Wir können machen, was wir wollen. Nina Pourlak

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Название Wir können machen, was wir wollen
Автор произведения Nina Pourlak
Жанр Современная зарубежная литература
Серия
Издательство Современная зарубежная литература
Год выпуска 0
isbn 9783943172485



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finden hier und so billig und so anders und verrückt.

      Aber ich hatte trotzdem die ganze Zeit diese Unruhe in mir. Ich dachte: Wir sind schon von weitem zu erkennen. Weil wir alle mit derselben Hoffnung hierhergefahren sind. Aber wir sind doch nicht alle gleich, oder? Wir können doch nicht alle gleich sein. Es muss sich etwas ändern. Zumindest bei mir. Etwas Grundlegendes. Aber ich wüsste absolut nicht, wie. Und ich kenn hier ja auch niemanden. Außer den Leuten von zu Hause – und die haben mir gerade noch gefehlt.

      Komischerweise fing es dann so an: Minka hatte mir seit Tagen in den Ohren gelegen mit ihrem supertollen neuen Job. Sie hat mich förmlich gezwungen, nach dem Abendbrot (genau wie zu Hause, sogar Gewürzgurken und Radieschen hat sie von da mitgebracht) diese Seite im Internet anzuklicken, dieses komische Partnerportal, bei dem sie jetzt arbeitet: „Happy Date“.

      Echt peinlich, habe ich mir gedacht, Minka, das ist wirklich das Letzte. Wie irgendwelche einsamen Leute sich da zur Schau stellen, wie die sich selbst anpreisen wie auf dem Fleischmarkt, auf der Suche nach einem bisschen Liebe. Und wie sich diese amerikanischen Oberbosse von der Firma an deren Einsamkeit bereichern und alles so durchorganisiert und systematisiert haben, mit Punktesystem und Bonustabelle. Und das soll wohl romantisch sein? Das kann auch nur eine glauben, die noch nie in der traurigen Lage war, auf diese Weise jemanden suchen zu müssen …

      Sie meinte, naiv wie immer, das sei nun mal so heutzutage, und das werde immer normaler und da sei absolut nichts dabei. Die Leute arbeiten halt alle so wahnsinnig viel, und dann hätten sie leider überhaupt keine Zeit mehr, auf die Straße zu gehen und sich in echt kennenzulernen, und da sei es einfach viel praktischer, all das vor dem Computer zu erledigen. Und man könnte auch förmlich Sozialstudien betreiben, wenn man sich das alles durchliest, es sei richtig interessant. Und um mich zu vergewissern, dass das kein bisschen stimmt, und um mir einen Witz draus zu machen, hab ich mich dann selbst angemeldet. Einfach so.

      Ich dachte, ich schreibe ihr mal ’ne Mail und bitte sie um eine Beratung für meine Beziehung mit einer perfekten Frau, der schönsten von allen, die nicht zu stoppen ist und auf alles eine Antwort weiß. Weil sie sich nie richtig Gedanken macht. Weil sie nichts je in Frage stellt. Sich nicht, mich nicht, uns schon gar nicht. Ich schreibe ihr, ich fühle mich überrannt, immer und immer wieder. Ich fühle mich wie ein kleiner Krümel, der an ihrer Lippe hängt, bloß so lange, bis sie ihn wegpustet …

      Wahrscheinlich hätte sie da auch gleich ’ne Antwort drauf gewusst. Sie hätte sicher gefragt, wo überhaupt das Problem liegt. Ob ich mich nicht einfach darüber freuen könnte, da zu kleben. Wäre doch ein schöner Ort. Na ja. Also. Ich hab geschrieben, ich komme aus der Provinz, und ich suche Abenteuer, unverbindlich. Männer, Frauen, was auch immer, egal. Ich will es wirklich wissen, hab ich so gemeint. Total übertrieben. Ich dachte, das glaubt wahrscheinlich kein Mensch, oder es melden sich nur ein paar Perverse, aber nein: Die Landburschennummer ist eingeschlagen wie eine Bombe (das sollte man sich merken, falls man mal Bedarf hat). Und dann ging es los …

      Teilweise zwanzig, dreißig Nachrichten am Tag. Als ob ich der heißeste Typ auf Erden wäre. So ein Gefühl hatte ich echt noch nie. Weil ich ja schon immer mit Minka zusammen war und alle das wussten, war ich so was wie unsichtbar für die anderen aus der Schule. Und später auch. Ich war einfach nicht mehr auf dem Markt. Ich hatte das Beste ja schon abbekommen. Sie.

      O. k., ich weiß auch nicht, ob sie mir sonst nun grad die Tür eingerannt hätten, zugegeben. Ich hatte eben noch nie die Gelegenheit, das herauszufinden. Also, ich meine, ich bin mittelgroß, dünn, blond. Nichts Spektakuläres, denke ich mal. Aber es hätte auch wesentlich schlimmer kommen können. Auf einer Skala von eins bis zehn bin ich vielleicht eine Sechs. Mit Potential nach oben. Ich hatte nie eine feste Spange, nie extreme Hautprobleme und noch nicht mal eine Brille. Das ist doch was, oder? Ich finde, viel schlechter als Matthias Schweighöfer sehe ich eigentlich auch nicht aus. Bloß, dass ich eben nicht Matthias Schweighöfer bin. Was die an dem immer so finden? Ich meine: Typen, die immer diesen Kragen tragen, oder noch schlimmer, Pullunder, die sind doch eigentlich schon ein bisschen unlocker, oder? Wie Mamas Liebling. Der ewige Bubi. Aber wer ist schon wirklich cool. Mir fällt eigentlich niemand ein, hier in Deutschland.

