Der Flügelschlag des Zitronenfalters. Martin Scheil

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Название Der Flügelschlag des Zitronenfalters
Автор произведения Martin Scheil
Жанр Зарубежная публицистика
Серия
Издательство Зарубежная публицистика
Год выпуска 0
isbn 9783961450718



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herrscht Krieg. Na ja, Kalter Krieg. Aber immerhin. Der Ölpreis steigt und die RAF bringt die Bundesrepublik – das eine Deutschland – zur Verzweiflung. „Die Grenzen der demokratischen Belastbarkeit“, heißt so was dann. Und: „Am Rande des Rechtsstaates operieren“. Sagen die einen. „Weg damit!“, sagen die anderen. Schreien sogar. Und das eigentlich immer. Und die ganz anderen? Heißen immer noch DDR. Das andere Deutschland sozusagen. SBZ. Drüben. Ostblock. Ostzone. Im Osten nichts Neues, auch das ließe sich behaupten. Dann der „Sturm 333“. Häh? Was’n das jetzt wieder? So nennt sich die Offensive der Sowjetunion gegen Afghanistan. 1980 war das. Und sowas schimpft sich jetzt Brennpunkt des Kalten Krieges. So viele Eigentümlichkeiten. Früher ging’s einfach Knüppel auf den Kopf. Nun aber hieß so etwas Konflikt. Oder Einsatz. Kollateralschäden auch damals schon. Mehr als genug. War aber für eine gerechte Sache. Sagen die einen ...

      Aber was sein muss, muss sein! Osten gut, Westen schlecht. Oder umgekehrt, je nachdem, wo man halt steht. Wer kann das schon wissen. Barbrak Kamal heißt da einer, der es weiß. Der ist Staatschef in Afghanistan. Kennt heute auch keiner mehr. Kamal aber ist es, der dann mit den Russen kollaboriert. Und das ist auch so eine Sache. Russen, Sowjets, UdSSR, die Roten – alles dasselbe damals. Und die anderen? Amis! NATO bestenfalls. Hier aber: der Geheimdienst. Der schickt Waffen an alle, die bis drei zählen können und gegen die Russen sind. Das wird sich noch rächen. Weiß man heute. Aber wenn der Kommunismus sich ausbreitet, ist alles verloren. Und die anderen sagen dann: Aber, aber. Ist doch nur wider den Imperialismus! Nun ja.

      Es klingt so einfach, so manch einem vertraut, und wieder anderen Millionen Jahre weit weg. Es war aber Realität. Jeden Tag. Wer es miterlebt hat, wird es wohl kaum vergessen. Sorgenfalten auf der Stirn der Eltern, Jodtabletten, Wehrdienst, Luftschutzübungen und immer die Worte „Konflikt“, „Offensive“, „Teile der Roten Armee haben..“, und so weiterundsofort. Immer pünktlich um viertel nach Acht in der Tageschau. Ungläubiges Staunen. Treffen sich zwei Weltanschauungen. Sagt die eine „Und? Wie geht’s?“ Sagt die andere: „Wie soll’s schon gehen. Gleichbleibend beschissen.“ Und auch wenn Entspannung in Sicht war, seit der Kubakrise hatte die Welt ihr Testament dann doch immer in der Manteltasche bei sich. Man weiß ja nie. Millionen Soldaten, Panzer, Kampfflugzeuge, dazu Betonköpfe in den Parlamenten und Parlamentäre auf den Konferenzen. Von den Atomwaffen fangen wir hier gar nicht erst an. Afghanistan – so wird man später sagen – würde das sowjetische Vietnam werden. Aber das stimmt nicht ganz. Im Falle Vietnams waren die Verluste an amerikanischen Soldaten dem heimischen Publikum nicht mehr vermittelbar. Zumutbar ohnehin nicht. Das war bei den Russen anders. Der Tod des russischen Soldaten war schon immer billig zu haben, da konnte auch die Truppe in Afghanistan keine Extrawurst erwarten. Speznas? Ach komm ... Nein, am Ende ging der UdSSR schlicht das Geld aus. Konto leer, Portemonnaie verloren, Licht aus. Erst in Afghanistan und dann im ganzen Warschauer Pakt. Und das war es dann. Do Swidanja. All den Arsenalen wurde ein Strich durch die Rechnung gemacht, im wahrsten Sinne. Geschichte kann so unspektakulär sein. „Wenn wir den Menschen nicht ändern, dann fängt die ganze Scheiße von vorne an!“ So sprach Karl Marx und so kam es denn auch. Wie visionär.

      Dann gab es noch die blockfreien Staaten und es gab Embargos und es gab Sicherheitskonferenzen und was noch alles. Aber am Ende wurde dann doch die Zahl der Atomwaffen immer wieder und noch einmal erhöht, bis dem Einen dann – wir hatten das ja schon – die Puste ausging. Uff. Tut-Zug stoppt mit Tender leer. Doch so weit sind wir noch nicht. Oh, so weit sind wir noch lange nicht! Denn mitten in all dem Getöse, mittendrin, als alles, was einmal Bipolar in Multipolar und noch viel später in Monopolar verwandeln sollte noch so endlos weit weg scheint, mittendrin und völlig ahnungslos steht nun also Einer an dem Tresen einer Bierschenke und fragt uns zurecht, was das alles mit ihm zu tun haben mag. Achselzucken.

