Название | Die Vier-in-einem-Perspektive |
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Автор произведения | Frigga Haug |
Жанр | Зарубежная публицистика |
Серия | |
Издательство | Зарубежная публицистика |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867548984 |
Arbeitspolitische Terrainverschiebungen
Wie Fortschritt denken?
Die Märchen der Gebrüder Grimm erzählen u. a. von Wölfen, die sich als wer anders ausgeben, um leichter an ihre Beute zu gelangen. Der Wolf geht im Schafspelz, verkleidet sich als Mutter oder Großmutter, übernimmt fremde Stimmen. Das Modell passt auf unsere Frage nach dem Fortschritt. Schließlich geht es davon aus, dass entweder alles genau so ist, wie es auf den ersten Blick scheint – dies die behütete Normalität –, oder das Schlechte sich als das Erhoffte verkleidet, der trügerische Schein den Sieg davonträgt.
So dachten in den 1970er Jahren die kritischen Beobachter der rasanten Produktivkraftentwicklung innerhalb des Kapitalismus und versuchten die Umbrüche, die mehr Selbständigkeit der Arbeitenden, mehr Qualifikation, mehr Mitentscheidung verlangten, z. B. mit Worten wie »Scheinsozialismus« oder »Management-Sozialismus« zu begreifen (Nichols 1975). Nichols sieht damals durchaus den revolutionären Charakter der neuen Anforderungen, der aber zugunsten von mehr Profit integrierbar war – mangels einer entsprechenden Politik der kollektiven Arbeiter oder, wie Cressey und Maclnnes (1980) herausarbeiten, weil es den Unternehmern gelingt, ihre Lösungen in quasi sozialistischen Begriffen, z. B. als Partizipation akzeptabel zu machen. Burawoy (1978) behauptet sogar, die Arbeiterinteressen an Zukunft überschnitten sich mit den Kapitalinteressen, Mehrwert zu gewinnen, sodass das antagonistische Erleben politisch erst entwickelt werden müsse als Engagement für die Gesamtgesellschaft. Zur Diskussion stehen eine Reihe von neuen Formen in der Arbeit, die traditionell unter sozialistischem Vorzeichen angestrebt worden waren. Sie beziehen sich im Wesentlichen auf den Abbau von Hierarchie und Formen kollektiver Selbstbestimmungskompetenz, die sich ausdehnt auf Qualifikation und Zeiteinteilung. Die Wirkung dieser von der Entwicklung der Produktivkräfte her in Bewegung geratenen Strukturen besteht in einem Ineinander von Attraktion und Integration. Das Attraktive äußert sich in Zielen, Perspektiven, Forderungen, die als utopische am Horizont des zu Erkämpfenden, mithin als Fortschritt erhofft waren. Das Kapital erweist sich als starker Moloch, der sich diese als sprengend gedachten Dimensionen einverleibt. Zu begreifen ist nicht nur dieser Vorgang, sondern weit schwieriger, wie strategisch zu handeln ist, wenn die einstigen Ziele zu Mitteln der Profitproduktion werden und zur Befriedung der entstandenen Krisen und Unruhen genutzt werden können. Dies ist nach den Umbrüchen vom Fordismus zur mikroelektronischen Produktionsweise innerhalb des neoliberalen Projekts zu analysieren. Betrachten wir also die Wölfe im Schafspelz und fragen zugleich, ob die Annahme, dass es sich um Schein, Täuschung, Verkleidung handle, tragfähig ist.
Auch Ernst Bloch arbeitet mit Begriffen wie Betrug, Verkleidung, Tarnung, Schein, um die Indienstnahme von Sprache und Symbolik der Arbeiterbewegung durch den Nazismus zu begreifen. Sein Begriff »Entwendungen aus der Kommune« (1933, 70 ff) empfiehlt so, genuin sozialistische oder gar kommunistische Praxen, Gehalte, Vorstellungen anzunehmen, die »wirklichen Bedürfnissen entsprechen« (70) und die aus ihrem Zusammenhang gestohlen und in fremde Dienste genommen sind. Das Projekt Automation und Qualifikation (PAQ 1981) hat diese Begriffssprache übernommen und entsprechend Arbeitsformen, die als »sozialistisch« gedacht waren – die Brigade, der Wettbewerb, das Neuererwesen –, in kapitalistischen Betrieben untersucht. Ihr Begriffsvorschlag »gesellschaftlicher Schein von Unternehmerstrategien« bleibt im Bann der Täuschungsmetaphorik. Dabei gelingt es, eine ganze Reihe von neueren Managementstrategien als widersprüchliche Weisen zu entdecken, neue Produktionskonzepte zu installieren; Denkwerkzeug jedoch bleibt, dass etwas dem Kapitalismus nicht Gehörendes hörig gemacht wird. Eine solche Abbildungsweise tut sich schwer, die Bewegungsweise kapitalistischer Entwicklung als eine Dynamik mit Übergängen zu begreifen.