      Es gibt so viele Möglichkeiten, komplett danebenzuliegen, das ist ganz leicht. Sieht man jeden Tag. Aber es ist so verdammt schwer, auffallend großartig zu sein. Oder?

      Jedenfalls: Ich hänge jetzt manchmal nächtelang vor dem Computer, Minka denkt, ich lerne für die Uni. Aber in Wirklichkeit lese ich mir meine ganzen Nachrichten durch, all dieses durchgedrehte Zeug, das mir irgendwelche einsamen Herzen schicken über den Server des Arbeitgebers meiner Freundin, während diese im Zimmer nebenan sitzt.

      Ich suche mir irgendwas aus, was möglichst unvernünftig klingt, möglichst anders als das, was ich kenne, und das ist so ziemlich alles. Und dann verabrede ich mich, so schnell, wie es geht. Kein Hin- und Hergeschreibe, kein Firlefanz. Das schreibe ich gleich. Ich kreuze den Treffpunkt an, auf dem Stadtplan, wie ein Feldmarschall, als wenn ich so das Revier erobern würde, Sex-Sightseeing quasi.

      Seit ich weiß, was alles los ist, was alles passieren kann, außerhalb von diesem Dorf und außerhalb von dem, was wir kennen, außerhalb der harmonischen Pseudo-Realität, wie sie im Fernsehen abgebildet wird, sehe ich die Welt mit anderen Augen:

      Manche wissen es nicht, und manche machen einem absichtlich etwas vor. Aber es gibt eine Parallelwelt da draußen, in der einfach alles erlaubt ist. In der nach ganz anderen Maßstäben gelebt wird. Und vielleicht werden wir irgendwann alle so leben, weil die Grenzen der Heuchelei einbrechen. Weil wir nicht nur mit einem zusammen sein wollen, sondern viele potenzielle Partner treffen. Und weil es unmöglich ist, sich in dieser Gesellschaft festzulegen. Es gibt einfach zu viele Optionen. Vielleicht gab es die schon immer. Aber mittlerweile gibt es eben auch viel zu viele Möglichkeiten, diese ganzen Leute ausfindig zu machen. Diese Suchenden.

      Diesmal hat mir Minka wirklich einen Gefallen getan mit ihrem neuen Job. Und ausgerechnet diesmal hat sie keine Ahnung davon. Und ich werde es ihr auch so bald nicht erzählen. Ich gehe jetzt nur noch selten in die Uni. Architekten gibt es in dieser Stadt doch sowieso viel zu viele. Das hat alles eigentlich überhaupt keinen Sinn mehr, echt. APOKALYPSE. Jetzt.

      Ich klemme mir diese Ledertasche unter den Arm, die mich auch schon seit der Kindheit begleitet, und verabschiede mich von meiner Freundin wie eine wandelnde Lüge. Dann fahre ich los. Ich fahre ins Abenteuer. Ich komme mir vor, als ob ich etwas völlig Verbotenes tu, wie ein Doppelagent oder so was.

      Aber es ist eigentlich total normal, jeder könnte das machen, und man kann dafür noch nicht mal ins Gefängnis kommen. Man klingelt irgendwo, jemand macht auf. Man darf ihn anfassen. Der darf einen anfassen. Das ist der Deal. Es ist alles abgesprochen. Man kann auch wieder gehen, man muss ihn nicht wiedersehen. Sich keine Ausreden überlegen. Nicht nett sein. Und man kann alles wieder abwaschen später. Es sieht einem keiner an, was man grad getan hat. Irre. Keiner checkt, was passiert ist. Ich sehe immer noch wie ich aus, obwohl ich grad ein anderer war.

      Nur manchmal fallen mir später plötzlich Sachen ein. Kleine Sachen, die ich mir gemerkt habe. Was mir nicht gefallen hat. Wie etwas gerochen hat. Wenn jemand etwas Dummes gesagt hat. Etwas, das ich gar nicht wissen will, oder etwas, das ihm nicht zusteht. Mich festzuhalten, wenn ich mich abwenden will. Mir etwas Vertrauliches ins Ohr zu flüstern beim Sex. Eine Bemerkung über meinen Körper, als wären wir zusammen. Dann reißt der Film für einen Moment, und ich frage mich: Was mache ich hier? Was hat mich nur hierhergetragen?

      Abends komme ich wieder mit der Ledertasche unterm Arm bei Minka an. In die Wohnung mit den Bauernmöbeln. Als Erstes stelle ich mich unter die Dusche. Dann brauche ich einen Moment, um mir darüber klar zu werden, wer ich eigentlich bin, in Wirklichkeit. Was ist das eine und was das andere? Aber ich habe kein schlechtes Gewissen. Weil ich denke, das hat so gar nichts mit ihr zu tun. Das ist vollkommen außerhalb ihrer Welt, die so klar und anständig ist. So.

      Außerdem hat sie mich ja selbst dazu gebracht. Als ob sie ernsthaft denken würde, dass alle, die sich dort anmelden, heiraten und für immer zusammen sein wollen. Und sie ihnen jetzt dabei hilft. So naiv kann doch nicht mal Minka sein, oder?

      Ihre langen, flachsfarbenden Haare riechen wie immer, wenn ich mich