Название | Der Konformist |
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Автор произведения | Alberto Moravia |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783803143280 |
Immerhin wollte er Lino nicht völlig entmutigen. Also wandte er sich nach ein paar Schritten halb um, ermunterte Lino auf diese Weise, die Verfolgung fortzusetzen. Der Blick, den er hinter sich warf, hatte einen lockenden Ausdruck – das fühlte Marcello sofort. Und plötzlich empfand er unverkennbar das gleiche, das er empfunden hatte, als ihm die Kameraden das Röckchen umbanden: eine Erniedrigung, die nicht ganz unangenehm war, eine Unwahrhaftigkeit in der eigenen Haltung. Hatte er vielleicht doch nichts dagegen, lag es vielleicht doch in seiner Natur, die Rolle eines hochmütigen, koketten weiblichen Wesens zu spielen?
Inzwischen war ihm der Wagen wieder gefolgt. Marcello fragte sich, ob der Augenblick des Nachgebens schon gekommen sei. Dann entschied er, daß es mit dem Nachgeben noch etwas Zeit habe. Ohne anzuhalten, glitt das Auto langsam an ihm vorbei. Er hörte die Stimme des Mannes, die ihn rief: »Marcello …!« Darauf fuhr der Wagen plötzlich davon. Marcello befürchtete, Lino habe die Geduld verloren. Er erschrak vor der Vorstellung, sich morgen ohne Pistole in der Schule einfinden zu müssen. Also begann er zu laufen und rief: »Lino …! Lino … Halt!« Doch der Wind entführte seine Worte wie die welken Blätter, die wirbelnd durch die Luft flogen. Das Auto wurde sichtlich kleiner. Lino hatte wohl Marcellos Rufen nicht gehört und fuhr nun heim. Marcello würde die Pistole nicht bekommen, und Turchi würde ihn noch mehr verhöhnen. Gleich darauf aber schöpfte er tief Atem und setzte seinen Weg mit fast normalen Schritten fort: er wußte auf einmal, daß der Wagen nicht vorausgefahren war, um ihm zu entfliehen, sondern um ihn an der nächsten Querstraße zu erwarten.
Wirklich, dort stand das Auto und versperrte mit seiner ganzen Länge den Weg! Marcello ärgerte sich, daß es Lino gelungen war, ihm einen so demütigenden Schrecken einzujagen. Und mit plötzlicher Grausamkeit beschloß er, Lino dies mit wohlberechneter Härte zu vergelten. Er war jetzt ohne Eile bei der Querstraße angelangt. Der Wagen wartete: lang, schwarz, funkelnd mit all seinem Messing und seiner ganzen altmodischen Karosserie. Marcello tat, als wolle er um das Auto herumgehen. Sogleich öffnete sich der Schlag, und Lino wurde sichtbar.
»Marcello«, begann er mit verzweifelter Entschlossenheit, »vergiß, was ich zu dir am Samstag gesagt habe! Du hast deine Pflicht nur zu gut getan. Komm, Marcello!«
Marcello war neben der Motorhaube stehengeblieben. Jetzt tat er einen Schritt zurück und sagte kühl, ohne Lino anzusehen:
»Nein, ich komme nicht mit dir. Aber nicht darum, weil du das am Samstag so wolltest, sondern weil ich keine Lust habe.«
»Und warum hast du keine Lust?«
»Deshalb! Warum sollte ich einsteigen?«
»Um mir eine Freude zu machen.«
»Aber ich habe gar keine Lust, dir eine Freude zu machen.«
»Warum? Bin ich dir unsympathisch?«
»Ja«, sagte Marcello, schlug die Augen nieder und spielte mit dem Griff des Wagenschlags. Er wußte, daß sein Gesicht vergrämt, unruhig und feindselig aussah, wußte aber selbst nicht, ob er eine Komödie spielte oder nicht. Ja, es ist eine Komödie, die ich mit Lino spiele, dachte er dann. Aber wenn es eine Komödie ist, warum empfinde ich ein so starkes und so kompliziertes Gefühl, gemischt aus Eitelkeit, Abwehr, Erniedrigung, Grausamkeit und Trotz?
Lino lachte leise und zärtlich und fragte dann: »Warum bin ich dir denn unsympathisch?«
Jetzt blickte Marcello auf. Ja, Lino war ihm wirklich unsympathisch. Und angesichts dieser strengen, mageren Züge begriff er auch, warum: Lino hatte ein Doppelgesicht, in dem der Betrug einen geradezu physischen Ausdruck fand. Da war zum Beispiel der Mund – fein, trocken, hochmütig und keusch auf den ersten Blick. Dann aber, wenn ein Lächeln die Lippen aufschloß und umstülpte, wurde eine lüsterne, feuerrote Schleimhaut mit gierigem Speichel sichtbar. Marcello zögerte mit der Antwort und sah Lino noch immer an, der lächelnd wartete. Schließlich bekannte er ehrlich: »Du bist mir unsympathisch, weil dein Mund naß ist.«
Linos Lächeln verschwand, sein Gesicht verdüsterte sich. »Was denkst du dir denn für einen Unsinn aus!« sagte er unbeherrscht. Doch sogleich verfiel er in einen scherzenden Ton und fragte leichthin: »Nun, Herr Marcellino, wollen Sie einsteigen?«
»Ich steige ein«, erklärte Marcello, endlich entschlossen, »aber nur unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Daß du mir wirklich die Pistole gibst.«
»Einverstanden. Komm …!«
»Nein, du mußt sie mir sofort geben«, beharrte Marcello dickköpfig.
