Blondinenrettung. Volker Müller

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Название Blondinenrettung
Автор произведения Volker Müller
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783961456970



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Linden, die den Markt säumten, im schönsten Grün. Als die Blätter knallgelb waren, gab es noch immer keine Einigkeit darüber, wer alles in dem Dichtergarten kommen sollte. Döring hatte Anna ein ums andere Mal vertröstet. Sie erfuhr von ihm allerdings, dass man nicht mehr wie zunächst gedacht sechzehn Büsten haben wollte. Jetzt war von acht die Rede. Bis zum Frühjahr, ja, so viel Zeit verging noch, reduzierte sich die Zahl weiter. Schließlich kam man bei einem kaum noch zu unterbietenden Minimum an, wollte sich schlussendlich auf die beiden großen Klassiker von Broeder und von Schaller beschränken.

      Jahre später erzählte Anna jemand, der damals mit am Tisch saß, was die Partei bewegte, nach und nach die anderen Großen der Literatur letzten Endes doch besser außen vor zu lassen. Als erste sonderte man jene Männer aus, die sich aus welchen Gründen auch immer das Leben genommen hatten. Ihre Ehrung, das leuchtete Anna ein, hätte kaum in Einklang mit dem von Optimismus und Tatkraft geprägten Aufbaugeist der Zeit gestanden. Als nächste blieben jene auf der Strecke, die waschechter adliger Abkunft waren, ihr „von“ also nicht wie Broeder und Schaller auf Grund ihrer Verdienste irgendwann einmal verliehen bekamen.

      Den übrigen Unsterblichen, die keinen Platz in der „Bürgererholung“ haben sollten, wurden ihr bedenklicher Lebenswandel oder ihre allzu radikalen gesellschaftlichen Veränderungsideen, manchmal traf beides zusammen, zum Verhängnis.

      Selbst gegen von Broeder und von Schaller, musste Anna hören, waren Bedenken laut geworden. Weil: Der Erste hing einer seltsamen, zentrale Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung gänzlich offen lassenden, somit auch jedermann, selbst Fürsten, Feldherrn und Fabrikanten, ein Lebensrecht zugestehenden Naturphilosophie an. Der Zweite hatte im letzten Drittel seines Lebens jeder Art von Volksaufständen eine schroffe Abfuhr erteilt und sich statt dessen dafür stark gemacht, Königen, Herzögen und anderen gekrönten Häuptern eine angemessene Erziehung und Bildung zuteil werden zu lassen. So wären die Sorgen und Probleme des Landes noch am ehesten in den Griff zu bekommen. Letztlich gab die unumstrittene Weltgeltung der beiden den Ausschlag. Gerade in Sarkundien galten der Schöpfer der „Geschichten des Dr. Faustus Agricolanus“ wie der Verfasser der „Göttlichen Ode auf die Erde“ als das Nonplusultra der Literatur, ja, jeglichen künstlerischen Schaffens überhaupt, wurde von einer exemplarischen Vorbildrolle beider für die Besten der eigenen sarkundischen klassischen Dichtkunst gesprochen.

      Anna war heilfroh, als sie, es war inzwischen immerhin ein gutes Jahr vergangen, endlich wusste, was genau auf sie zukam. Sie hatte im Vorhinein schon eine Reihe Entwürfe für die zwei Büsten gezeichnet, zugunsten derer nun die Würfel gefallen waren. Sie ging deshalb noch am selben Tag, als sie von der Entscheidung in der Zeitung las, zu Döring und zeigte ihm die Skizzen. Er schaute kurz auf die Bleistifzeichnungen, nickte und sie dachte schon, alles würde seinen Gang gehen. Doch ihr Gegenüber schwieg, schien auf einmal weit weg zu sein und sie bekam es mit der Angst. War etwas passiert? Sollte jemand anders den Auftrag bekommen? Als wüsste er, was ihr durch den Kopf ging, legte Döring seine Hand auf ihre Schulter und sagte in einem seltsam entrückten Ton, der wiederum daran zweifeln ließ, ob er ganz und gar bei der Sache war: „Hast heute die Zeitung gelesen. Ja, es hat sich so und nicht anders ergeben. Nur die zwei sollen in die Anlage kommen. Na gut. Mal ganz davon abgesehen, keine Angst, ist vermutlich alles halb so schlimm, dass mir der Fall Dichtergarten gestern entzogen wurde, jetzt ist Genosse Mäder, Stadtrat für Volksbildung, dafür maßgebend; ich muss dir auch sagen: Das, was du da gezeichnet hast, Mädchen, wird schwerlich durchgehen. Ich rate dir, mach schnell was Neues oder noch besser: Wart erst mal ab. Glaubst mir nicht? Hm, kann ich vielleicht sogar verstehen. Aber ich sag dir: Broeder und Schaller als junge Kerle darzustellen, die Abenteuerlust, das Ungestüme, Brodelnde steht ihnen ja förmlich ins Gesicht geschrieben, das wird unter keinen Umständen durchgehen. Ich kann es mir jedenfalls nicht vorstellen. Wir brauchen jetzt, wie soll ich sagen, vor allem Disziplin, Verantwortung, Bewusstsein. Das steht jetzt oben an, muss es sicher auch. Verstehst du? Man redet sogar wieder von Gesinnung, fester, unbeirrbarer Gesinnung … Dazu passen deine Köpfe nicht, leider. Denn, ehrlich gesagt, je länger ich sie mir so anseh, desto besser gefallen sie mir. Aber darüber bitte zu niemandem ein Wort. Ich hab in der Sache nichts mehr zu sagen. Du wirst sicher demnächst Näheres von anderer Stelle hören.“

