Der Flügelschlag des Zitronenfalters. Martin Scheil

Читать онлайн.
Название Der Flügelschlag des Zitronenfalters
Автор произведения Martin Scheil
Жанр Зарубежная публицистика
Серия
Издательство Зарубежная публицистика
Год выпуска 0
isbn 9783961450718



Скачать книгу

Am Ende waren das nicht nur irgendwelche Aufbaupräparate sondern sogar Gifte. Um die westdeutsche Bevölkerung auszuschalten. Schließlich handelte es sich hier um einen Zuchtbullen allererster Güte. Preisgekrönt. Wenn der im Jahr durchschnittlich 600 Kühe beglückt und deren Nachkommen dann wieder jeweils ... Es war nicht auszudenken! Skandal! Staatsaffäre! In nur wenigen Jahren könnte das gesamte Bundesgebiet von diesen Stasi-Kühen unterwandert sein, so dass die Auswirkungen praktisch global wären. Erst fällt der Rhein und dann die freie Welt. Ja, ja, das werden wir ja sehen die Herren Kommunisten! Sie alle hatten die Rechnung ohne Rick Pfeffer gemacht.

      Noch am Abend schrieb er den Artikel, aber jetzt lautete die Überschrift „Kalter Krieg beim Bullenpreis! Der Sieger war gedopt!“ Er schrieb den Artikel so schnell, dass seine Finger über die Schreibmaschine zu fliegen schienen, und schon nach einer knappen halbe Stunde war er fertig. Er las noch einmal drüber. Aber er war sich so sicher wie noch nie in seinem Leben. Das konnte, das musste genau so gedruckt werden, gar keine Frage. Also nichts wie raus damit. Es gab dabei nur ein Problem: wie sollte er diesen neuen Artikel an Redaktionsleiter Werner Bangemann vorbeibekommen? Vielleicht hing der sogar mit drin? Warum sonst sollte man wohl zu einem Ereignis mit so enormer politischer Sprengkraft einen Anfänger schicken? Jetzt passte auch noch das letzte Puzzlestück in dieses große enigmatische Rätsel hinein. Der Redaktionsleiter hatte aber nicht mit der Spürnase eines Rick Pfeffer gerechnet. Niemand hatte damit gerechnet. Und wer weiß, wer sonst noch alles mit drin hing. Vielleicht befand er sich auch mitten in einer kommunistischen Zelle, die von Moskau gelenkt den Westen infiltrieren sollte. Na ja, das war dann vielleicht doch ein bisschen zu weit hergeholt, aber alles andere war nichts als die Wahrheit. Mindestens. Also rauf aufs Kanonendeck und Sicht nach vorn.

      Rick Pfeffer stand von seinem hölzernen Drehstuhl auf, ging hinüber zur Tür des Redaktionsleiters und klopfte. Poch, poch. Wie man es halt so tut. Und dann, wie man es halt so macht: „Herein!“ An seinem Schreibtisch saß Werner Bangemann mit seinem grobschlächtigen Körper und dem aus der Mode gekommenen Bürstenschnitt. Auf der Nase eine Lesebrille, die Zigarette qualmte im Aschenbecher. Aufgeschaut und kurz gegen das Licht der Schreibtischlampe geblinzelt, dann aber: „Pfeffer. Ich dachte, sie sind den ganzen Tag weg. Was machen sie denn noch hier? Oder schon wieder hier? Oder was auch immer. Ich habe jedenfalls keine Zeit.“

      „Ich habe das Foto doch nicht gebraucht. Es war ja kaum genug Platz für den Artikel“, entgegnete Pfeffer.

      „Gut, mir auch egal. Und wo ist der Artikel?“

      „Ja, also den habe ich schon in die Schriftsetzung gegeben, damit er morgen noch im Landlust-Teil erscheinen kann. Ich hoffe, das geht in Ordnung. Aber weil doch die Zeit so drängt.“

      „Sind sie bescheuert oder was, Pfeffer?“ Ups. Wurde Bangemann jetzt etwa laut? Tatsache. Und da kam noch mehr. „Alles was aus dieser Abteilung in die Schriftsetzung geht, geht vorher über meinen Schreibtisch. Das habe ich doch nun wirklich oft genug gesagt. Sind sie taub oder was? Was soll denn der Scheiß. Sie sind die erste Woche hier und gleich so was! Holen Sie das zurück!“, er nahm die Zigarette und tat einen tiefen Zug. Die Brille hatte er schon beim ersten Wort energisch abgestreift und fuchtelte damit nun wie mit einem Marschallsstab herum. Pfeffer nutzte die Zeit, in der Werner Bangemann an seiner Zigarette wie an einem Asthma-Inhalator zog: „Ich weiß, und ich bitte natürlich um Entschuldigung. Aber es waren doch eh nur ein paar Zeilen über diese Kuh-Modenschau. Ich wollte Ihre Zeit nicht verschwenden, und der Landlust-Teil kommt eben nur am Mittwoch. Nächste Woche wäre der Artikel nichts mehr wert gewesen, und der Züchter wäre uns aufs Dach gestiegen. Also was soll’s.“ Kurze Pause. „Na ja, habe ich mir so gedacht. Wie heißt es? Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern.“

