Mordsmäßig heilig. Barbara Merten

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Название Mordsmäßig heilig
Автор произведения Barbara Merten
Жанр Ужасы и Мистика
Серия
Издательство Ужасы и Мистика
Год выпуска 0
isbn 9783969010204



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sich nicht erwischen. War Großvaters Wut abgeebbt, fiel auch die Strafe milder aus, denn im Grunde war der Alte stolz auf seine Enkel.

      So verbrachten sie manche Nacht eingesperrt im Keller, stärkten sich dort unten allerdings an den eingelagerten Vorräten. Erzählten sich die Leute im Dorf von den Streichen der beiden, nannten sie sie Max und Moritz, angelehnt an die Lausbubengeschichten aus Ebergötzen von Wilhelm Busch. Viele von ihnen mutmaßten, dass es, ähnlich wie in der Bildergeschichte, ein schlimmes Ende mit Jan und Fredde nehmen würde.

      Zu ihrem zehnten Geburtstag hatten sich die beiden überlegt, dass es an der Zeit wäre, wie die Halbstarken aus dem Dorf mit dem Rauchen anzufangen. Das würde ihnen enorme Achtung unter den Klassenkameraden einbringen.

      Schon eine Stunde vor Mitternacht waren sie wieder aufgestanden, hatten sich leise aus dem Zimmer geschlichen und waren über die Holztreppe auf den Dachboden gestiegen, der als Heuboden genutzt wurde. Hier oben wollten sie sozusagen in ihren Geburtstag hineinrauchen. Hinter dem Holzpfeiler lag schon ein ansehnlicher Vorrat von Zigaretten in der alten Zigarrenkiste, die ihnen im Frühling noch als Maikäferbehausung gedient hatte. Darum waren in dem Deckel auch ein paar gebohrte Luftlöcher.

      In den letzten Wochen hatten sie mal eine, höchstens aber zwei Zigaretten aus Großvaters Packung stibitzt und in der Kiste deponiert. Zuerst hatten sie überlegt: Ob wir mit den Freunden im Baumhaus die Glimmstängel paffen? Doch dann erinnerte sich Fredde, dass Großvater ihnen einmal erzählt hatte, dass so manch schwacher Junge beim ersten Rauchen in die Hose geschissen hätte. Also beschlossen sie, dass sie ihre erste Zigarette allein rauchen würden, um sich nicht zu blamieren. Mit den anderen konnten sie später noch zusammen qualmen, wenn sie sicher waren, dass sie nicht zu den Schwachen zählten.

      Es war eine klare Vollmondnacht. Genug Licht, um sich auf dem Heuboden zurechtzufinden. Neben der großen Luke, durch die der volle Mond schien, hatten sie sich eine Sitzecke aus Strohballen eingerichtet. Kater Maunz war ihnen gefolgt und schnurrte um Freddes Beine. Jan hatte Streichhölzer aus der Hosentasche gezogen und seinem Bruder Feuer gegeben. Der zog an der Zigarette, bekam sofort einen Hustenanfall. Keuchend und mit brennenden Augen gab er den Glimmstängel an seinen Bruder weiter. Auch Jan musste kurz husten, zog aber gleich noch einmal so heftig, dass die Zigarettenspitze rot aufglühte und Asche auf den Boden fiel. Sie lachten, fühlten sich stark, setzten sich paffend ins Heu, bliesen Rauchwölkchen in die Luft, bis ihnen speiübel wurde. Jan schmiss den glimmenden Stummel weg. Er brauchte dringend frische Luft. Taumelnd kletterten sie die Leiter, die von draußen an die Luke gelehnt war, hinunter, stolperten keuchend über den Hof. Fredde übergab sich zuerst. Als Jan ihn würgen hörte, spuckte er gleich in hohem Bogen daneben. Obwohl ihnen schwindelig war und der Magen entsetzlich rebellierte, grinsten sie sich an. Plötzlich sprang Maunz von oben durch die Luke herunter auf den Mist, rannte laut miauend zwischen ihnen hindurch, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Erschrocken schauten sie dem Kater nach, konnten sich aber nicht erklären, was der Anlass für die Flucht war. Neugierig liefen sie dem Tier nach, verloren es aber schnell aus den Augen. Sie beschlossen zur Nathe, dem Bach, der sich durch Wiesen und Felder nach Westerode schlängelt, zu gehen. Dort im Baumhaus, das sie in der alten Weide über dem Bach zur Beobachtung ihrer Erzfeinde, den Westeröder Jungen, errichtet hatten, wollten sie auf ihren Geburtstag anstoßen. Eine Flasche mit Nordhäuser Schnaps, die Karl, der Sohn des Gastwirts, letzte Woche mitgebracht hatte, lag dort noch halb voll hinter der Matratze.

      Die Uhr aus der Westeröder Kirche schlug zwölf Mal, als sie die Leiter zum Baumhaus hinaufstiegen. Sie fanden den Schnaps und tranken abwechselnd auf Jan-Freddes zwanzigsten Geburtstag. Der Alkohol wirkte schnell in den leeren Mägen. Eine unendliche Müdigkeit überkam sie. Sie schliefen bis in den späten Morgen, hörten nicht das Heulen der Sirenen im Ort, nicht die Duderstädter Feuerwehr, die mit Blaulicht und Martinshorn auf der Straße vorbeieilte. Sie sahen nicht die Flammen und die vielen fleißigen Helfer, die vergeblich versuchten, den Hof und das Leben der Bewohner zu retten. Das Haus brannte bis auf die Grundmauern nieder. Vater, Mutter und Großvater konnten nur noch tot aus den Trümmern geborgen werden.

