Blondinenrettung. Volker Müller

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Название Blondinenrettung
Автор произведения Volker Müller
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783961456970



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andere Probleme hat, als sich von früh bis Abend um Künstler zu kümmern, die erst welche werden wollen?“ Als ihr das die Vorzimmerdame von Mäder an den Kopf warf, reichte es Anna. Sie wusste auf einmal, was sie zu tun hatte. Die Welt hörte ja in Grincana nicht auf. Sie fuhr am nächsten Tag nach Lapinta, ging in die Kunsthochschule und fragte dort nach ihrem einstigen Lehrer Professor Roberto Baumann. Sie hätte viel früher daran denken sollen, bei ihm Hilfe zu suchen. Baumann war wie Anna richtig vermutete – er hatte während der Radara-Zeit kein leichtes Leben gehabt, war einige Mal nur knapp an einem Rausschmiss vorbeigeschrammt – noch in Amt und Würden und sie konnte ihn am Nachmittag sprechen. Was er ihr zu sagen hatte, versetzte sie in eine solche Unruhe, ja, Verwirrung, dass sie beinahe ihren Zug abends zurück nach Grincana verpasst hätte. Ohnehin auf den letzten Drücker kommend, steuerte sie im Bahnhof zunächst den falschen Bahnsteig an.

      In Lapinta sollte, hatte Baumann gesagt, ein Förderinstitut für junge Kunst gegründet werden. Man wollte aufstrebenden Begabungen optimale Möglichkeiten der Entwicklung bieten, wollte Ateliers und Wohnungen zur Verfügung stellen und für großzügige Förderverträge mit Betrieben oder staatlichen Einrichtungen sorgen. Auch war ausdrücklich eine moderne, experimentierfreudige Kunst erwünscht, geeignet, international Furore zu machen. Roberto Baumann saß zu allem Glück oder Unglück, je nachdem, von welcher Seite man die Sache letztendlich sah, der Kommission vor, die über die Teilnehmer an dem Projekt zu entscheiden hatte. Anna sollte sich, hatte er ihr empfohlen, schnellstmöglich bewerben, eine Mappe mit Zeugnissen, Lebenslauf und Arbeitsproben nach Lapinta schicken; seine Unterstützung, versicherte er, hätte sie in dem Fall.

      Anna tat alles Nötige und erfuhr nach sechs Worten per Einschreiben, dass sie angenommen war. Als sie das, bis dahin hatte sie keinen Ton über ihre Pläne verlauten lassen, dem Leiter des Grincanaer Kulturkabinetts wissen ließ, drehte sich der Wind vor Ort schlagartig wieder. Ihr wurde quasi mietfrei eine Werkstatt angeboten sowie mehrere bis dato nicht zur Debatte stehende Verdienstmöglichkeiten in Aussicht gestellt. So sollte sie den Laienkunst-Zirkel im Vorzeigebetrieb der Stadt, einem Unternehmen, das Feuerlöscher fürs ganze Land produzierte, leiten und dafür monatlich in einer Weise entlohnt werden, dass sie von Stund an alle Existenzsorgen los gewesen wäre. Als Anna all das dankend ablehnte und erklärte, sie wolle bei ihrem Entschluss bleiben, nach Lapinta zu gehen, wurde sie in die Stadtverwaltung zu Mäder und Schilling, dem neuen Leiter der Abteilung Kultur, beordert. Sie redeten ihr zunächst im Guten ins Gewissen, drohten dann, als sie kein Einsehen zeigte, in der Lage zu sein, ihr ernsthaft Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Man habe keinesfalls vergessen, wurde Mäder deutlicher, dass sie aus einer Familie komme, die der bürgerlichen Ausbeuterklasse zuzurechnen sei. Er rate ihr, es lieber nicht darauf anzulegen, dass das mal richtig zum Thema gemacht werde. Außerdem sei ihnen und anderen verantwortlichen Genossen nicht verborgen geblieben, dass sie in engem Kontakt zu politisch-ideologisch unzuverlässigen Kräften gestanden habe, vielleicht sogar noch stehe.

      „Mein Vater war kein Ausbeuter, sondern ein erfolgreicher Architekt. Davon kann man sich heute noch in unserer Stadt überzeugen“, konterte sie und fragte aufgebracht, was sie denn unter „politisch-ideologisch unzuverlässigen Elementen“ zu verstehen habe. Mäder lief rot an. Anna fürchtete schon, er würde die Fassung verlieren. Doch er war auf einmal wieder die Ruhe selbst und ließ vielsagend lächelnd fallen, sie wisse genau, um wen es da gehe. Gerade deshalb lege er ihr nahe, den Fall noch einmal gründlich zu überdenken. Es wäre schließlich in aller Interesse, wenn eine junge Künstlerin nicht in Turbulenzen gerate, die am Ende niemand mehr kontrollieren könne, sondern sich im Gegenteil ungestört fortentwickle, es weiter mit ihr. Dazu sei es allerdings dringend geboten, dass diejenige welche schleunigst alle Zweifel an ihrer Treue zu Staat und Gesellschaft aus der Welt schaffe, sonst, fügte er nach einer wohlberechneten Pause hinzu, könne er und wohl auch kein anderer in Grincana für nichts garantieren. „Wir haben gelernt, mit Feinden unserer Gesellschaft in geeigneter Weise umzugehen. Wir lassen nicht zu, dass jemand Schaden anrichtet. Ich sage das in aller Deutlichkeit.“ Die Sätze dröhnten ihr noch nach Tagen in den Ohren.