      Der Redaktionsleiter ließ sich seinen Rücken in die Stuhllehne sinken, wirkte aber keineswegs beschwichtigt: „Haben Sie sich so gedacht, ja?“ Noch eine Pause. Pfeffer wurde schwer ums Herz. Dann aber: „Weil das Ihre erste Sache war Pfeffer, will ich hier mal Gnade vor Recht ergehen lassen. Und kommen sie mir nicht mit so einem Geschwafel. Ab jetzt halten Sie hier schön die Fresse und machen, was man ihnen sagt. Ansonsten sind sie hier genauso schnell wieder raus, wie mit Zweifuffzich im Puff. Ist das klar?“

      „Klar“, antwortete Pfeffer. „Also kann ich der Schriftsetzung sagen, dass das okay ist?“

      „Meinetwegen“, grummelte Bangemann. „Aber wie gesagt: damit ist ihre Schonzeit schon am ersten Tag abgelaufen, Pfeffer! Ab jetzt kein Welpenschutz mehr! Verstanden?“

      „Total verstanden“, duckmäuserte Pfeffer und verließ den Raum, ohne dass sich die beiden verabschiedeten.

      Kaum draußen, beschleunigte er seinen Schritt. Jetzt musste er sich beeilen, um den Artikel wirklich noch vor Redaktionsschluss in den Druck zu bekommen. Er zog die letzte Seite aus seiner Schreibmaschine und lief zum Paternoster. In der Schriftsetzung angekommen, knallte er dem Schichtleiter die losen Blätter regelrecht auf den Tisch!

      „Befehl von ganz oben. Das muss morgen auf die Titelseite! Und das ganze ziemlich pronto!“, bellte er dem Schichtleiter zu. „Und absolute Funkstille. Wenn das morgen kommt, dann platzt hier die Bombe!“

      Der Schichtleiter las den Artikel kurz an, sah auf das Foto, las etwas weiter und kam aus dem Stirnrunzeln nicht heraus. Seine Augen weiteten und verengten sich abwechselnd, bevor er von der Seite hochsah und einige Sekunden brauchte, um die richtigen Worte zu finden.

      „Ist das ihr Ernst?“, fragte er Pfeffer, in dem er nun abermals die Augenbrauen hochzog.

      „Mein voller Ernst!“, antwortete Pfeffer und ergänzte noch einmal „Ist von ganz oben abgesegnet. Auch wenn wir damit Gott spielen!“ „So!“, dachte Pfeffer, das hatte gesessen. Jetzt musste der Herr Schichtleiter verstehen, wie ernst es ihm war und dass er nicht bereit war, sich einschüchtern zu lassen. Der Schichtleiter war jedoch unangenehm und unübersehbar unbeeindruckt indem er sagte „Da muss ich mich beim Redaktionsleiter rückversichern.“ Er griff zum Telefon, wählte mit der Drehscheibe die entsprechende Kurzwahl und stützte seinen Kopf auf das veritable Doppelkinn, während er anfing zu sprechen.

      „Moin Werner, hier ist Wolfgang vom Druck. Du sag mal, hast Du diesen Halbschwachsinnigen hier runtergeschickt mit diesem Bullen-Stasi-Dings-Artikel? Hast Du das abgesegnet? Das mit dem Zuchtbullen? Hmmm. Hmmm. Wirklich? Gerade eben? Na, dann ist es ja gut. In Ordnung. Bis morgen.“ Er legte den Hörer auf, wandte sich wieder Pfeffer zu und hatte noch immer diese skeptische Falte auf der Stirn. Die Augenbrauen allerdings waren wieder in Ausgangsposition. Immerhin.

      „Wenn Werner das abgesegnet hat, dann ist das in Ordnung. Er sagt, Du warst vor fünf Minuten noch deswegen im Büro und er hätte Dir für das Ding hier“, er schwenkte die beschriebenen Seiten „einen Freifahrtschein gegeben. Da musst Du mächtig Eindruck gemacht haben, Junge. Sonst lässt Werner Niemandem so’n Quatsch durchgehen. Aber von mir aus. Dann halt morgen auf’m Titel. Aber damit wir uns verstehen: so läuft das normalerweise nicht!“

      Normalerweise. Ein Wort für den Pöbel, für alle Unwissenden, für die Folger, nicht für die Führer, für die Hütten, nicht die Paläste für die ... All das dachte Pfeffer und war im Gehen begriffen, während er noch sah, wie der Schriftsetzer sich mit seinem Stuhl herumdrehte und ihn keines weiteren Blickes mehr würdigte.

      In der folgenden Nacht machte Rick Pfeffer kein Auge zu. Ab jetzt war alles möglich, vielleicht würden die sogar versuchen, ihn umzulegen. „Die machen vor nichts Halt“, sagte er sich immer wieder. War es richtig, zu tun, was er getan hatte? Gegen Mitternacht begann er, richtig Angst zu bekommen und wünschte sich, er könne alles rückgängig machen. Wenn er doch nur anders in das Gespräch mit dem Züchter gegangen wäre. Er hätte ihm auch von seiner Zeit im SDS erzählen können, und dass er das mit dem Kommunismus ja gar nicht so unsympathisch fand. Eigentlich war das ja ohnehin die logische Entwicklung. Und dass die Roten dem Westen überlegen waren, hat man ja damals schon gesehen. 45 oder wann? Aber nun war es zu spät. Nun waren es nur noch wenige Stunden bis zur Auslieferung, bis die Zeitung an den Kiosken und Trinkhallen lag, bis sie tausendfach in die Haushalte flatterte und in der Straßenbahn den Besitzer wechselte.

       III.

      Und