Anders Rosa Luxemburg. Sie nimmt – Marx folgend – an, dass der Kapitalismus die Produktivkräfte entwickelt, die über ihn hinausreichen, dass er dafür aber Altes (Lebensweisen, Formen, Gebräuche, ganze Völker) zerstört und noch für diese Zerstörung selbst die neuen Produktivkräfte einsetzt. Das Neue tritt bei ihr also auf in der Form einer Destruktivkraft (GW 1,1 283 ff). Das ist keine Verkleidung oder Täuschung, sondern Praxisform in bestimmten Verhältnissen. Entsprechend braucht es Menschen, die einen Umsturz herbeiführen. Die Perspektive heißt: Sozialismus oder Barbarei.
Marx’ Metaphorik legt die Analysewerkzeuge wie folgt zurecht. Er fordert auf, die »Bildungselemente einer neuen und die Umwälzungsmomente der alten Gesellschaft« (MEW 23, 526) als Produkte der Antagonismen der kapitalistischen Produktionsweise zu entdecken. Das ist weder Diebstahl noch Schein, sondern Einschreibung in eine widersprüchliche Bewegung der Veränderung und Erneuerung. Das Neue wird in alten Verhältnissen produziert und ist entsprechend geformt – es trägt, um im Bild zu bleiben, die Geburtsmale und zeigt zugleich Abstoßungskräfte. Das Neue/Fortschritt kündigt sich an als Kampf, als Schmerz, als Bruch, als Abschied, als Krise. Es wird unverträglich mit der alten Hülle, in der es gerade noch geborgen und gemacht war. Dies bezeichnet den Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Im Widerspruch braucht es Akteure, die in der entstandenen Krise neuen Verhältnissen zum Durchbruch verhelfen. Es gibt keinen automatischen Fortschrittsweg. Und in Bezug auf unseren Gegenstand, die Entwicklung der kapitalistisch organisierten Arbeit heißt es: Im Ergebnis verliert die unmittelbare Arbeit ihre zentrale Rolle und setzt die Bedeutung des Wertgesetzes herab, woraus völlig neue Formen von »Reichtum« resultieren. Nun erscheint der »Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, [als] miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffne« (MEW 42, 601).
Es gibt weder ein einfaches geradliniges Fortschrittskonzept noch das eines zunehmenden Rückschritts. Die Sache ist komplizierter: Die Menschen bringen ihre Geschichte unter bestimmten Verhältnissen von Herrschaft und Ausbeutung voran. Auf diesem Wege entwickeln sie Produktivkräfte, die unentbehrlich sind, um die Menschheit auf ein Niveau zu bringen, auf dem sie einigermaßen über die Verausgabung und Entfaltung ihrer Lebenskräfte bestimmen kann; die Früchte dieses Fortschritts werden jeweils von den Herrschenden der verschiedenen Produktionsweisen angeeignet, sodass die Lage der Arbeitenden u. U. schlechter werden kann (nicht muss). Unter Herrschaftsbedingungen ist es allerdings nicht möglich, dass alle zu gleichen Teilen an den Früchten partizipieren. Wenn die Entwicklung so weit vorangetrieben ist, dass die bewährten Herrschaftsformen unpassend werden, gibt es eine Reihe von Verwerfungen, Verschärfungen, Krisen, Polarisierungen, Hoffnungen und ihre Pervertierungen. Solche Krisen sind eine Chance zum Handeln. In einer solchen Krise finden wir uns seit geraumer Zeit, seit dem Ende des Fordismus, also seit den 1970er Jahren, und in Bezug auf die neoliberale Regulierung seit den 1990er Jahren, in der Frage der Arbeit.
So