      Anna war wie vor den Kopf geschlagen, dachte in einer ersten Aufwallung daran, alles hinzuwerfen. Die Skizzen hatten allerhand Mühe und Arbeit gekostet. Sie hatte sich die Aufgabe nicht leicht gemacht. Sie ließ sich jedoch nichts anmerken, dankte Döring für die Ratschläge. Sie werde sich bemühen. Warum er nicht mehr für die Büsten zuständig war, fragte sie nicht. Damals, auch später noch gab es überraschende Entwicklungen, die man am besten stillschweigend hinnahm. Wer da auch nur den leisen Anschein erweckte, etwas nicht zu verstehen oder von der richtigen Seite sehen zu können, musste damit rechnen, selbst bald zum Thema zu werden.

      Sie ging nach Hause, stieg hinauf in ihre Dachkammer über der Bildhauerwerkstatt, blies zwei, drei Tage Trübsal, fasste dann aber doch, was sollte sie anders machen, wieder Mut und brachte neue Entwürfe aufs Papier. Broeder war nun ein versonnen blinzelnder, jugendlichen Geist, jugendliche Tatkraft ausstrahlender Alter und Schaller, der bekanntlich früh starb, ein gereifter, vor Energie sprühender, dabei dennoch auch irgendwo noch wohltuend gefasst wirkender Mann in den besten Jahren.

      Der Stadtrat für Volksbildung, Fred Mäder, der sie gut zwei Wochen nach ihrem Treffen mit Döring zu sich bestellte, ein großgewachsener Fünfziger mit einem säuberlich gestutzten, kräftigen dunklen Schnurrbart, wollte die neuen Skizzen gar nicht erst sehen. „Nehmen Sie das mal wieder mit, so holterdiepolter geht das nicht. Jedenfalls nicht unter meiner Ägide. Das ist insgesamt eine viel zu ernste Angelegenheit. Hier gilt es von Anfang an, die richtigen sach- und fachgerechten Maßstäbe anzulegen, sonst können wir auf gefährliches Terrain geraten. Und das wollen wir doch nicht oder sehen Sie das anders?“ sagte er nicht unfreundlich, aber mit spürbarer Herablassung. „Also erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Spaß beiseite. Hören Sie zu Genossin Hahn: Das Vorhaben Dichtergarten Grincana, für das Sie der liebe Genosse Döring auserkoren hat, sicher in bester Absicht, zweifellos, nun wir werden sehen, soll und wird in Kürze nun endlich greifbar Form und Gestalt annehmen.“ Nachfolgend schnarrte er herunter, dass zu dem Zweck, was längst schon hätte passieren müssen, eine übergeordnete Kommission ihre Arbeit aufnehmen werde. Das Gremium werde nach gründlicher Erörterung des Gesamtvorhabens ein verbindliches Grundsatzpapier ausarbeiten, das sie, Anna Hahn, zu gegebener Zeit in die Hand bekomme und dann selbstverständlich gründlich zu studieren habe. Danach, und keinen Tag eher, könne man dann an etwaige erste Ideen und Skizzierungen denken.

      Anna nahm allen Mut zusammen und sagte, dass sie keine Genossin sei, noch keine. Mäder überhörte das oder tat so als ob. „Haben wir uns verstanden? Ja? Hab ich mich deutlich genug ausgedrückt? Also: Es gibt demnächst klare Richtlinien. Gut, dann können Sie gehen.“

      Acht Wochen später, inzwischen war es Juli geworden, bekam sie von einem Boten der Stadtverwaltung in der Tat eine Konzeption „Richtlinie Denkmalprojekt Büsten Dichtergarten“ in die Hand gedrückt. Damit wurde freilich alles noch komplizierter, denn in dem kapp fünfzig Seiten dicken Pamphlet fand Anna, obwohl sie sich zweimal von A bis Z durchkämpfte, kein Wort zu den Büsten selbst. Vielmehr waren darin ausgiebig Notwendigkeit und Zielrichtung des politisch-kulturellen Neuaufbaus in Grincana dargelegt, wobei das sarkundische, als in herausragender Weise sozial gerecht und fortschrittlich apostrophierte Gesellschaftssystem an allen Ecken und Enden als absolutes Vorbild deklariert wurde.

      Anna ging in ihrer Not schließlich zu Döring. Sie wusste, dass er für ihr Projekt nicht mehr zuständig war, aber was sollte sie machen. Soviel war klar: Mäder gegenüber einzugestehen, mit der Konzeption nichts anfangen zu können, wäre das Ende der Geschichte, ja, konnte sogar noch weitergehende Folgen haben. Wer nicht verstand, was die Partei wollte, durfte mit besonderer Aufmerksamkeit und Fürsorge rechnen. Mit irgendwelchen künstlerischen Höhenflügen würde es für sie in Grincana dann vermutlich vorbei sein.

      Döring wollte sie zunächst nicht zu sich lassen.

      „Das habe ich Ihnen gleich gesagt. Ich weiß doch, warum Sie hier sind. Mir können Sie nichts vormachen. Aber Genosse Döring ist für Ihre Angelegenheit nicht mehr maßgebend. Nehmen Sie das bitte endlich zur Kenntnis. Außerdem hat er heute auch wenig Zeit“,