Im Schatten der Hundstage. Thomas Christen

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Название Im Schatten der Hundstage
Автор произведения Thomas Christen
Жанр Короткие любовные романы
Серия
Издательство Короткие любовные романы
Год выпуска 0
isbn 9783957442840



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Relativierendes sagen, aber der Satz war zwischen ihnen beiden auf den Tisch gefallen wie ein in der Ferne abgeschossener Vogel, der lautlos hinter dem Horizont verschwindet. Jetzt, wo ihn für ein paar Herzschläge lang nichts ablenkte, spürte er auch wieder seine beiden Fußknöchel, die sich anfühlten, als habe jemand den Knorpel durch winzige Eisenspäne ersetzt. Mit zwei Fingern massierte er sich das Daumengelenk und betrachtete gedankenverloren sein Spiegelbild. In all den Jahren hatte die Mütze in den Haaren auf seinem Hinterkopf eine ständige Delle hinterlassen, die nur für ein paar Stunden verschwand, wenn er ein Bad genommen hatte und die im Winter noch deutlicher zu sehen war, dann, wenn er seine schwarze Kappe trug und abends abnahm. Eine kleine, graue Welle, die immer wirkte, als springe sie ihm gleich in den Nacken. Er wusste, dass sie da war. Er spürte sie, wenn er mit der Hand über sein dünnes Haar strich. Zu Anfang hatte sie es auch manchmal getan. Vor dem Zubettgehen.

      Jacob hatte kein Wort gesagt. Er und Mitch hatten nur einen kurzen Blick auf das Loch im Zaun geworfen, sich umgedreht und waren schweigend zurück zum Hof gegangen. Sie hatten die Gegend fast drei Stunden abgesucht, aber die beiden Schafe nicht gefunden. Er hatte Minuten lang vor den zerbrochenen Pfählen gestanden und seinen Blick immer wieder von den blaugefärbten Wollfetzen am auseinandergerissenen Draht zu seiner rechten Hand und zurück wandern lassen. Und dann den hochgeschossenen dunkelroten Ampfer vor seinen Füßen wie in Trance mit der linken Hand auszureißen begonnen.

      Sein Zeigefinger spielte mit der Ginsterblüte in der Schale und schob sie von Rand zu Rand. Irgendetwas ist anders, nicht wahr?, fragte er das Gesicht, das ihn schweigend ansah. Es klingt so fremd. Falsch. Sag mir, was es ist? Aber der alte Mann im Spiegel schwieg, und er drehte sein Gesicht zur offenen Haustüre, wo die Sonne in der Ferne anfing dunkle Orangetöne anzunehmen und zu flimmern. Der Lichtkegel war ein paar Schritte in den Flur hinein geflossen und lag auf seinen dreckverschmierten Schuhen, als wolle er die Klumpen dort lautlos ausbrennen. Kümmere dich noch zwei Stunden um die Senke, hatte Jacob ihm vom Gatter aus zugerufen. Wir machen das hier schon. Er war hinunter an den Weidegrund gelaufen, wo sie seit Tagen den Entwässerungsgraben ausbesserten, hatte gegraben, Ginster, Brombeersträucher und verrottete Tonrohre herausgerissen, am Ende das Werkzeug auf den kleinen Anhänger des Traktors geladen und alles zurück auf den Hof gefahren. Er konnte Jacob schon von Weitem sehen. Der Mann stand am Wegesrand, knietief im Heidekraut und schien die beiden Schafe durch pure Willenskraft in sein Blickfeld zwingen zu wollen. Sie hatten sich eine Weile schweigend angeschaut. Was ist los? Sag mir, was los ist? Du weißt, dass wenigstens eines der Schafe von Deinem Lohn abgeht? Wenn wir sie wirklich nicht mehr finden. Du weißt, dass wir jedes einzelne brauchen.

      Er hatte Jacobs fragendem Blick standgehalten und nur genickt. Sie hatten kein weiteres Wort gewechselt. Er wusste, dass nur ihm die Wege durch die Welt des Schweigens so vertraut waren wie keinem anderen, und er wusste, dass Jacob es seit langem aufgegeben hatte ihn manchmal ein Stück in das Labyrinth aus unergründbarer Stille jenseits dieser unsichtbaren und unüberwindlichen Grenze seiner sprechenden Augen zu begleiten. Er machte sich wortlos auf den Weg in Richtung Meer, nahm den sandigen Trampelpfad und die Abkürzung durch den Wacholder und die Birken hinauf, jeder Schritt wie eine vage Kopie der Schritte, der Tage, Monate und Jahre zuvor, dorthin von wo er wusste, dass sie ihm um diese Zeit die Kanne Tee auf dem Herd warmhielt.

