher« (Gowan 2007, 169).
Explosiv gewachsen seit dem ersten Buch unserer Analysen zur hochtechnologischen Produktionsweise ist weltweit die Rolle der sozialen Netzwerke. Was das Ambient-Marketing nutzt (vgl. KdWÄ, 273f), nutzen auch die politisch Unzufriedenen, vor allem die Angehörigen derjenigen Generationen, denen in ihren besten Jahren der Kapitalismus kaum Perspektiven bietet. Während die Arbeiterbewegung, traditionell die wichtigste Kraft des sozialen Protests, zumindest im Westen noch immer geschwächt ist, nachdem der Umbruch der Produktionsweise und die Globalisierung die Kräfteverhältnisse zu ihren Ungunsten verändert hatten, ist dem Kapitalismus eine nach klassischen Kriterien schwer fassbare Hightech-Rebellion erstanden. Ihr Medium ist das Internet, in dem sich ihre Informations-Guerilleros wie Fische im Wasser bewegen und ihre Scharen sich durch die elektronische Buschtrommel zur Aktion zu rufen gelernt haben.
Emblematisch für eine andere Form netzbasierter Gegenmacht ist die 2006 ans Netz gegangene Enthüllungsplattform Wikileaks. Wenn die gemeinnützig betriebene Wikipedia mit ihrer netzgeborenen Kooperationsform, die auch vom kommerziellen »Crowd Sourcing« genutzt wird, Allgemeinwissen frei zur Verfügung stellt, so verteilt dieser Robin Hood des Netzes geheimen Informationsreichtum der Herrschaftsmächte an die Allgemeinheit. Er tut dies in ständigem Räuber-und-Gendarm-Spiel mit den Internet-Polizeien, die unterm Mantel der Verfolgung von Kinderpornographie und des Schutzes intellektueller Eigentumsrechte der Kontrolle des Netzes zustreben. Die Staatsgeheimnisse, die hier, solange sich im Netz noch Freiräume dafür finden lassen, ans Licht kommen, entstammen dem Archiv jenes verdeckten staatlichen Handelns, das in Walter Benjamin angesichts des Nazismus die Erkenntnis aufblitzen ließ, die »Tradition der Unterdrückten« belehre uns, »dass der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist« (GS I/2, 697). Die staatliche Nutzung der Informationstechnologie hat mit der digitalen Archivierung der gegenwartsnahen Dokumente, die den Zugang der Staatsmacht ortsunabhängig machte, auch den Einbruch ins Archiv und das Zuspielen der Dokumente an die Medien ins Netz verlagert. Wie die digitale Naturalform der Informationsgüter die Warenform dieser Güter in die Krise stürzte (HTK I, 81ff), so hier ihre Geheimhaltungsform. Als Ende 2010 der US-Geheimdienst den Wikileaks-Zugang blockierte, stellten dessen Unterstützer binnen Tagen Hunderte, ja Tausende Spiegelserver auf die Beine, wo US-Verschluss-Sachen offengelegt waren.
Die Geheimhaltungskrise der US-Diplomatie erschütterte Hegemonieverhältnisse weltweit. Vor allem (aber nicht nur) in den mit diktatorischer Gewalt von Kleptokratien regierten Klientenstaaten des Westens fügte sie der objektiven Schande das Bewusstsein der Schande hinzu. Jetzt genügte ein letzter Übergriff, um das Maß des von den Bevölkerungen Ertragenen voll zu machen und den Protest auszulösen, der die Situation zum Kippen brachte. In der arabischen Welt war es der Selbstverbrennungstod des 26jährigen Tunesiers Mohamed Bouazizi, der sich und seine Angehörigen als Gemüsehändler mit einem fahrbaren Stand durchzubringen versuchte und dem die Polizei dieses sein Subsistenzmittel genommen hatte. »Seine Tat war der Funke, der den Flächenbrand entzündet und letztlich die ganze arabische Welt verändert hat.« (Ibrahim al-Koni)4 Im zivilen Aufstand für Demokratie, Rechtstaat und soziale Gerechtigkeit erwuchs dem Dschihadismus, den die USA einst gegen die Sowjetunion hochgerüstet und nach deren Verschwinden zum neuen Weltfeind Nr. 1 erklärt hatten, eine kraftvolle Konkurrenz. Der Selbstmordrebell entkleidete den Selbstmordattentäter des reaktionären Antiimperialismus seiner Aura. Die sozialen Netzwerke machten den Anfang, und das Satellitenfernsehen ermöglichte vollends, dass »die Bevölkerungen der gesamten [arabischen] Region ›virtuell‹ am ägyptischen Aufstand teilnahmen: alle waren sie auf Kairos Tahrir-Platz«, und wenn die Repression die TV-Kameras außer Funktion setzte, traten die Handy-Kameras ungezählter Demonstranten an ihre Stelle, deren Bildmaterial über YouTube an die Weltöffentlichkeit ging; so hingen markante Züge dieser revolutionären Demokratiebewegung »direkt mit der globalen informatischen Revolution zusammen« (Achcar 2012). Der so aufgestoßene neue öffentliche Raum sah »die fluchbeladene Dreiheit der arabischen Politik (Klasse, Geschlecht, Religion)« auf dem Rückzug (Gómez García 2011, 648). Die Fronten des Weltkrieges gegen den islamistischen Terror begannen zu veralten, wie die der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts veraltet waren.
4 Tagesspiegel, 1.3.2011.
3. Zum Problem philosophischer Gegenwartsgeschichte
Wir Historiker schreiben die Verbrechen und den Wahnsinn der Menschheit auf, wir erinnern an das, was viele Menschen vergessen wollen.
Eric Hobsbawm