»Aber ich habe sie doch nicht hier«, sagte Lino in aufrichtigem Ton. »Sie ist Samstag in meinem Zimmer geblieben, Marcello. Jetzt fahren wir nach Haus und holen sie.«
»Unter diesen Umständen komme ich nicht mit«, entschloß sich Marcello und war darüber selbst überrascht. »Auf Wiedersehen!«
Er tat einen Schritt, als wolle er sich endgültig auf den Weg nach Haus machen. Da verlor Lino die Geduld. »Komm, spiel nicht den kleinen Jungen«, rief er, beugte sich hinaus, ergriff Marcello beim Arm und zog ihn auf den Sitz neben sich. »Jetzt fahren wir sofort zu mir, und ich verspreche dir, daß du die Pistole bekommst.« Marcello war im Grunde zufrieden, daß er dazu gezwungen wurde, den Wagen zu besteigen. Er protestierte also nicht mehr und beschränkte sich darauf, ein knabenhaft-mißlauniges Gesicht zu ziehen. Lino schloß schnell den Schlag, ließ den Motor an, und das Auto fuhr ab.
Eine ganze Weile sprachen sie nicht miteinander. Marcello dachte: Vielleicht schweigt Lino, weil er zu vergnügt ist, um zu sprechen. Er selbst hatte nichts zu sagen. Er würde die Pistole bekommen, würde mit ihr nach Haus zurückkehren und sie am folgenden Tag dem Turchi in der Schule zeigen. Über diese angenehmen Aussichten gingen seine Gedanken nicht hinaus. Allerdings befürchtete er immer noch ein wenig, von Lino betrogen zu werden. In diesem Fall, überlegte er, muß ich irgendeine neue Teufelei ersinnen, um Lino zur Verzweiflung zu bringen und ihn zur Einhaltung seines Versprechens zu zwingen.
Er hatte sein Bücherpaket auf den Knien liegen und sah hinaus auf die vorübergleitenden Platanen und Häuser. Als der Wagen die Steigung zu erklimmen begann, fragte Lino, gleichsam am Ende einer langen Gedankenkette angelangt: »Wer hat dir denn soviel Koketterie beigebracht, Marcello?«
»Warum?« fragte Marcello zurück.
»Na …«
»Du bist der Schlaue«, sagte Marcello. »Du versprichst mir dauernd die Pistole und gibst sie mir nicht.«
Lino lachte und schlug mit einer Hand auf Marcellos bloßes Knie. »Ja«, sagte er, »heute bin ich der Schlaue!« Marcello schob das Knie beiseite. Lino aber ließ weiter seine Hand darauf ruhen und sagte mit triumphierender Stimme: »Weißt du, Marcello, ich bin so froh, daß du gekommen bist … Wenn ich jetzt daran denke, daß ich dich am Samstag gebeten habe, nicht auf mich zu hören, nicht zu mir in den Wagen zu steigen … Wie dumm man bisweilen sein kann! Wirklich – wie dumm! Aber zum Glück bist du gescheiter gewesen als ich, Marcello.«
Marcello gab keine Antwort. Er verstand nicht, was Lino eigentlich meinte. Und diese Hand auf seinem Knie war ihm lästig. Er hatte inzwischen schon mehrmals versucht, mit dem Knie wegzurücken, doch die Hand hatte sich nicht abschütteln lassen. Als ihnen jetzt in einer Kurve ein anderer Wagen entgegenkam, tat Marcello sehr ängstlich und rief: »Achtung, der fährt in uns hinein!« Wirklich erreichte er damit, daß Lino die Hand von seinem Knie nahm und ins Lenkrad griff. Marcello atmete erleichtert auf.
Da war die Landstraße zwischen den Umfassungsmauern und den Hecken. Da war die Einfahrt mit dem grüngestrichenen Gitter. Da war der Zufahrtsweg, flankiert von zerzausten Zypressen, und ganz hinten das Glitzern der Verandafenster. Genau wie das letzte Mal wühlte der Wind in den Baumkronen, und der Himmel war gewittrig dunkel.
Der Wagen hielt an. Lino sprang hinaus und half Marcello beim Aussteigen. Dann ging er mit ihm auf das Tor der Villa zu.