      Was blieb ihr anderes übrig, als wieder nach Lapinta zu fahren und dem Professor ihr Leid zu klagen. Viel Hoffnung hatte sie freilich nicht, dass er ihr helfen könnte. Aber an wen hätte sie sich sonst wenden sollen? Sie staunte nicht schlecht, als Baumann nach ihrem verzweifelten Bericht nicht die Hände hob, sondern im Gegenteil sagte: Keine Angst, das kriegen wir hin. Da gebe es ganz andere Sachen, mit denen man sich heutzutage herumzuschlagen habe. Sagte es, lächelte, die Ruhe selbst zur Schau stellend, und wollte wissen, woran Anna gerade arbeite. Da musste sie ihm und sich auch eingestehen, dass sie seit Wochen keinen Handschlag mehr getan hatte.

      Nach dem Treffen mit Baumann lösten sich in Grincana in der Tat alle Unannehmlichkeiten in Luft auf. Sie bekam vom Kulturkabinett, was den Umzug und die kurzfristige Ablösung bereits eingegangener Verpflichtungen anging, alle erdenkliche Unterstützung. Und, kaum zu glauben, sowohl Mäder als auch Schilling erkundigten sich bei ihr mehrmals, ob alles seinen Gang gehe oder gegebenenfalls noch etwas zu regeln sei. Von irgendwelchen Repressalien war keine Rede mehr. Das kürzlich stattgefundene, mehr als unangenehme Gespräch schien es nicht gegeben zu haben. Als sie Baumann fragte, wie er diese Wendung der Dinge habe bewerkstelligen können, sagte er kurz angebunden, aber nicht unfreundlich: „Kannst du dir das nicht denken? Mädchen, überleg doch mal. Ist doch nicht so schwer. Es gibt halt auch in der neuen Zeit ein Oben und Unten. Ein Amts- oder Abteilungsleiter in Grincana, selbst ein Mann der Partei, ist von Lapinta aus gesehen, wenn’s drauf ankommt, ein armer Tropf, ein Nichts. Mancher hat das notfalls noch zu lernen.“ Und er sagte dann auch noch: „Glaub mir: Ich mach so was nicht gern, aber wenn’s die Herrschaften in der Provinz nicht anders haben wollen, sind sie selber schuld. Punktum und silentio.“

      Bald dachte Anna kaum noch an Grincana, vergaß Walter Döring, die Plackerei mit den Büsten und erst recht die Herren Mäder und Schilling. Die neuen Aufgaben nahmen sie voll und ganz in Anspruch. Und sie hatte, was sie anfangs selbst gar nicht glauben wollte, auf Anhieb Erfolg, erregte mit ihren Arbeiten bei regionalen wie landesweit bedeutsamen Ausstellungen Aufsehen, kam bei Wettbewerben öfter in die engere Wahl und holte auch diesen und jenen Preis. Das alles war wiederum nicht weiter verwunderlich, aber das begriff sie in vollem Umfang erst Jahre später. Ihr war es gegeben, ohne große Überlegung eine Art Quadratur des Kreises zustande zu bekommen. Ihre von weicher Linienführung geprägten, dabei stets etwas Zupackendes, klar Strukturiertes habenden und im Wesentlichen streng gegenständlich bleibenden Arbeiten verströmten einen kräftigen Hauch Moderne, ohne dass andererseits die geringste Gefahr bestand, das Ganze könnte in den Augen der höheren Orts für Kunst und Kultur Verantwortlichen allzusehr aus dem Rahmen fallen. Das brachte in der Tat nicht gleich ein jeder oder eine jede fertig. Anna kam im Gegensatz zu manchem Gefährten, mancher Gefährtin überhaupt gut mit den für Kunstfragen zuständigen Behörden und Gremien zurecht. Was dort gewollt oder verlangt wurde, war letztlich ein Klacks gegen das in Grincana Erlebte. Als nach Jahrzehnten über die Zeit der Parteidiktatur Gericht gehalten wurde, geriet auch Anna Hahn ins Blickfeld. Man bezeichnete sie als brave, dabei penetrant auf ihren Vorteil bedachte Staatskünstlerin und warf ihr wechselweise oder in Kombination Mangel an Talent und Charakter vor. Daraufhin gab es allerdings nicht wenige entschiedene Gegenstimmen, namentlich von ehemaligen Lapintaer Kunststudenten, darunter eine Reihe inzwischen namhafter Künstler, so dass die Vorwürfe bald verstummten.

      Doch zurück zu den Anfängen. Nach Ablauf der vereinbarten zwei Förderjahre nahm Anna eine ihr von der Hochschule angetragene Aspirantur an und machte, Baumann war inzwischen Rektor geworden und hatte sie nicht aus den Augen verloren, ihren Weg. Mit siebenundzwanzig war sie Ordentliche Pädagogin im Hochschuldienst, mit dreißig wurde sie zur Professorin für Elementare Figürliche Gestaltung ernannt. Weiter wollte sie, was vermutlich gut möglich gewesen wäre, nicht aufsteigen. Sie fürchtete, dass sie, würde sie zum Fachbereichsleiter oder vielleicht gar Sektionsdirektor berufen, nicht mehr in ausreichendem Maße zu ihrer künstlerischen Arbeit käme. Das wollte sie um keinen Preis, obwohl oder vielleicht auch, weil sie spürte, dass es mit ihrer Kunst zu der Zeit nicht mehr recht vorwärtsging. Sie hatte das Gefühl, sich beständig nur noch zu wiederholen, spürte keine rechte Freude mehr, wenn sie ins Atelier kam, brauchte einen gehörigen Anlauf, um sich einer angefangenen Plastik zu widmen, die längst hätte fertig sein sollen. Etwas Neues zu beginnen, fiel ihr noch ungleich schwerer.