      An ihrem zehnten Geburtstag waren Jan und Frederik Rittmann Waisen geworden. Damit änderte sich ihr Leben schlagartig. In den ersten Wochen fanden sie bei der Nachbarsfamilie Kolle Unterschlupf. Ihr Sohn Jonas war genau so alt wie die Zwillinge. Doch schon bald merkten die Eltern, dass sie der Erziehung drei gleichaltriger Jungen mit einem hohen Potenzial für Unfug jeglicher Art nicht gewachsen waren. Das Jugendamt bestellte einen ehrenamtlichen Betreuer, der die Fürsorge der beiden übernahm. Der steckte sie getrennt in verschiedene Pflegefamilien, später ins Kinderheim. Jan und Fredde sahen sich nur noch selten, schworen sich aber, sobald sie achtzehn wären, wieder zusammenzuziehen.

      Beide machten einen Realschulabschluss. Jan wurde Elektrotechniker und bekam einen Job bei einer Göttinger Firma, die Alarmanlagen installiert. Fredde probierte mehrere Berufe aus. Er fing als Maurerlehrling an, brach die Lehre jedoch vor dem Abschluss ab. Dann versuchte er sich als Steinsetzer. Auch diese Arbeit gefiel ihm. Doch kurz vor der Gesellenprüfung scheute er wieder wie ein Pferd vor einem Hindernis. Trotzdem verdiente er gutes Geld, denn genau wie sein Bruder arbeitete er gewissenhaft und sauber, war fleißig und verlässlich und als Handwerker überall einsetzbar.

      Vor drei Jahren hatten sie angefangen, ihr Erbe, das Haus in Nesselröden, das als Brandruine jahrelang ein Schandfleck im Dorf gewesen war, wieder aufzubauen. Seit ihrer Volljährigkeit und dem Nachweis, dass sie einer geregelten Arbeit nachgingen, konnten sie darüber verfügen, wussten aber zuerst nicht, wie sie den Wiederaufbau finanzieren sollten. Die Bank bewilligte ihnen einen kleineren Kredit, der allerdings nur knapp für das Baumaterial reichte. Durch ihrer Hände Arbeit wollten sie das neue Heim errichten, das Erbe der Großeltern weiterführen und den Hof zu neuem Leben erwecken. »Wir bauen wieder auf, was wir zerstört haben. So hätten es Großvater und die Eltern gewollt«, sagten sie sich. Ihre Freunde aus dem Dorf halfen mit, so weit es ihnen möglich war. Jonas Kolle, der das Anwesen seiner Eltern nebenan übernommen hatte, war froh, dass aus der Brandruine nun endlich wieder ein schönes Haus wurde. Er war inzwischen Vater einer kleinen Tochter und hoffte, dass Jan und Fredde nach den Sturm- und Drangjahren auch bald Freundinnen finden und Familien gründen würden.

      * * *

      Mittwoch, später Nachmittag

      »Der Chef soll uns endlich das versprochene Geld geben«, meinte Fredde. »Mit der Knete können wir die Fliesen und das Laminat für den Fußboden kaufen. Ich will aus dem Scheiß Wohnwagen raus und das Haus fertig machen. Aber ich schwöre dir: Nochmal klaue ich nichts aus einer Kirche. Meinst du, wir kommen deswegen in die Hölle?«

      »Seit wann glaubst du denn so einen Schwachsinn?«

      Fassungslos schaute Jan seinen Bruder an.

      »Kann doch sein. Ich hatte in Duderstadt in der Kirche so ein komisches Gefühl. Als ob einer von oben guckt und mir sagt, dass ich ein Dieb bin. Weißte, so wie bei Don Camillo.«

      »Ehrlich? Ist ja krass. Hast du ´ne Stimme gehört?«

      »Nee, nicht wirklich, aber so ein Gefühl eben. Don Camillo ist ja nur ein Film.« Fredde kratzte sich am Kopf.

      »Und noch dazu einer aus dem letzten Jahrhundert. So was glaubt doch heute kein Mensch mehr. Nee. Aber wenn ich ehrlich bin ... hatte ich auch Schiss«, gab Jan zu.

      »Hab gedacht, dass gleich ein Pfarrer um die Ecke kommt und fragt, was wir da machen. Komisch. In den anderen Kirchen war ich nicht so nervös. Da gibt’s eh keinen Pfarrer mehr und die Betschwestern kochen in der Mittagszeit. Bis auf die uralte zahnlose Oma. Ey, hast du das mitgekriegt, wie sie sich bei uns bedankt hat? Die glaubte echt, dass wir die Mutter Gottes zur Wallfahrt putzen wollen.« Fredde griente.

      »Ja! Die war echt cool. Weißt du, warum die Alfred zu uns gesagt hat?«, fragte Jan und schaute belustigt zu seinem Bruder.

      »Nee, das war komisch. Vielleicht sehen wir einem Alfred ähnlich. Gab es dort bei den Augustinern im Kloster nicht mal einen Bruder Alfred?«

      »Das kann sein. Egal. Jedenfalls wollte sie für uns beten! Irgendwie hat sie mich an Oma erinnert.« Schmunzelnd dachte Fredde an die alte Frau. »Aber in Duderstadt war das ganz anders. Echt kribbelig.«