      Gib mir noch einen Augenblick, nur einen Augenblick, baten seine Gedanken, und sein Blick streifte die angelehnte Küchentür. Leise machte er die wenigen Schritte zurück durch den Flur, ging durch die offene Tür nach draußen und setzte sich langsam auf die Bank neben dem Eingang. Ein Meer vor dem Meer, dachte er immer, wenn er an solchen Tagen hier saß. Violette und gelbe Wogen. Der Farn, der bereits anfing braun zu werden. Das Rascheln der in der Ferne tanzenden Birkenzweige, die jetzt, in der abklingenden Hitze des sommerlichen Abends wie aus dem fernen Himmel gestanzt aussahen. Die Hand voll knochiger Kiefern, die sich wenige Meter vor der Klippe wie erstarrte graugrüne Gischthügel um die grauen Steine legten. Und der kaum wahrnehmbare Wind aus Surren, Brummen und Geraschel, der alles durchwob und über alles hinwegzog. Gedankenverloren rieb er seine Hände aneinander und maßregelte sich. Was verstanden sie denn von Poesie und schönen Worten? Was waren sie jemals anderes gewesen, als einfache, einem fernen Gott ergebene Kreaturen, die ihrem Herzschlag lauschten und hofften, dass es ihnen vergönnt wäre, diesen tonlosen Klang noch so lange zu spüren wie ihre Körper in der Lage waren zu arbeiten, die darum beteten, dass dieses Schlagen nicht einfach weitergehen würde, dann, wenn diese Körper längst aufgegeben hatten, dem Sinn ihres Daseins gerecht zu werden. Zwei jener sich dort draußen vor dem Sturm und dem Regen duckenden, kleinen Büsche, verwachsen mit sich selber und ihresgleichen und für eine kurze Zeitspanne, ein paar Jahre lang unscheinbar aufblühend, um sich an sich selbst zu erfreuen. Er betrachtete seine beiden Hände, legte sie einen Moment lang neben sich auf das warme Holz der Bank und stand dann auf. Er ging ins Haus, warf einen kurzen Blick auf die schmelzende Sonne und schloss die Haustüre hinter sich.

      Sie stand zwischen Spüle und Tisch und drehte langsam einen Teller durch das karierte Trockentuch. Hatte sie an den Abenden, wenn er die Küche betrat jemals woanders gestanden als dort? Der Gedanke wehte kurz durch seinen Kopf und war so schnell verschwunden wie er gekommen war. Er konnte sich nicht erinnern. Sie nickte ihm unmerklich zu, und dann vollzogen sie für wenige Sekunden das Ritual, von dem er wusste, dass nur sie beide es zu deuten verstanden. Ihre Idee einer Geste. Der für niemanden anders wahrnehmbare Versuch einer mimischen Ausschmückung dieses allabendlich wiederkehrenden Augenblicks. Dieser Hauch eines in alle Ewigkeit zerstörten Lächelns, seine leise Frage: Geht es dir gut? und ihr abermaliges, kaum sichtbares Kopfnicken, von dem er wusste, dass es da war, dem er aber in den letzten Monaten wieder begonnen hatte auszuweichen, indem er seinen Blick auf das Fenster, den Tisch oder irgendeines der Dinge richtete, von denen er wusste, dass sie dort an ihrem angestammten Platz standen, makellos, komplett und rein. Weil sie es so wollte.

      Sie hatte den Teller auf den Stapel bereits abgetrockneter Teller gelegt, das Handtuch an den Handlauf des Herds gehängt und begonnen den Tisch zu decken. Sechs Scheiben Graubrot in der am Rand ausfransenden Bastschale, die Kanne Tee auf dem Stövchen, der rotumrandete Teller mit Corned-Beef oder Wurst und das Glas mit Sanddornaufstrich. In einer anderen Zeit, eine Woche nach ihrer Hochzeit, hatten sie festgestellt, dass sie beide für süßen Aufstrich am Abend schwärmten. Eine Scheibe, manchmal auch nur eine halbe, reichten ihnen aus. Und seitdem kam er manchmal von der Arbeit zurück und stellte ein Glas mit Honig, Schlehenmarmelade oder eben Sanddornaufstrich auf den Tisch, das ihm Jacob mit besten Grüßen an seine Frau in die Hand gedrückt hatte. Er war an das Küchenfenster getreten, lauschte dem bekannten leisen Klappern, stellte einen flatternden Moment lang mit einer seltsam aufwallenden, schmerzenden Zufriedenheit fest, dass er auch heute Abend wusste, welcher Gegenstand wohin gestellt wurde, dass er dies wusste, ohne sich dafür umdrehen zu müssen und blickte hinaus auf das Meer und den violettgrauen, untergehenden Abend. Warum hatten ihre Blicke wieder begonnen Vertrautes in anderem Vertrauten als ihrer beider Verbundenheit zu suchen?

      Er fühlte es wie an beinahe jedem Abend. Dieses das Haus und ihn selber heimsuchende Gefühl einer alles durchdringenden, giftigen Böe, die sich von diesem Punkt dort unten erhob, um hier herauf zu toben und nichts als Ratlosigkeit zu hinterlassen. Die beiden Kühltürme lagen wie ein schwarzer Scherenschnitt auf dem Strand. Zwei Betonwürfel, dessen Zweck er nicht kannte und das Bürogebäude, in dem sie zum Schluss gearbeitet hatte. Irgendwo im zweiten Stock, mit Blick auf die Heide und den Wald. Einschlafende, graue Schemen, die in wenig mehr als einer Stunde für eine Weile in der Dunkelheit der Nacht verschwanden. Als könne man sie auf diese Weise auslöschen, ausschalten und vergessen.

      Ein Fahrer wird Sie nach Hause bringen, hatte die Krankenschwester damals gesagt. Machen Sie sich bitte darum keine Gedanken. Ihm waren keine Worte eingefallen, die er hätte erwidern können. Er hatte sich stumm bedankt und der Schwester die Hand gereicht. Niemand sollte denken, dass ihresgleichen sich nicht zu benehmen wüssten. Aber er hatte nicht gewusst, wie er mit dem Gefühl umgehen sollte, das er damals durch seinen ganzen Körper fließen spürte und das ihm sagte, dass Worte zukünftig keine Rolle mehr spielen würden.

      „Ich habe zwei Schafe verloren“, sagte er leise gegen das Fenster, und sein Atem ließ die Scheibe vor ihm kurz und kaum wahrnehmbar beschlagen. Jetzt, wo die Sonne nicht mehr zu sehen war schien es draußen spürbar kühler geworden zu sein.