      Es darf hier schon verraten werden: gar nichts. Oder aber: alles. Denn der Schleier, der über allem Geschehen in Europa und der Welt liegt, lüftet sich nicht. Noch nicht. Die Supermächte sind wie zwei nervöse Hunde an bis zum Zerreißen gespannten Ketten, die einander ankläffen und so gern zubeißen würden. Alles, was der Mensch in seinem Einfallsreichtum erdenken könnte, um sich selbst auszulöschen, steht sozusagen Gewehr bei Fuß. Die Entfesselung als schwarzer Punkt, ganz da hinten am Horizont. Anspannung ist greifbar. Grenzkontrolle. Was hamse denn da? Sirenengeheul. Kaleidoskopisches Lichtermeer aus Scherben und Blaulicht. Hahaha. Reingefallen! Nur eine Übung. Und dennoch Alltag, auch in der Bundesrepublik zu jener Zeit. Und in all diesem waffenstarrenden Geschehen, in dieser Zeit, in der man nicht weiß, wer Falke oder Taube ist, spielt unsere Geschichte, und nun wollen wir sie denn auch beginnen lassen.

       II.

      Es ließe sich also so zusammenfassen: es war eine ganze Menge los gewesen, seit Richard genannt Rick Pfeffer 1979, also vor nunmehr fast sieben Jahren den Job bei jener Zeitung begonnen hatte. Eine ganze Menge los, jawohl, und es hatte nicht danach ausgesehen, dass sich dies noch einmal ändern sollte. Doch das alles interessierte Rick Pfeffer heute Abend herzlich wenig.

      Es war Freitag, und es war wieder einer dieser speziellen Tage. Richard genannt Rick Pfeffer saß jedenfalls fest im Sattel. Ach nee. So gar nicht. Warte ... ach verdammt. Er saß im Sattelschlepper, einer Bierschenke mittlerer Größe und unterer Ansprüche nahe der A1 bei Delmenhorst und dachte über die vergangenen Wochen nach. Da aber hatte er allerdings fest im Sattel gesessen, hatte sogar das Lasso geschwungen und laut „Yehaaw“, geschrien. Jene vergangenen Wochen, die im heutigen Tag ihr unrühmliches aber dafür nicht gerade leises Ende gefunden hatten. Was war denn bloß schief gelaufen? Grübel, grübel.

      Eigentlich hatte alles ganz vortrefflich angefangen. Formidabel könnte man sagen. Damals. Mit der neuen Stelle. Also vor jetzt fast genau sieben Jahren. Wie gesagt. Da hatte er den Job als Redakteur für den Lokalteil des Weser-Land-Blattes angetreten. Uff, der Lokalteil. Na ja. Aber gut, irgendwo gibt es immer eine erste Stufe und die muss man nehmen, wenn man auf der Treppe ganz nach oben will. Und genau dort hatte er hingewollt. Ganz nach oben. Zugegeben: das Weser-Land-Blatt war jetzt nicht gerade der SPIEGEL oder die FRANKFURTER, aber immerhin: er konnte dort als Journalist arbeiten. Endlich konnte er zeigen, was er so drauf hatte, ganz so, wie er es sich immer ausgemalt, wie er es sich immer gewünscht hatte. Und eigentlich war dann ja auch alles recht gut angelaufen. Mit seinen in der Tat hervorragenden Zeugnissen hatte er alle Kollegen ausgestochen, die sich gemeinsam mit ihm auf die Stelle bewarben, selbst die erfahrenen und die viel gereisten. In einem nämlich war er schon immer der beste: im Überzeugen. „Fünf Minuten! Geben Sie mir nur fünf Minuten, mehr brauche ich nicht! Wenn Sie mich dann nicht wollen, gehe ich sofort!“, hatte er in seine Bewerbung geschrieben und mehr hatte er dann tatsächlich nicht gebraucht. Kleiner Cognac, Herr Redakteur? Aber sicher doch! Kling, Schlürf, Ahhh!

      Dann aber ging es los. Und die Arbeit selbst konnte einen echten Rick Pfeffer wenig überzeugen. „Zuchtbulle des Jahres kommt aus Bremen“, lautete die Überschrift des Artikels. Es ging, welch Überraschung, um einen stattlichen Holsteiner-Bullen, der von den Züchtern der Region und den Journalisten der Fachpresse zu eben jenem Kuh-König gewählt worden war. Nach Pulitzer-Preis klang das eher nicht. Au Backe.

      „Keine Sau interessiert dieser Scheiß“, murmelte Pfeffer noch, als er das jungfräuliche, weiße Blatt in seine Olivetta spannte und anfing, den Artikel zu schreiben. „Und das sollen jetzt meine ersten Zeilen als Journalist sein? Als Redakteur? Das ist ja lächerlich!“ Erst mal eine HB. Er rauchte langsam und betrachtete das Bild des Rindes. Ja, ja, dochdoch. Er musste es zugeben: der Bulle hatte tatsächlich eine stattliche Größe. Auch seine ganze Statur war um so vieles beeindruckender, als die der anderen Bullen. Hm ... tja, könnte das und - aber was wäre wenn der ... aber dann hätte ja ... GENAU! Und da schoss es ihm ein: der ist gedopt! Aber klar doch! Zugepumpt mit Steroiden. Dicht bis unter die Hufe! Wie hatte er das übersehen können, es war doch sonnenklar! Alle anderen Tiere sahen einfach nur gewöhnlich aus, normal eben. Aber dieser Bulle war so wohlgediehen, wie man es sonst nur von den DDR-Schwimmern oder Kugelstoßerinnen aus China kennt. Dann sah sich Rick Pfeffer das Bild noch einmal genauer an. Lupe raus und die Glupschkorken bis zum Zerplatzen fokussiert. Da waren zunächst der Bulle und sein Besitzer. Gut. Der Bulle war groß und sehr kräftig. Also gedopt – ja. Aber der wird ja nun nicht allein